Wenn tödliche Krankheiten in Laboren „vergessen“ werden

Die Sammelleidenschaft der Wissenschaft birgt Risiken, insbesondere, wenn Viren eigentlich ausgerotteter Krankheiten „übersehen“ werden.

Von Maryn McKenna
Veröffentlicht am 15. Okt. 2018, 15:02 MESZ
Proben im Tiefkühlschrank eines Labors.
Proben im Tiefkühlschrank eines Labors.

Im Sommer 1977 begann sich eine Grippeepidemie in China auszubreiten. Im Herbst war sie bereits in Russland angelangt und während des Winters breitete sie sich auf der nördlichen Hemisphäre aus. Das war natürlich ganz normal. Der Winter ist Grippesaison – und verglichen mit gewöhnlichen Grippesaisons schien diese spezielle Erkrankung gar nicht so stark um sich zu greifen. Betroffen waren vor allem Menschen unter 25 Jahren. 

Alles schien ganz normal, bis die Virologen die Möglichkeit hatten, den Erregerstamm zu analysieren. Als sie die Ergebnisse vorliegen hatten, waren sie beunruhigt – und sofort wurde klar, warum das Virus nur junge Menschen befiel.   

Was sie dort unter dem Mikroskop hatten, war nicht das Virus, mit dem sie gerechnet hatten – eine leicht mutierte Variante der Grippe, die in den vorangegangenen zwölf Monaten die Welt umrundet hatte. Stattdessen war der Erreger fast identisch mit einem Grippevirus, der seit mehr als 20 Jahren nicht mehr in der Wildnis aufgetreten war. Deshalb erkrankten auch keine Menschen über 25 Jahren daran: Sie hatten vor vielen Jahren beim letzten Auftritt des Erregerstammes bereits eine Immunität dagegen entwickelt. 
 
Die jungen Menschen hatten nie die Möglichkeit gehabt, diese Grippe als natürliche Infektion oder als Bestandteil eines Impfstoffs zu erleben. In den Annalen der Epidemien ist die "Russische Grippe" nur eine Kuriosität und keine Katastrophe, da die mysteriöse Erkrankung nur leichte Symptome verursachte. Wenn sie virulent gewesen wäre, hätte die mangelnde Immunität weltweit zu einer schrecklichen Pandemie führen können.

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Allerdings ist die Geschichte dieses speziellen Grippevirus auch eine, aus der wir lernen können, denn die weltweiten Gesundheitsbehörden kamen zu dem Schluss, dass der Ausbruch von 1977 kein natürliches Ereignis war.     

Die einzige Möglichkeit, wie ein Grippevirus mit so einer großen Ähnlichkeit zu einem ausgestorbenen Stamm hätte wiederauftauchen können, bestehe ihnen zufolge darin, dass es sich um eben diesen ausgestorbenen Stamm handelt. Eine Probe, die in einem Tiefkühlschrank irgendeines Labors konserviert wurde, muss bei einem Unfall freigesetzt worden sein, der nie publik gemacht wurde.  

Es ist eine wichtige Geschichte, und zwar nicht nur, weil dieser Erregerstamm schließlich zu einer Pandemie geführt hat: Der Stamm war eines der viralen „Elternteile“ einer milden, aber sehr ansteckenden Form der Grippe, die 2009 um die Welt ging. Egal, wie hart daran gearbeitet wird, Krankheiten in der Welt auszurotten: Die Sammelleidenschaft der Wissenschaft, die an allem festhält, weil es eines Tages nützlich sein könnte, bleibt die große Achillesferse.

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    Das Rinderpestvirus.
    Foto von Wikimédia Commons, C & C

    Aus diesem Grund ist eine Warnung der Weltorganisation für Tiergesundheit (die im Dezember 2015 im Monatsjournal der Centers for Disease Control and Prevention veröffentlicht wurde) durchaus hörenswert. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um eine Warnung an die Wissenschaftler, ihre Rinderpestproben aus ihren Gefrierschränken zu holen und sie zu vernichten. Die wirtschaftlich verheerende Rinderkrankheit wurde 2011 offiziell für ausgerottet erklärt.

    Aber es gibt noch eine tiefere Bedeutungsebene, die uns an ein potenzielles Risiko erinnert: Egal, wie hart Tausende von Menschen daran arbeiten, eine Krankheit auszulöschen – wie in den mehr als 30 Jahren und Milliarden von Dollar, die der bislang nicht erfolgreichen Ausrottung von Polio gewidmet wurden –, alles kann mit einem einzigen Fehltritt rückgängig gemacht werden. Und ein solcher Fehltritt hat das Potenzial, über Jahrzehnte hinweg unvorhersehbare Konsequenzen mit sich zu bringen.

