Mini-Leber aus dem Labor ermöglicht neue Krankheitsforschung
Am bislang komplexesten Miniaturorgan dieser Art lassen sich Behandlungsmethoden und Krankheitsverläufe erforschen.
Die kleine, fleischige Masse sieht im Grunde wie eine menschliche Leber aus – jenes lebenswichtige Organ, das unter anderem die Verdauung unterstützt und das Blut reinigt. Allerdings stammt das Organ auf dem Tisch nicht aus einem menschlichen Körper. Wissenschaftler haben die Minileber aus menschlichen Zellen geschaffen. Es ist das komplexeste Organ dieser Art, das bisher in einem Labor gezüchtet wurde.
Das Forscherteam hat eine wichtige Aufgabe für seine neue Kreation: Es will diese Leber mit einer Krankheit infizieren.
Fettleibigkeit ist vor allem in den Industrienationen weltweit ein wachsendes Problem. Damit einher geht oft das Auftreten einer Fettleber. Bei diesem Krankheitsbild sammelt sich Fett in den Leberzellen und kann schlussendlich zum Organversagen führen. Allein in den USA sind derzeit etwa 80 bis 100 Millionen Menschen betroffen. Wie genau der Verlauf der Krankheit aussieht, ist nach wie vor unklar.
Bei vielen Krankheiten haben Tierstudien enorm zu unserem Verständnis für genetische Krankheitsfaktoren beigetragen. Allerdings unterscheidet sich die Biologie der Labormäuse beträchtlich von der des Menschen. Dieser jüngste Machbarkeitsnachweis in Form der Minileber verdeutlicht, dass solche gezüchteten Organe eine vielversprechende Möglichkeit darstellen, um Krankheitsverläufe zu beobachten, Behandlungsmöglichkeiten zu testen und ein besseres Verständnis für die grundlegenden Funktionen und Funktionsstörungen der Leber zu erhalten.
„Das ist eine ziemlich clevere Methode, um funktionales Gewebe zu züchten, an dem eine menschliche Lebererkrankung modelliert werden kann“, sagt Joe Segal. Der Leberforscher von der University of California in San Francisco war an der Studie nicht beteiligt.
„Ich glaube, dass das die Zukunft ist: das Synthetisieren und die Herstellung menschlicher Lebern, deren Genome man beliebig manipulieren kann, um Krankheiten zu imitieren und deren Biologie zu erforschen“, glaubt der Studienautor Alejandro Soto-Gutierrez von der University of Pittsburgh School of Medicine.
Rezept für hausgemachte Leber
Solche Miniaturorgane, die oft als Organoide bezeichnet werden, kommen in der Forschung immer häufiger zum Einsatz. Wissenschaftler züchten kleine Versionen von Gehirnen, Mägen, Speiseröhren und mehr. Die meisten dieser Laborzüchtungen sind winzig: Sie bestehen aus Zellklumpen, die oft nur wenige Millimeter messen. Obwohl diese Organoiden die biologische und medizinische Forschung revolutioniert haben, ist ihre Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Die tatsächlichen Organfunktionen laufen dort nur in sehr vereinfachter Weise ab.
Mit der Minileber in der neuesten Studie wollten die Wissenschaftler hingegen die Komplexität eines lebensechten Organs simulieren. Deshalb züchteten sie eine Leber, die ganze fünf bis sieben Zentimeter misst. Um das zu erreichen, sammelten Soto-Gutierrez und seine Kollegen menschliche Hautzellen und veränderten deren Genom, sodass sie mit einem einzigen Tropfen einer besonderen Lösung die Aktivität eines bestimmten Gens dämpfen konnten.
Das Ziel dieser Übung war das Gen SIRT1, das sich in Tierstudien als wichtiger Faktor für die Fettanreicherung in Lebern erwiesen hatte. Die Forscher programmierten die Hautzellen so, dass sie sich zu pluripotenten Stammzellen zurückbildeten – ein Zelltyp, der sich zu jeder Zelle im menschlichen Körper weiterentwickeln kann. Im Anschluss ließen sie daraus neue Leberzellen entstehen.
