Darum halten Menschen keinen Winterschlaf
Viele Tiere sparen im Winter Energie durch Winterschlaf. Doch warum bleibt der Mensch wach, während andere Arten ruhen? Wissenschaftliche Gründe und evolutionäre Antworten auf die Frage, warum wir keinen Winterschlaf halten.
Igel kuscheln sich in Laub ein - doch warum schlafen wir Menschen eigentlich nicht im Winter?
Viele Säugetiere halten Winterschlaf, um die kalte Jahreszeit zu überleben. Menschen tun das nicht. Dabei wäre ein Herunterfahren der Körperfunktionen auf ein Minimum in manchen Situationen sogar hilfreich: Durch die Energieersparnis könnten Menschen lebensbedrohliche Krankheiten überleben, oder Langstreckenflüge im All meistern. Von allein kann der Mensch einen Winterschlaf allerdings nicht herbeiführen. Wieso eigentlich nicht? Und war das einmal anders?
Der Winterschlaf ist ein faszinierendes physiologisches Phänomen, das in der Tierwelt weit verbreitet ist, insbesondere bei kleinen Säugetieren. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihnen, bei drastisch sinkenden Temperaturen und Nahrungsmangel effizient zu überleben. Kleine Säugetiere wie die Feldmaus oder der Igel nutzen den Winterschlaf als Überlebensstrategie, indem sie ihre Körpertemperatur erheblich senken und ihre Stoffwechselrate auf ein Minimum reduzieren. Während dieser Zeit stagnieren viele Lebensprozesse, was den Tieren hilft, Energie zu sparen, bis die Bedingungen im Frühling wieder besser werden.
Torpor vs. Winterschlaf vs. normaler Schlaf: Was ist der Unterschied?
Torpor ist ein Zustand reduzierter metabolischer Aktivität, der kurzfristig auftritt und oft von einer Absenkung der Körpertemperatur begleitet wird. Im Gegensatz zum Winterschlaf, der mehrere Monate dauern kann, ist Torpor ein vorübergehender Zustand, der Stunden oder Tage andauern kann. Viele Vögel, wie Kolibris, nutzen Torpor in der Nacht, um den Energieverbrauch zu reduzieren, wenn Nahrungsressourcen begrenzt sind. Nach diesem Zustand wachen die Tiere schnell wieder auf und können ihre normalen Aktivitäten fortsetzen.
Schlaf hingegen ist ein rhythmischer Zustand, den auch Menschen erleben und der für die kognitive Funktion, das Gedächtnis und das allgemeine Wohlbefinden entscheidend ist. Während des Schlafs durchläuft der Körper verschiedene Phasen, einschließlich der REM-Phase, in der das Gehirn aktiv ist, um Informationen zu verarbeiten und zu träumen. Im Gegensatz zum Winterschlaf, bei dem der Stoffwechsel stark reduziert wird, bleibt der Körper im Schlaf funktionstüchtig und reaktionsfähig, was einen Überlebensmechanismus darstellt. Doch schützt er den Körper nicht so wie der Winterschlaf.
Im Winterschlaf erwachen Tiere kurz, um sich aufzuwärmen
Der Ablauf des Winterschlafs ist allerdings um einiges komplexer und umfasst mehrere Phasen, die zum Teil noch nicht vollständig erforscht sind. Zu Beginn senken die Tiere ihre Körpertemperatur auf ein Minimum — häufig auf Werte von nur wenigen Grad über dem Gefrierpunkt. Diese drastische Absenkung ermöglicht es ihnen, die zuvor gespeicherte Energie effizienter zu nutzen. In regelmäßigen Abständen, etwa alle ein bis drei Wochen, wachen die Tiere auf, um sich wieder aufzuwärmen, was einen signifikanten Energieverbrauch mit sich bringt. Schätzungen zufolge kostet dieses Aufwärmen bis zu 90 Prozent der während des gesamten Winterschlafs benötigten Energie. Hierbei spielt das braune Fett eine Schlüsselrolle, da dieses spezielle Fettgewebe darauf ausgelegt ist, die gespeicherte Energie schnell in Wärme umzuwandeln.
