Helgoland: Rätsel um mysteriöse Gruben am Meeresgrund gelöst
So beschaulich wie hier sieht es unter Wasser nicht überall aus. Denn der Meeresboden wird von unzähligen kleinen Gruben übersät. Forschende konnten das mysteriöse Phänomen nun aufklären.
Würde man mithilfe eines U-Boots den Grund der Meere abfahren, könnte man sie mit bloßen Augen sehen: abertausende Vertiefungen im Meeresboden, sogenannte „Pockmarks“. Einige wurden bisher durch aufsteigendes Methan oder Grundwasser erklärt – und so vermutlich fehlinterpretiert.
Denn bei vielen der weltweit vorkommenden Gruben könnte es sich stattdessen um „Pits“ handeln, bei denen die gängigen Theorien an ihre Grenzen stoßen. Vor der deutschen Nordseeküste haben sich Forschende aus Deutschland dem Phänomen erstmals angenommen. Ihre Erkenntnis: Nicht Gas oder Grundwasser könnte für die regelrechte Umgestaltung des Meeresbodens verantwortlich sein, sondern Schweinswale.
Neue Hypothese: Auf der Spur der ungewöhnlichen Gruben
Dass es diese Art von Gruben überhaupt gibt, weiß man in der Forschung erst seit wenigen Jahren. Für Jens Schneider von Deimling, Erstautor der Studie sowie Experte für Meeresbodenkartierung, Methangasaustritte und Pockmarks, war von Anfang an klar, dass sie nicht mit aufsteigenden Fluiden erklärt werden können. „Wir mussten eine alternative Hypothese für die Entstehung entwickeln“, sagt der Geowissenschaftler. Die neue Annahme: Die Pits könnten dem Boden von Meeressäugern bei der Nahrungssuche zugefügt werden.
Um ihre Hypothese zu überprüfen, arbeiteten Teams der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), des Alfred-Wegener-Instituts, des Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung (AWI), der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) und des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) eng zusammen. Für ihre fachübergreifende Studie, die im Fachmagazin Communications Earth & Environment erschien, untersuchten sie den Meeresboden vor der Insel Helgoland zentimetergenau.
Mindestens 42.458 einzelne, flach geformte und durchschnittlich elf Zentimeter tiefe Gruben konnten die Forschenden mittels interdisziplinärer Untersuchungen im abgesuchten Bereich rund um Helgoland ausmachen. Von den bekannten Pockmarks unterscheiden sich die Pits durch ihre flachere Ausprägung deutlich. Sonarmessungen, ozeanographische Analysen sowie die Auswertung von Satellitenbildern zeigten zudem: Methan war nicht der Auslöser.
Übersichtskarte des Messgebiets der Studie in der Deutschen Bucht der Nordsee: Die roten und gelb-gestrichelten Vielecke zeigen die Regionen mit den vermessenen Vertiefungen.
Schweinswale: Hungrige Wirbeltiere gestalten ihren Lebensraum
Als alternative Erklärung wurden stattdessen Meeressäuger herangezogen und das Verhalten der in der Nordsee heimischen Schweinswale analysiert. Das Hauptaugenmerk lag auf der Nahrungssuche der Wale. „Aus Analysen des Mageninhalts gestrandeter Schweinswale wissen wir, dass unter anderem Sandaale eine wichtige Futterquelle für die Population in der Nordsee darstellen“, sagt Anita Gilles vom TiHo-Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW).
Die untersuchten Pits lagen tatsächlich stets in der Nähe von Sandaal-Habitaten – und damit potentieller Futterstellen für Schweinswale. Auch zur besonderen Form der Gruben passt die Hypothese der Forschenden: Tief müssen die Wale bei der Nahrungssuche nämlich nicht graben, denn die aalartigen Fische verkriechen sich relativ flach im Sand. Sind die Räuber erfolgreich, verbleiben kleine Gruben am Grund – die sich mit der Zeit aufgrund von Bodenströmungen vergrößern.
Meeresbodengestaltung: Kleine Gruben, gewaltige Auswirkungen
Die Forschenden schätzen, dass durch Wirbeltiere wie Schweinswale allein auf der untersuchten Fläche von 1581 Quadratkilometern stolze 773.369 Tonnen Sediment umgelagert wurden. Das entspräche dem Gewicht einer halben Million PKW. So gestalten große Meereswirbeltiere maritime Ökosysteme weitaus eindrucksvoller, als bisher vermutet.
Neben einer schlüssigen Erklärung liefern die Forschungsergebnisse auch eine neue Chance für den Schutz der Meere: „Unsere Ergebnisse haben aus geologischer und aus biologischer Sicht weitreichende Bedeutung. Sie können dazu beitragen, ökologische Risiken im Hinblick auf den Ausbau erneuerbarer Energien im Offshore-Bereich zu bemessen und damit auch den Meeresumweltschutz zu verbessern“, schlussfolgert Schneider von Deimling.