Allerdings ist ein Haufen Zellen in einer Petrischale noch lange kein komplettes Organ. Damit daraus eine Leber werden kann, benötigen sie eine gewisse Struktur. An dieser Stelle kamen Ratten ins Spiel.
Frühere Studien hatten offenbart, dass man Rattenlebern mit einem bestimmten Spülmittel reinigen kann, welches das für die Nagetiere typische Gewebe entfernt. Zurück bleibt eine durchsichtige Leberstruktur. Diese gibt den Zellen nicht nur ihre Anordnung vor, sondern lenkt auch die Wartung und Entwicklung des Gewebes, erklärt Shay Soker von der Wake Forest School of Medicine. Er selbst war an der jüngsten Studie nicht beteiligt, hat aber bereits ähnliche Experimente durchgeführt.
„Darin liegt die Schönheit dieser Arbeit im Vergleich mit anderen publizierten Arbeiten, bei denen das System kein Gerüst oder keine Matrix aufweist“, sagt er.
Die Forscher fügten ihre veränderten Leberzellen in die transparente Struktur ein und schoben noch einige andere Zelltypen hinterher, die in menschlichen Lebern vorkommen, darunter zum Immunsystem gehörende Makrophagen und Bindegewebszellen namens Fibroblasten. Binnen drei bis vier Tagen begann die Miniaturleber Form anzunehmen.
Im Anschluss daran unterdrückten die Forscher die Aktivität von SIRT1 und simulierten so die Krankheit, die sie erforschen wollten. Binnen 24 Stunden begann sich Fett in der Leber zu sammeln.
„Man konnte richtig dabei zusehen, wie die Krankheit Einzug hielt“, sagt Soto-Gutierrez.
Kleine Lebern, große Hoffnung
Die fertigen Minilebern weisen eine verblüffende Ähnlichkeit zu kranken menschlichen Lebern auf. Viel spannender war Soto-Gutierrez zufolge aber die vergleichbare Funktionalität: Die kleinen Laborlebern zeigten 41 der 50 Stoffwechselwege, die sich in kranken menschlichen Lebern finden.
„Deswegen glaube ich, dass wir Krankheiten und Organfunktionen tatsächlich in vitro mit den Stammzellen und Minilebern imitieren können“, sagt Soto-Gutierrez.
Die Forscher hoffen, dass ihre Arbeit dabei helfen kann, eines der größten Probleme bei Fettlebern anzugehen: die Früherkennung. Bislang ist für eine Diagnose noch eine Biopsie erforderlich, die genau wie alle anderen invasiven Prozeduren eine gewisse Hürde darstellt. Wenn die Forscher weiterhin den Krankheitsverlauf an der Minileber untersuchen, können sie vielleicht andere Anzeichen ausfindig machen, auf die ein Patient getestet werden kann.
Noch ist das System nicht perfekt. Eine Lebererkrankung ist ein komplexer Prozess, den man nicht nachahmen kann, indem man die Expression eines einzigen Gens verändert, wie Soto-Gutierrez zugibt. Außerdem sei nach wie vor unklar, ob die im Labor gezüchteten Leberzellen exakt so funktionieren wie die Zellen in einem Körper, so Segal.
„Es ist nach wie vor sehr schwierig, eine exakte In-vivo-Umgebung für eine menschliche Leber zu erzeugen“, sagt er.
Die jüngste Studie macht aber Hoffnung für die künftige Erforschung zahlreicher Krankheiten. Eines Tages mag es sogar möglich sein, lebensgroße Lebern in Laboren zu züchten, die dann als Organtransplantate dienen können. Derzeit müssen die meisten Empfänger von Spenderorganen Medikamente nehmen, damit ihr Körper das fremde Gewebe nicht abstößt. Aber wenn Ärzte Organe im Labor aus den Zellen des Patienten züchten könnten, könnte sich womöglich die lebenslange Medikamenteneinnahme erübrigen.
Derzeit liegt eine solche Technologie noch Jahre in der Zukunft, aber Soto-Gutierrez ist schon auf die nächsten Schritte gespannt. Er will noch komplexere Systeme erzeugen, um Krankheiten zu erforschen, und mehrere Gene simultan beeinflussen, um die daraus resultierenden Effekte zu untersuchen.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.