Nicht jeder Winterschlaf sieht gleich aus. Eichhörnchen hamstern Nahrung, die sie während des Winters in ihren kurzen Wachphasen essen, während die Haselmaus sich im Sommer und Herbst Fettreserven anlegt, um diese in der kalten Jahreszeit zu verbrauchen. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist der Bär, der zwar in eine winterschlafähnliche Phase eintaucht, jedoch nicht auf die gleiche tiefgreifende Weise schläft wie kleinere Arten. Bei Bären werden zudem die Jungen während des Winterschlafs geboren, was sie von den „echten“ Winterschläfern unterscheidet, die in diesen Phasen keine Fortpflanzung betreiben.
Der Bär ist das größte Tier, das Winterruhe hält – wenn auch etwas anders als kleine Tiere
Doch wieso verfallen Menschen nicht in Winterschlaf? Was unterscheidet sie von den schlafenden Säugetieren und wäre ein Winterschlaf für Menschen überhaupt möglich? Tom de Boer, Leiter des Labors für Neurophysiologie des Medical Centers der Leiden Universität erläutert, dass einer der zentralen Unterschiede in der Körpergröße liegt. „Die meisten Tiere, die Winterschlaf halten, sind kleine Säugetiere zwischen 10 Gramm und einem Kilo“, berichtet er. Auch wenn Bären als große Tiere eine Ausnahme darstellten, erreichten sie nicht die niedrigen Körpertemperaturen, die typischerweise mit echtem Winterschlaf assoziiert würden.
Menschen fehlt das braune Fett
Zudem geht de Boer auf das braune Fett ein: „Das braune Fettgewebe ermöglicht es den Tieren, Energie effizient in Wärme umzuwandeln. Menschen hingegen haben wenig oder gar kein braunes Fett“, erklärte er. Während Winterschläfer auf ihr braunes Fett angewiesen seine, um sich regelmäßig aufzuwärmen, gäbe es bei Menschen nur begrenzte Möglichkeiten, diese Reserven aufzubauen. „Man kann den Körper zwar trainieren, braunes Fett zu erzeugen, aber ich bezweifle, dass wir je genügend haben werden, um tatsächlich von allein einen Winterschlaf erleben zu können“, fügte er hinzu.
Doch auch unter den Tieren gibt es signifikante Unterschiede. De Boer erklärt, dass die Organe von Winterschläfern besser in der Lage seien, lange Perioden bei niedrigen Körpertemperaturen zu überstehen. „Die genauen Mechanismen sind noch nicht vollständig verstanden, aber es gibt Hinweise darauf, dass Veränderungen im pH-Wert eine Rolle spielen könnten“, sagte er und stellte klar, dass die Forschung auf diesem Gebiet noch viele offene Fragen hat. Es wird weiterhin an unterschiedlichen Ansätzen geforscht, um zu verstehen, wie diese Tiere in der Lage sind, ihre Organfunktionen über Monate hinweg auf diese Art aufrechtzuerhalten, ohne nennenswerte Schäden zu erleiden.
Wie Tiere also genau Winterschlaf halten, ist noch nicht final geklärt. Warum Menschen es nicht tun, darüber weiß man allerdings mehr. De Boer erklärt: „Winterschlaf wird eingesetzt, um Energie zu sparen. Es ist entscheidend, dass die eingesparte Energie größer ist als die Energie, die aufgebracht werden muss, um den Körper im wachen Zustand zu wärmen und zu versorgen.“ Mittels Berechnungen konnten Forscher zeigen, dass Tiere ab einer bestimmten Größe, wie auch der Mensch, keinen direkten Vorteil mehr vom Winterschlaf haben. So stellt sich heraus, dass vor allem auch die Körpergröße der Menschen sie von dieser Überlebensstrategie ausschließt. Außerdem ist es uns Menschen möglich, auch im Winter ausreichend Nahrung zu beschaffen – genau wie den Tieren, die keinen Winterschlaf halten.
Größere Tiere wie der Fuchs halten keinen Winterschlaf. Sie werden durch ihr dickes Fell warmgehalten und finden genügend Nahrung. Indem sie sich zum Schlafen zusammenrollen, speichern sie Körperwärme.
Geschichte zeigt Menschen in winterschlafähnlichen Zuständen
Trotzdem gibt es geschichtliche Aufzeichnungen darüber, wie Menschen einen Zustand herbeigeführt haben, der dem tierischen Winterschlaf ähnelt. De Boer skizziert zwei faszinierende Beispiele: „Von den ursprünglichen Einwohnern Australiens und den Sami in Nordskandinavien ist bekannt, dass ihre Körpertemperatur im Schlaf um einige Grad niedriger war, als bei den meisten Menschen üblich.“ Solche Anpassungen können als eine Art natürlicher Winterschlaf angesehen werden, um etwas Energie zu sparen.
