Kama Muta: Warum wir Gefühle teilen sollten

Wenn wir tief von einer zwischenmenschlichen Situation ergriffen sind, rührt uns das zu Tränen. Über ein nur anfänglich erforschtes Gefühl, das Menschen vereint und was das mit Katzenvideos zu tun hat.

Von Marius Rautenberg
Veröffentlicht am 1. März 2022, 09:22 MEZ
Hund und Baby

Hundebilder gehören mit zu den meist geteilten Inhalten in Social Media Plattformen. Wenn das Tier auch noch mit einem Baby spielt, löst das in uns sehr wahrscheinlich Kama Muta aus.

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Ein kleines Mädchen läuft durch den Flughafen. Es ist sichtlich verängstigt, hat die Eltern in den weiten Terminals verloren. Ein Reisender nimmt sich die Zeit, versucht dem Kind zu helfen. Er spricht mit einigen weiteren Passagieren, die sich auf die Suche begeben. Nach einer Weile können sie die Familie wieder zusammenführen. Tränen der Freude und Erleichterung benetzen nicht nur das Gesicht von Kind und Eltern, sondern auch der engagierten Person, die dieses Happy End ermöglichte.

Eine ähnliche Situation erlebte Professor Thomas Schubert von der Universität Oslo. Der deutsche Forscher ist Teil eines Teams, das sich der Frage annahm, was emotional in einem solchen Moment mit uns passiert. Kama Muta nennen sie es, eine Zusammensetzung von Worten aus dem Sanskrit. Am ehesten lässt es sich als „gerührt sein“ oder „bewegt sein“ verstehen. Es ist der wissenschaftliche Name für eine spezielle Gefühlsvariante, die nochmal etwas anders funktioniert als vergleichbare Emotionen wie Freude oder Liebe.

Kama Muta hat laut Schubert eine wichtige soziale Funktion. Es hilft uns, „tiefe gemeinschaftliche Gefühle zu haben und zu stärken.“ Eine Person oder Gruppe macht ein Angebot: Das kann das Ja-Wort vor dem Traualtar sein. Kama Muta entsteht dann nicht nur zwischen den Heiratenden, sondern bei allen, die das Angebot annehmen, an dem glücklichen Moment teilzuhaben. Wir gehen eine soziale Bindung ein, vertiefen oder erneuern sie. Sogar als Außenstehende können wir uns darauf einlassen und daran teilhaben.

Ein kleines Mädchen umarmt seine Mutter

Kama Muta ist ein Gefühl, das vermutlich in allen Kulturen vorkommt. Besonders in familiären Kontexten. Es hilft dabei, soziale Beziehungen einzugehen.

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Beim Sieg ihrer Mannschaft fallen sich fremde Menschen in die Arme

Häufig kommt dieses Gefühl in einem familiären Kontext vor. Die großen Augen und das Lächeln eines Neugeborenen erzeugen bei den Eltern eine besondere Bindung. Aber auch gegenüber vollkommen Unbekannten können wir Kama Muta empfinden. In der gut ausgegangenen Situation mit dem Kind am Flughafen, oder auch gegenüber größeren sozialen Gruppen: Als Fußballfans fühlen wir uns unserem Verein verbunden und fiebern mit, obwohl wir die Spieler und einen Großteil der anderen Anhänger noch nie persönlich gesehen haben. Trotzdem jubeln wir bei einem Tor, in einigen Fällen fallen sich bei einem Sieg sogar wildfremde Menschen in die Arme.

