Hibiscadelphus wilderianus: Reproduktion eines ausgestorbenen Dufts

Dieser Baum blühte zuletzt vor mehr als einem Jahrhundert in Hawaii. Jetzt haben Wissenschaftler seinen verlorenen Duft reproduziert.

Von Sarah Gibbens
Veröffentlicht am 3. Dez. 2021, 08:52 MEZ
Sicht von oben: Zwei Hände halten ein Bild einer Pflanze mit großen Blättern.

Nur eine kleine Probe des Hibiscadelphus wilderianus war nötig, um die Geruchsmoleküle der ausgestorbenen Pflanze aus Hawaii zu ermitteln. 

Foto von Grace Chuang Harvard University Herbaria

Das letzte Mal, als jemand den Duft eines wild blühenden Hibiscadelphus-wilderianus-Baums eingeatmet haben mag, waren Telefone der letzte Schrei und der Erste Weltkrieg hatte noch nicht begonnen. Als entfernter Verwandter der berühmten hawaiianischen Hibiskusblume war dieser Baum auf der Insel Maui am Südhang des Vulkans Haleakalā heimisch. Aufzeichnungen schildern seinen Niedergang. Wie einige weitere Arten fiel er den Rodungen von Rinderzüchtern zum Opfer, die Platz für Vieh schaffen wollten. Wahrscheinlich verschwand der Berghibiskus zwischen 1910 und 1913 von der Bildfläche.

Über ein Jahrhundert später fragt sich eine wissenschaftliche Gruppe, ob das Aussterben einer Art tatsächlich deren Ende bedeuten muss. Was wäre, wenn man einer Pflanze, der man in freier Natur nicht mehr begegnet, zumindest teilweise neues Leben einhauchen könnte? „Wir saßen herum und überlegten. Was, wenn wir ,Jurassic Park‘ spielen?“, erzählt Christina Agapakis, Kreativchefin bei Ginkgo Bioworks, einem Biotech-Unternehmen mit Sitz in Boston. Die Firma kreiert normalerweise Mikroorganismen als Kunstdüngerersatz, rührt Hautpflegeprodukte mit Lebendbakterien an und züchtet Proteine für Fleischalternativen.

Was, wenn wir ,Jurassic Park‘ spielen?

Innerhalb von fünf Jahren hatten Agapakis und ihr Team eine Tür zum Duft der Vergangenheit geöffnet. Mithilfe von DNA- Rekonstruktion und synthetischer Biologie ließen sie den herben Wacholdergeruch der verschwundenen hawaiianischen Baumblüte wiederauferstehen.

„Einen Geruch zurückzuholen, bedeutet nicht nur, etwas längst Vergangenes zu riechen“, sagt Sissel Tolaas. Die Forscherin und Künstlerin arbeitete mit ihrem Smell Lab Institut in Berlin gemeinsam mit den Bostoner Biologen an dem Pflanzenprojekt. „Mit Gerüchen verbindet man Erinnerungen und Emotionen“, sagt sie.

Dieser Blütenbaum, der auf den Lavafeldern von Maui beheimatet ist, starb vermutlich zwischen 1910 und 1913 aus. Er ist Teil des kontinuierlichen Artensterbens, das nach einer Studie von 2019 bereits elf Prozent der endemischen Pflanzenarten auf Hawaii ausgelöscht hat.

Foto von Katy Wiedemann. Quelle: Kenneth R. Wood, National Tropical Botanical Garden.

Einem Bericht der Royal Botanic Gardens in Kew von 2020 zufolge sind heute schätzungsweise 40 Prozent aller Pflanzen auf der Erde vom Aussterben bedroht. Sehr viele werden verloren gehen, bevor die Wissenschaft überhaupt erkennen wird, dass sie existiert haben.

Schätzungsweise 40 Prozent aller Pflanzen auf der Erde sind vom Aussterben bedroht

Das Unwiederbringliche wiederzubringen war nicht einfach. Zunächst mussten Agapakis und ihr Team ausreichend viele Relikte ihres Zielobjekts finden. In der fiktiven Geschichte in ,Jurassic Park‘ klopfen die Wissenschaftler eine eingeschlossene Mücke aus einem Bernstein frei. Agapakis stellte zunächst die Hypothese auf, dass Permafrostboden konservierte Überreste ausgestorbener Pflanzen enthalten könnte. Als sich dies als Sackgasse erwies, versuchte sie es im Herbarium der Harvard University. Die dortige Sammlung getrockneter Pflanzen enthielt 20 ausgestorbene Arten, allesamt zwischen große beige Papierbögen gepresst. Von 14 Arten durfte Agapakis mit Genehmigung des Herbariums Proben entnehmen, eine davon war Hibiscadelphus wilderianus.