Zudem gibt es alte Berichte über Dorfgemeinschaften in Sibirien, die während des Winters oft gemeinsam um das Feuer saßen und die meiste Zeit schliefen und nur wach wurden, um zu essen und zu trinken. Die Menschen versuchten, ihren Energieverbrauch zu minimieren.
Ausgrabungen in Nordspanien zeigen, dass die Ur-Menschen auch eine Art Winterschlaf hielten. Allerdings waren sie darin nicht besonders gut, wie die Forschungen darlegen: Sie schafften es wohl nicht, vor dem Winterschlaf genügend Fettreserven anzusammeln und litten daher unter erheblichem Vitamin-D-Mangel und gestörtem Knochenwachstum. Ähnliche Krankheitsbilder finden sich beispielsweise bei Bären, die vor dem Winter nicht genügend Nahrung aufnehmen konnten.
Kann der Winterschlaf der Medizin helfen?
Durch moderne Heizungssysteme und isolierte Häuser sind Menschen heute nicht darauf angewiesen, bei niedrigen Temperaturen Körperenergie zu sparen. Eine besonders spannende Perspektive eröffnet sich allerdings im Bereich der medizinischen Forschung. Dort gibt es großes Interesse daran, die Mechanismen des Winterschlafs zu nutzen. Es wird untersucht, wie Menschen nach schweren Verletzungen in einen tiefen Schlaf versetzt werden können, beispielsweise für den Krankentransport. Doch auch für lebensgefährliche Krankheiten könnte ein Herunterfahren vieler Körperfunktionen sinnvoll sein, da sich so die Energie auf einen bestimmten Punkt konzentrieren könnte.
De Boer erklärt, dass auch die Raumfahrt maßgebliches Interesse an den Prozessen hat, um Menschen in eine Art Winterschlaf zu versetzen. „Das Potenzial, die Crew damit bei längeren Raumfahrten zu unterstützen, wäre enorm, da der verlangsamte Metabolismus den Körper besser gegen Strahlung schützt“, erläuterte er als Beispiel. So könnten DNA-Schäden verringert werden.
Rein theoretisch wäre es möglich, Menschen in einen Winterschlaf zu versetzen. Doch für die praktische Umsetzung fehlten laut jetzigen Forschungsstand noch viel zu viele Informationen. „In Bologna gibt es eine Forschungsgruppe, die derzeit daran arbeitet, Ratten und Schweine mithilfe von Medikamenten in einen winterschlafähnlichen Zustand zu versetzen.“ Allerdings sei dieser künstliche Winterschlaf ein sehr intensiver Eingriff, mit dem das Risiko einhergehe, Organe zu schädigen. „Die Medikamente müssen lokal im Hirnstamm verabreicht werden, und der künstliche Winterschlaf hält bisher nicht lange an“, erklärt der Laborleiter.
Auch, wenn manch einer gerne einen Winterschlaf halten würde, für Menschen ist diese Überlebensstrategie nicht notwendig.
Auch über die kognitiven und psychologischen Auswirkungen des Winterschlafs weiß man noch zu wenig. „Einige Tests zeigen, dass Winterschläfer sich nach ihrem Winterschlaf sehr gut an Verwandte wie ihre Kinder oder Eltern erinnern können, während die Erinnerung an ihre Umgebung etwas schwächer ausfällt.“ Diese Ungewissheit hinsichtlich der psychologischen Folgen sei ein weiteres Hindernis in der Erforschung der menschlichen Anwendung von Winterschlafmechanismen.
Solange so viele Fragen rund um den Winterschlaf bei Tieren nicht geklärt sind, sei also nicht daran zu denken, Forschungen bei Menschen durchzuführen. Trotzdem biete das faszinierende Phänomen des Winterschlafs in der Tierwelt viele Einblicke in die Anpassungen, die Lebewesen an unterschiedliche Umgebungen und Herausforderungen entwickeln.
Die Erforschung dieser Mechanismen birgt das Potenzial für wichtige medizinische Anwendungen und könnte unsere Erkenntnisse über den menschlichen Körper und seine Widerstandsfähigkeit erheblich erweitern. In der Zukunft könnten die Geheimnisse des Winterschlafs vielleicht dazu beitragen, die menschliche Gesundheit und Versorgung zu verändern.
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