    In ihrer Publikation erklären die Autoren, wie eine konsequente Ausrottungskampagne sich zwangsweise auch angreifbar macht:

    „Während der gesamten Ausrottungskampagne wurde das Rinderpestmaterial in den betroffenen und nicht betroffenen Ländern in Diagnoselabors, Impfstoffproduktionsanlagen und Forschungseinrichtungen verbreitet. Während sich die Bemühungen auf die Auslöschung konzentrierten, wurde wahrscheinlich weniger darüber nachgedacht, was mit diesem Material nach der Auslöschung geschehen würde. Im Jahr 2015 verbleiben, obwohl natürliche Infektionen bei Tieren ausgerottet wurden, lebende Rinderpestviren, Impfstoffe und genetisches Material in wissenschaftlichen Instituten auf der ganzen Welt.“ 

    Im Rahmen der Kampagne zur Ausrottung von Rinderpest haben sich die 180 Mitglieder der Weltorganisation für Tiergesundheit (IOE) bereiterklärt, alle Materialbestände, die das Rinderpestvirus enthalten, zu vernichten. Aber, so berichten die Autoren, zwei Umfragen aus den Jahren 2014 und 2015 zeigten, dass im Jahr 2015 noch immer 24 Länder an „Rinderpestmaterial" festhielten und 23 von ihnen lebende Viren besaßen. (Ein Land hatte eine seiner Proben sogar übersehen und erst 2015 gemeldet.)

    Das, sagen die Autoren, sei „ein unnötig hohes Risiko“. 

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    Rinderpest war die zweite Krankheit nach den Pocken, die weltweit ausgelöscht wurde. Die dritte soll die spinale Kinderlähmung werden, besser bekannt als Polio.   

    Die internationale Kampagne zur Ausrottung von Polio fokussierte sich auf die Auslöschung der Krankheit in der Natur. Von Anfang an konzentrierte sich aber auch ein kleiner Teil der Bemühungen auf das Material, welches in den Laboren verbleiben könnte, nachdem die Krankheit besiegt worden ist. Diese Aufgabe gestaltet sich schwieriger, als einfach nur Gefrierschränke nach Behältern mit der Aufschrift „Polio“ zu durchsuchen. Polioviren leben im Darm, weshalb potenziell jede Kotprobe, die irgendwo auf der Welt gelagert wird, damit infiziert sein könnte. Dr. Neal Nathanson, der als junger Wissenschaftler 1955 an der ersten Polio-Impfkampagne teilnahm, schrieb 2002 in „Science“

    „Das ultimative Ziel des Programms zur Ausrottung von Polio ist die Einstellung aller Polioimpfungen. Unvermeidlich würde daher eine wachsende Zahl von Menschen anfällig für diese Viren werden. Um sicherzustellen, dass das Poliovirus nicht in eine anfällige Bevölkerung eingeschleppt werden kann, wäre es notwendig, alle Bestände dieser Viren zu vernichten oder einzudämmen. Dies stellt eine Herausforderung dar, da einige Kotproben, die aus verschiedenen Gründen entnommen und weltweit in Gefrierschränken aufbewahrt werden, versehentlich mit wilden oder von Impfstoffen stammenden Polioviren kontaminiert sein können. [...] Die Überwachung und Notfallplanung muss noch lange nach der erfolgreichen Auslöschung fortgesetzt werden.“  

    Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Bestände im Auge zu behalten und zu vernichten, denn Unfälle passieren – und zwar nicht nur 1977. Eine Epidemie der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien im Jahr 2007 wurde durch mehrere Sicherheitslücken in einem Labor verursacht. Ähnliches geschah beim letzten weltweiten Pockenausbruch 1978: Das Opfer arbeitete in einem höheren Stockwerk eines Gebäudes, in dem Proben von Pockenviren aufbewahrt wurden, und wurde infiziert, als das Virus nach oben gelangte. Natürlich gibt es die Pocken noch immer, angeblich aber nur in zwei Laborgefrierschränken bei den Centers for Disease Control and Prevention in den USA und in Russland.  

    Die Entdeckung von 327 falsch platzierten Fläschchen mit Krankheitserregern im Jahr 2014 in den National Institutes of Health zeigte, dass selbst die gewissenhaftesten Behörden nicht immer den Überblick haben. 

    Die Ausrottung der Rinderpest war ein Triumph für die öffentliche Gesundheit: die Beseitigung einer Krankheit, die landwirtschaftliche Gesellschaften ins Unglück stürzte und Milliarden von Dollar Schaden verursachte. Dass die Welt nur einen Laborunfall von ihrer Rückkehr entfernt ist, sollte uns Angst machen und dafür sorgen, dass wir unsere Schutzvorkehrungen optimieren, um eine Katastrophe zu verhindern. 

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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