Die zweite, Orbexilum stipulatum, war zuletzt auf einer Flussinsel im US- Staat Kentucky nachgewiesen worden. Sie ist vermutlich 1881 ausgestorben. Die dritte mit der Bezeichnung Leucadendron grandiflorum, heimisch in Südafrika, wurde zum letzten Mal 1806 bezeugt. Von allen Dreien sandte man eine Probe von der Größe eines kleinen Fingernagels an das Paläogenetische Labor der University of California in Santa Cruz, das die DNA der Pflanzen sequenzierte.

BELIEBT

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    Stirbt ein Organismus, dann setzt in den Zellen unmittelbar die Zersetzung der DNA durch Sonnenlicht, Wasser und Mikroorganismen ein. Will man sie rekonstruieren, so muss man die verbliebenen DNA-Fragmente zusammenfügen. Die Molekularbiologin Beth Shapiro, Leiterin des Paläogenetischen Labors, sieht die Aufgabe als eine Art Puzzle mit „Billionen von Teilen“.

    Eine Art Puzzle mit „Billionen von Teilen“

    Shapiro ist Vorreiterin auf dem Gebiet der Entzifferung und Rekonstruktion alter DNA. Zur Bestimmung der Genfragmente glichen sie und ihr Team die Proben der ausgestorbenen Pflanzen mit einer umfassenden Datenbank bekannter DNA ab und setzten diejenigen Gene der Pflanzenenzyme zusammen, die Geruchsmoleküle hervorbringen.

    Twist Bioscience, ein Unternehmen, das mit synthetischer Biologie arbeitet, übernahm die Umwandlung der digitalen Rekonstruktionen in synthetische DNA-Sequenzen. Diese wurden mit ihrem Gencode für Geruchsenzyme wiederum bei Ginkgo auf Hefen übertragen, die die Duftmoleküle produzierten. In der synthetischen Biologie ist Hefe eine Allzweckwaffe, erzählt Agapakis, sie komme fast überall zum Einsatz – bei Medikamenten, Bioplastik und Aromen.

    Anschließend schickte Agapakis die Aufstellung der Moleküle nach Berlin in das Labor der Geruchsforscherin Sissel Tolaas. Hier begann der künstlerische Teil des Projekts: Tolaas baut Gerüche aus Molekülen auf, wie ein Schriftsteller Wörter aus Buchstaben bildet. Sie zieht ihre Geruchsbibliothek zu Rate, ein über 25 Jahre aufgebautes Archiv mit 10 000 Molekülen und Zusammensetzungen, erfasst in kleinen Gefäßen und einer Datenbank.

    Tolaas baut Gerüche aus Molekülen auf, wie ein Schriftsteller Wörter aus Buchstaben bildet.

    Beim Abgleich der Moleküle tüftelte sie aus, welchen Duft sie verbreitet haben mochten, indem sie deren Molekularstruktur mit der Struktur der Gerüche in ihrer Bibliothek und weiteren Sammlungen verschnitt. Acht Monate lang bastelte sie an der Formel herum – hob eine Note hervor, nahm eine andere zurück – um ihre ganz spezielle Interpretation des vermuteten Pflanzenduftes zu kreieren. „Ich füge nichts hinzu, was nicht vorhanden wäre“, erläutert Tolaas. „Ich experimentiere mit Fakten.“

    Sie schickte zehn Geruchsvarianten des hawaiianischen Baums zurück, sechs für die Pflanzen aus Kentucky und Afrika. Jede Version besaß eine leicht unterschiedliche Zusammensetzung von Duftmolekülen der drei Pflanzen. Zusammen ergab sich eine Palette von Düften, die sie in freier Natur verströmt haben mochten.

    Als Agapakis die vergangenen Gerüche erstmals schnupperte, war sie berührt. „Wir riechen etwas endgültig Verlorenes. Das geht ans Herz“, sagt sie. „An das Artensterben und wie grauenvoll es ist, will man lieber nicht denken. Stell dir vor, was an biologischer Vielfalt täglich verloren geht. Stell dir vor, wie viel Wunderbares darin steckt.“

    Aus dem Englischen von Bettina Kreisel

    Die Dezember 2021-Ausgabe von NATIONAL GEOGRAPHIC ist seit dem 19. November 2021 im Handel erhältlich.

    Foto von National Geographic

    Dieser Artikel erschien in voller Länge in der Dezember 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!

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