Die erste Stadt auf dem Mars: Wie Forscher das Leben im All planen

Der Mensch könnte sich bald dauerhaft auf fernen Planeten niederlassen. Aber sind wir bereit dazu?

Von Eileen Stiller
Veröffentlicht am 19. Sept. 2022, 15:30 MESZ
Stadt auf dem Mars

Der Mensch könnte sich bald dauerhaft auf fernen Planeten niederlassen. Aber sind wir bereit dazu?

Foto von Mike Kiev / Unsplash.com

Der Tag bricht an in Tempe Mensa, Planet Mars. Es ist sechs Uhr morgens an einem Augusttag im Jahr, sagen wir, 2122. Ein Jahrhundert trennt uns von der Gegenwart. Die Sonne beleuchtet schwach den rotbraunen Fels knapp oberhalb des Äquators. Unzählige Fenster, in Röhren eingefasst, verteilen sich quer über den Südhang und lassen die ersten gefilterten Sonnenstrahlen ins Innere scheinen. Die Stadt Nüwa erwacht zum Leben. Wir sind Neuankömmlinge in dieser ersten Siedlung der Menschen im Weltraum. Die Marsianer, das sind nun wir.

Noch müde von der sechs Monate dauernden Reise, die uns vom blauen Heimatplaneten Erde trennt, stecken wir mitten im Assimilationsprozess. Zum ersten Mal spüren wir die Auswirkungen der Hypogravitation: Hier auf dem Mars, dem roten Planeten, wiegt alles 60 Prozent weniger. Auf dem Hochplateau glänzen Polymerkuppeln im Morgenlicht. In ihnen gedeihen, vor der kosmischen Strahlung geschützt, die Pflanzen und Algenkulturen, die 70 Prozent der Nahrung ausmachen und obendrein Sauerstoff produzieren. In Sichtweite laden gigantische Solarmodule und Sonnenkollektoren Akkus auf, um die Stadt mit der enormen Energiemenge zu versorgen, die sie benötigt, weit mehr als auf der Erde.

In unserer im Fels eingebetteten Wohnanlage ist die Temperatur auf angenehme 20 Grad reguliert, in den Pavillons am Fuß der Klippe mit ihren Geschäften und Sportstätten ebenso. Draußen dagegen ist es mit einer durchschnittlichen Oberflächentemperatur von minus 63 Grad eiskalt. Nachts fällt das Thermometer noch mal drastisch. Es wird kälter als im kältesten Winkel der Erde. Wir starren auf die unwirtliche Kraterlandschaft da draußen. Ein Sandsturm tobt. Weit unten im Tal erhaschen wir einen Blick auf die Roboter-Bulldozer, die unermüdlich Rohstoffe aus dem Marsboden befördern.

Was wird diese ungewisse Welt für uns bereithalten? Seit im Jahr 2054 die Bauarbeiten begonnen haben, landen immer mehr Männer und Frauen auf dem Weltraumflughafen, auf der Suche nach neuen Horizonten. Langfristig soll es Platz für eine Million Menschen geben. Für sie gibt es kein Zurück mehr. Welche Art von Gesellschaft werden sie vorfinden? Wird sich Homo sapiens unter diesen lebensfeindlichen Bedingungen fortpflanzen können? Wird er glücklich sein? Es gibt noch etliche Unbekannte in der Gleichung Mensch/Mars.

​Modellstadt Nüwa: Leben unter widrigen Bedingungen

Zurück in die Gegenwart, zurück auf die Erde. Es ist etwa zwei Jahre her, dass die Erfinder der Stadt Nüwa einem Aufruf der Mars Society gefolgt sind. Die größte gemeinnützige Organisation für die Erforschung und Besiedelung des Mars hatte um Ideen für einen ersten „Mars City State“ gebeten. 176 Projektgruppen aus aller Welt reichten Vorschläge ein. Mit Nüwa schaffte es das Team SONet aus Dutzenden Wissenschaftlern, Ingenieuren und Architekten unter die Top Ten; auch die Universität Stuttgart war an der Konzeptstudie beteiligt (Sieger wurde das Team Nexus Aurora).

Die Modellstadt Nüwa beruht laut Mars Society auf „einigermaßen realistischen Annahmen“ über die harschen Lebensbedingungen auf dem Mars. Dem Entwurf kommt zugute, dass die rund 30 Mitglieder des Entwicklerteams aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zusammenfanden. Für ein Projekt dieser Tragweite reichen Ingenieure nämlich nicht aus, genauso braucht es Architekten, Biologen, Ärzte, Psychologen, Philosophen.

Bisher hat der Mensch nur unbemannte Raumfahrzeuge auf den Mars geschickt, wie den Mars-Rover Curiosity. Hier ein Selbstporträt von 2015.

Foto von NASA/JPL-Caltech/MSSS

Die Widrigkeiten sind so vielfältig wie immens. So herrscht auf dem Mars eine hohe schädliche Strahlung. Der Luftdruck liegt weit unterhalb der Grenze, bei dem ein Mensch sich ohne Druckanzug im Freien aufhalten könnte. Die Schwerkraft beträgt ein Drittel dessen, was wir gewohnt sind, und die sehr dünne Atmosphäre enthält kaum Sauerstoff zum Atmen. Häufig schlagen Mikrometeoriten ein. Baumaterialien sind begrenzt, Nahrungsmittel müssen vor Ort produziert werden, die Wasseraufbereitung ist essenziell.

​Der unberechenbare Faktor: die menschliche Psyche

Die Eroberung eines völlig neuen Lebensraums erfordert nicht nur technische Hilfsmittel. Sie bedingt auch eine körperliche Anpassung: Herzschlag, Blutdruck, Sehkraft, unser gesamter Bewegungsapparat werden anders sein. Hinzu kommt eine tückische, weil unmöglich vorhersehbare Bedrohung: die menschliche Psyche. Wie kommt der Mensch mit der Isolation, dem erzwungenen Zusammensein auf engstem Raum, mit Leistungsdruck und Stress zurecht?

Die Bilanz fällt gemischt aus. Analog-Astronauten erzählen nach einem Langzeitaufenthalt oft, das Zusammenleben sei ihre größte Herausforderung gewesen. Raumfahrer fürchten schon auf kürzeren Missionen das cabin fever („Lagerkoller“), das reizbar, depressiv und aggressiv machen kann. Der Mensch ist für das Leben im Weltraum nicht geschaffen. Die Errichtung einer dauerhaften Siedlung außerhalb der Erde wirft Fragen auf, die über die Technologie hinausgehen. Sie zwingt uns, unser Wesen zu überdenken.

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