Phagen statt Antibiotika: Lösen diese Viren das Problem der resistenten Keime?

Phagen sind Viren, die Bakterien auf natürliche Weise bekämpfen, also eine Alternative zu Antibiotika. In der EU sind sie nicht zugelassen – das soll sich jetzt ändern.

Von Iris Röll
Veröffentlicht am 17. März 2023, 16:13 MEZ
Illustration einer T4-Phage

Der T4-Phage – hier eine Illustration – landet wie eine Mondfähre auf den viel größeren E. coli-Bakterien. Im Kopf trägt er seine DNA, die er über den Schwanzstachel in das Bakterium injiziert. Dort entstehen viele neue Phagen, die das Bakterium nach zirka 30 Minuten platzen lassen. 

Foto von Alamy

Viren sind eine tödliche Gefahr. Sie können Gesellschaften verändern und haben in den vergangenen drei Jahren unser Leben geprägt. Doch unter ihnen gibt es auch Nützlinge: die Bakteriophagen. Diese speziellen Viren bekämpfen ihrerseits Bakterien – gezielter und nebenwirkungsärmer als jedes Antibiotikum. Die Phagentherapie könnte viele Menschenleben retten. Könnte. Denn in der westlichen Welt wird sie bislang kaum eingesetzt. Forscher arbeiten mit Hochdruck daran, das zu ändern, denn die Zeit läuft uns davon. Antibiotika wirken immer häufiger nicht mehr. Wir haben sie in den vergangenen Jahrzehnten zu häufig eingesetzt, bei Mensch und Tier. Bakterien haben deshalb Resistenzen entwickelt. Weltweit sterben pro Jahr schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen an multiresistenten Keimen. Die „vergessene Pandemie“ nennen Ärzte das.

Phagen: Die „guten“ Viren 

„Wir brauchen Phagen dringend, denn wir stehen immer öfter mit dem Rücken zur Wand und können einfach nicht mehr helfen“, sagt Christian Willy, Unfallchirurg und Klinischer Direktor am Bundeswehrkrankenhaus Berlin. „Es geht nicht um einen Ersatz, sondern um eine gut abgestimmte Ergänzung zu Antibiotika. Zumal wir mittlerweile wissen, dass Phagen Bakterien auch wieder empfindlicher gegenüber Antibiotika machen.“ Diese Viren, die unter dem Mikroskop teils aussehen wie Mondlandefähren, sind überall – in der Luft, im Wasser, im Boden, in unserem Körper. Schätzungsweise zehnmal so viele Phagen wie Bakterien finden sich in der Umwelt. Kein Problem, denn uns tun sie nichts, sie attackieren nur ihren Wirt, eine ganz bestimmte Bakterienart, und davon meist nur einzelne Stämme. Umgekehrt lassen sie die „guten“ Bakterien, etwa die in unserem Darm, unversehrt. 

Vor gut 100 Jahren haben der Brite Frederick Twort und der Frankokanadier Félix d’Hérelle das Phänomen fast zeitgleich entdeckt. Das Elektronenmikroskop sollte erst rund 15 Jahre später erfunden werden. Sie konnten die Bakterienjäger also nicht sehen – nur ihre Wirkung feststellen. Phagen nannte d’Hérelle sie, vom altgriechischen phageín für „fressen“. Bald behandelte der Autodidakt Infektionen auf der ganzen Welt, mit spektakulären Erfolgen. Er lernte den Georgier Georgi Eliava kennen, später Direktor des Instituts für Mikrobiologie in Tiflis. Der Bakteriologe führte dort die Phagentherapie als Schwerpunkt fort. Heute ist das Georgi-Eliava-Institut das globale Zentrum für die medizinische Anwendung dieser speziellen Viren. Menschen aus aller Welt kommen mit scheinbar austherapierten Infektionen dorthin, um sich behandeln zu lassen. In Georgien erhält man Phagenlösungen in kleinen Fläschchen in der Apotheke, als ganz normales Arzneimittel. 

Phagentherapie in Deutschland

Anders im Westen. Weder in der EU noch in den USA sind Phagenmedikamente zugelassen. Polen und Belgien haben bisher nur die maßgeschneiderte Therapie mit Phagen als letzte Behandlungsoption erlaubt. In anderen Ländern können sie nur als individueller Heilversuch oder mit einer Ausnahmegenehmigung in Einzelfällen angewendet werden. In Deutschland hat zum Beispiel die Medizinische Hochschule Hannover bislang mehr als 30 Patienten auf dieser Basis behandelt. Dort werden die Präparate individuell in der Krankenhausapotheke hergestellt. Aber warum ist diese traditionelle Therapie im Westen so unbekannt? Schuld sind der Kalte Krieg – und pharmazeutische Konkurrenz: Nach der Entdeckung des Penicillins 1928 schlugen die neu entwickelten Antibiotika die kapriziösen Phagen. 

Phage unter einem Elektronenmikroskop

Verheißungsvolle Schönheit: farbverstärkte Aufnahme mehrerer DNA-Stränge eines Phagen (in der Mitte) unter dem Transmissions-Elektronenmikroskop. 

Foto von Alamy

Antibiotika: Die „Bazooka“ der Medizin

Auf der einen Seite stand ein Medikament aus chemischen Molekülen, das sich industriell vergleichsweise einfach herstellen lässt und auf einen Schlag eine große Zahl an Bakterienarten niedermacht – die „Bazooka“, um einen ehemaligen deutschen Finanzminister zu zitieren. Dass sich in jeder Tablette dieselbe Menge an Wirkstoff befindet, machte sowohl Zulassungsstudien als auch Qualitätskontrolle einfach. Auf der anderen Seite gab es diese lebenden Einheiten, die man bislang oft aus dem Abwasser gewinnt, aufreinigen muss und die äußerst empfindlich auf mechanische Reize reagieren. Ein ungleicher Wettbewerb. Hinzu kommt: Phagen wirken sehr spezifisch. Erst muss man wissen, welches Bakterium eine Infektion ausgelöst hat, dann können die richtigen Jäger ausgewählt werden. Im Osten, durch den Eisernen Vorhang abgeschnitten von Antibiotika, den neuen Wundermedikamenten, hielt sich das Wissen um die Phagentherapie – allerdings ohne placebokontrollierte, doppelverblindete Studien nach heutigen wissenschaftlichen Standards. 

BELIEBT

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