Superschnelles „Bumerang-Beben“ erschüttert den Atlantik

Das Beben raste ostwärts über einen tiefen Riss im Meeresboden und dann mit unglaublicher Geschwindigkeit zurück zum Ausgangspunkt. Es bewegte sich so schnell, dass es das geologische Äquivalent eines Überschallknalls erzeugte.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 13. Aug. 2020, 17:00 MESZ
Wissen kompakt: Erdbeben
Erdbeben hinterlassen verheerende Schäden, erschaffen aber auch eindrucksvolle Naturwunder auf dem Antlitz des Planeten. Erfahrt, welche konkreten Prozesse zu ihrem Auftreten führen, wie die gemessen werden und welches das stärkste dokumentierte Erdbeben der Welt war.

Ein Erdbeben der Stärke 7,2 raste an einem Frühlingsnachmittag im Jahr 2010 am Haus von Rosario García González in Baja California vorbei. González, ein Ältester der indigenen Gemeinschaft der Cucapah, erzählte später Wissenschaftlern von diesem bemerkenswerten Anblick: Als das Beben die Oberfläche aufriss, wirbelte es eine Staubwolke auf – wie ein Auto, das über die karge Landschaft raste.

Nur dass das Auto in die falsche Richtung fuhr.

Bei Erdbeben bricht die Oberfläche in der Regel in einer einzigen Richtung auf, wie ein Riss, der durch ein Blatt Papier geht. Doch laut González eilte die Staubwolke des fortschreitenden Bebens dorthin zurück, wo das Beben seinen Ursprung hatte – und damit genau in die entgegengesetzte Richtung, die Wissenschaftler erwartet hatten.

Dieser Augenzeugenbericht über ein rückwärts laufendes Beben begeisterte die Forscher. Orlando Teran, der zu dieser Zeit am Ensenada Center for Scientific Research and Higher Education an seiner Doktorarbeit arbeitete, bezeichnete den Vorfall als „spektakulär“. Doch was genau an diesem Tag geschah, bleibt umstritten, da seismische Aufzeichnungen nicht bestätigen konnten, was González gesehen hatte.

Bumerang am Meeresboden

Nun hat ein internationales Forscherteam endlich eines dieser „Bumerang-Beben“ eingefangen und detailliert dokumentiert, wie es zunächst in eine Richtung raste und dann umkehrte.

Das Erdbeben der Stärke 7,1 begann tief unter der Erde, in einem Riss auf dem Meeresboden des Atlantiks, etwas mehr als 1.000 Kilometer vor der Küste Liberias in Westafrika entfernt. Es reiste ostwärts und aufwärts, machte dann eine Kehrtwende und bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit entlang des oberen Abschnitts der Verwerfung zurück – und zwar so schnell, dass es das geologische Äquivalent eines Überschallknalls verursachte.

Einsturz eines Gletscherbogens in Patagonien
Im Süden Argentiniens durchläuft ein Gletscherabschnitt einen Kreislauf der Entstehung und des Einsturzes.

Die heftigen Erschütterungen eines Erdbebens konzentrieren sich in der Regel in jene Richtung, in die sich das Beben bewegt. Aber ein „Bumerang-Beben“ oder, wissenschaftlich ausgedrückt, ein „sich rückwärts ausbreitender Riss“ kann die Erschütterungen über eine größere Zone verteilen. Es ist nach wie vor ungewiss, wie häufig Bumerang-Beben auftreten – und wie viele Beben sich mit so großer Geschwindigkeit fortbewegen. Aber die neue Studie in „Nature Geoscience“ ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, die komplexe Physik hinter diesen Ereignissen sowie ihre potenziellen Gefahren zu verstehen.

„Studien wie diese helfen uns zu verstehen, wie vergangene Erdbeben den Boden aufrissen, wie zukünftige Erdbeben den Boden aufreißen können und wie das mit den möglichen Auswirkungen auf Bruchlinien in der Nähe von bewohnten Gebieten zusammenhängt“, sagt die Seismologin Kasey Aderhold von den Incorporated Research Institutions for Seismology per E-Mail.

Unterwegs mit 17.700 km/h

Das jüngste Bumerang-Beben wurde in der Nähe des Mittelozeanischen Rückens im Atlantik aufgezeichnet, wo die Südamerikanische und die Afrikanische Platte langsam auseinanderdriften. Im Frühjahr 2016 installierten Wissenschaftler 39 Seismometer in der Nähe des Rückens, um das Rumoren entfernter Beben aufzufangen und so die Basis der tektonischen Platte zu visualisieren.

Einige Monate später rauschte das Beben der Stärke 7,1 an den Sensoren vorbei. Es traf auf eine nahegelegene Verwerfungslinie im Romanchegraben, erzählt Stephen Hicks, ein Erdbebenseismologe am Imperial College London und Hauptautor der neuen Studie.

Die Seismometer registrierten den bebenden Boden. Bei genauerer Betrachtung der Daten stellten Hicks und seine Kollegen fest, dass es sich scheinbar um ein zweistufiges Beben handelte. Sie untersuchten die Position des Epizentrums und die Energie, die bei jeder Phase des Bebens freigesetzt wurde. Schließlich konnte sich das Team anhand all dieser Daten ein Bild von dem Ereignis machen: Das Beben bewegte sich zunächst nach Osten, wandte sich dann aber wieder nach Westen. „Das war eine seltsame Konfiguration“, sagt er.