In solchen Momenten fühlen wir Tränen, Gänsehaut oder Wärme in uns aufsteigen. Dabei kommt das dringende Bedürfnis auf, unsere Emotion mit anderen zu teilen, wie Schubert aus seinen Studien berichtet. In einem Experiment stellten die Forscher Teilnehmern Fragen zu deren Ansichten über sexuelle Orientierung. In der darauffolgenden Wochen zeigten sie emotionale Videos von homosexuellen Paaren beim Heiratsantrag. Studienteilnehmer, die Kama Muta verspürten, bei denen also etwa Gänsehaut aufkam, freuten sich stärker mit den Eheleuten. Dieses Gefühl war aber nicht nur auf die beiden beschränkt, sondern drückte sich auch in einer positiven Wahrnehmung gegenüber Homosexuellen insgesamt aus.

Reicht es also, Menschen romantische oder gefühlsbetonte Videos vorzulegen, um Vorurteile zu überwinden? In gewisser Weise passiert das andauernd. Unsere Social Media Feeds sind voll davon: Süße Tierbabys oder vor Glück weinende Menschen sind ständig in unseren Bildschirmen. Viele Hollywood-Film sind darauf aufgebaut. Bis zu einem gewissen Grad funktioniert das auch. Unsere Gefühle können wir nicht ohne weiteres abstellen. Aber es braucht Offenheit, um solche Emotionen zuzulassen.

BELIEBT

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    Weinen als Zeichen sozialer Verbundenheit

    In unseren westlichen Gesellschaften werden besonders Jungen und Männer darauf trainiert, nicht zu emotional zu sein. „Boys don’t cry“ (Jungen weinen nicht) heißt es dann. Ihnen wird von Kind an beigebracht, dass Tränen ein Zeichen von Schwäche, Angst und Traurigkeit sind. Sie lernen, ihre Emotionen zu verbergen, „außer sie sind sehr betrunken“, wie Thomas Schubert anmerkt. Wer das Gefühl von Kama Muta versteckt, hat es schwerer, soziale Nähe zuzulassen.

    In sehr individualisierten oder repressiven Gesellschaften ist es gar nicht ungewöhnlich, die eigenen Emotionen nicht zu zeigen. Doch Schubert hebt hervor, dass Kama Muta in allen Kulturen vorkommt, die von den Forscher bisher untersucht wurden. Auch wenn es weniger öffentlich sichtbar ist, so werden doch insbesondere Familien, Freundschaften und Partnerschaften von diesem Gefühl zusammengehalten. Enge soziale Beziehungen sind das Fundament unserer Gesellschaft und lassen uns Krisen besser meistern.

    Auch kommerzielle und politische Werbespots versuchen gezielt, Kama Muta auszulösen und so eine emotionale Beziehung zu ihrem Publikum herzustellen. Das heißt aber nicht, dass wir uns auf alles einlassen müssen. Doktor Johanna Lyshol, von der Neuen Universität Oslo und ebenfalls Teil des Forscherteams, nennt als Beispiel eine Werbung der Getränkemarke Pepsi aus dem Jahr 2017 mit Kendall Jenner. Der Hersteller versuchte mit einem Bezug zur antirassistischen Bewegung Black Lives Matter sein Produkt zu vermarkten. Das Vorhaben, eine emotionale Bindung zu einer Gruppe herzustellen schlug fehl, es hagelte Kritik und Pepsi zog den Spot zurück.

    Auch wenn Kama Muta helfen kann, Vorurteile abzubauen, so lässt sich eine gesellschaftliche Spaltung mit gefühlvollen Videos allein nicht überwinden. Wenn große soziale Gruppen tiefe Feindschaft verspüren, müssen erst mal die Bedingungen für eine Annäherung geschaffen werden. Kama Muta hilft uns aber, auf individueller Ebene liebevoller mit unseren Mitmenschen oder auch Tieren umzugehen. Wer würde schon einem süßen Kätzchen etwas zu Leide tun, nachdem er Katzenvideos gesehen hat? Wenn wir zu Tränen gerührt sind, ist es ein gutes Zeichen, dass wir bereit sind, eine soziale Bindung einzugehen. Auch wenn wir es nicht gewohnt sind, unsere Gefühle offen zu zeigen, kann es sich lohnen, sich darauf einzulassen.

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