BELIEBT

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    Das Team war sich allerdings immer noch unsicher, ob das Erdbeben tatsächlich vorwärts und dann wieder rückwärts gelaufen ist. Also wandte sich Hicks an Ryo Okuwaki von der japanischen Universität von Tsukuba. Er suchte nach den schwachen Echos des Bebens, die von anderen Seismometern auf der ganzen Welt aufgefangen wurden. Binnen weniger Tage lieferte die Analyse dieser globalen Spuren eine Antwort: Es handelte sich wahrscheinlich wirklich um ein Bumerang-Beben.

    Weitere Computermodelle deuten darauf hin, dass das Beben tief unter der Erde begonnen haben könnte. Von dort aus bewegte es sich nach Osten, bis es sich dem Mittelozeanischen Rücken näherte. Dort machte es kehrt und raste durch den oberen Abschnitt der Verwerfung. Dieser zweite Abschnitt des Bebens bewegte sich bemerkenswert schnell und gilt damit als „superschnelles Erdbeben“ (eng.: supershear earthquake). Das Beben rollte mit geschätzten 17.700 km/h über die Oberfläche – schnell genug, um in 18,5 Minuten die Strecke New York-London zurückzulegen. Das ist so schnell, dass sich die seismischen Wellen ähnlich wie der Machsche Kegel vor einem Flugzeug mit Überschallgeschwindigkeit auftürmten. Der konzentrierte Wellenkegel eines superschnellen Erdbebens kann die Zerstörungskraft eines Bebens noch vergrößern.

    „Häufiger, als wir denken“

    Zu verstehen, wann und warum diese Bumerang-Ereignisse auftreten, ist von entscheidender Bedeutung, um die vielfältigen Risiken von Erdbeben besser einschätzen zu können. Die Erschütterungen können sich am beweglichen Ende der Verwerfung konzentrieren – für gewöhnlich in jener Richtung, in die sich das Beben ausbreitet. „Wie der Dopplereffekt“, sagt die Seismologin Lingsen Meng von der University of California in Los Angeles, die nicht zum Studienteam gehörte. Während diese fokussierten Erschütterungen normalerweise in nur einer Richtung vermutet werden, könnte ein Bumerang-Beben die Erschütterungen in zwei gegenüberliegenden Zonen fokussieren. Und wenn es sich um ein superschnelles Erdbeben handelt, könnten die Erschütterungen noch heftiger ausfallen.

    Aber zumindest eine große Frage bleibt: Wie oft geschieht das?

    Ein superschnelles Bumerang-Beben, wie es das Team im Atlantik beobachtete, könnte ein ziemlich seltenes Ereignis sein. „Meines Wissens nach ist dies das erste Mal, dass darüber berichtet wird“, sagt der Geophysiker Yoshihiro Kaneko von GNS Science in Neuseeland, der kein Teil des Studienteams war.

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    Allerdings mehren sich die Anzeichen für weitere Bumerang-Beben. Diese Ereignisse wurden sowohl mit Computermodellen untersucht als auch in Laborexperimenten simuliert. „Die Theorie besagt, dass es sie gibt, aber es ist ziemlich schwierig, sie [in der realen Welt] zu erkennen“, sagt die Geophysikerin Louisa Brotherson. Die promovierte Forscherin an der University of Liverpool in Großbritannien simuliert diese Erdbeben im Labor.

    Bumerang-Effekte wurden bereits bei langsamen Erdbeben beobachtet, die über Tage oder sogar Monate voranschreiten, sagt der Seismologe Jean-Paul Ampuero von der Université Côte d'Azur in Frankreich. Er hat vor Kurzem Bumerang-Beben in Computersimulationen identifiziert.

    Hinweise auf solche Ereignisse gab es auch bei anderen Beben. Einige Wissenschaftler argumentieren, dass 2011 beim japanischen Tohoku-Erdbeben der Stärke 9,0 – das stärkste in der Geschichte des Landes – ebenfalls Bumerang-Brüche aufgetreten sein könnten, sagt Meng. Auch dem Erdbeben von 2016 in Kumamoto schien ein ähnlicher Prozess zugrunde zu liegen, fügt Kaneko hinzu. Bei diesem Ereignis löste das erste Beben zwei weitere Beben aus, von denen eines rückwärtslief und den ersten Ausbruch teilweise überlagerte.

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    „Das könnte tatsächlich häufiger vorkommen, als wir denken“, sagt Kaneko.

    Diese Bumerang-Beben können mit den gängigen Methoden zur Analyse von Erdbeben leicht unter den Tisch fallen, da diese auf der Annahme beruhen, dass ein Beben sich nur in eine Richtung ausbreitet. „Natürlich suchen wir nicht danach – wir rechnen ja gar nicht damit, dass es sowas gibt“, sagt Ampuero. Doch bei Erdbeben scheinen komplexe Vorgänge eher die Norm als die Ausnahme sein.

    Oder wie Hicks es ausdrückt: „Je mehr wir uns mit Erdbeben beschäftigen, desto mehr seltsamere Dinge finden wir.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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