In der Wildnis Alaskas

Das Arctic National Wildlife Refuge in Alaska ist eine der letzten wirklich wilden Landschaften, der Lebensraum von Karibus, Bären, Moschusochsen und Wölfen. Der Fotograf und Naturfilmer Florian Schulz dokumentiert das einzigartige Ökosystem.

Von Andrea Henke
bilder von Florian Schulz
Veröffentlicht am 20. Sept. 2018, 17:39 MESZ
Alaska
Im Frühjahr wandern Zehntausende Karibus in die Küstenebene des Schutzgebiets. Sechs Wochen lang grasen sie in der Tundra. Hier bringen sie ihre Jungen zur Welt, und hier stellen ihnen auch die Inupiat­Jäger nach. Für die Ureinwohner Nordalaskas sind sie eine wichtige Ressource. Jährlich legen die Karibus im Schnitt über 4 300 Kilometer zurück. Das ist mehr als alle anderen Landsäugetiere.
Foto von Florian Schulz

Sie verbringen viele Monate im Jahr im Arctic National Wildlife Refuge – oft gemeinsam mit Ihrem Bruder, manchmal mit Ihrer Frau und Ihren Söhnen. Was fasziniert Sie an dieser Wildnis?

Die Größe und die Weite. Es ist vom Menschen noch weitgehend unberührt. Das Licht des Nordens und die nordische Tierwelt machen es einzigartig. Hier sieht man noch Tausende Karibus an sich vorbei ziehen. Zur Porcupine-Karibu-Herde gehören etwa 225 000 Tiere! Der Besuch ist eine Zeitreise in eine längst vergangene Welt.

Eine Landschaft, in der die Karibus schon seit Tausenden von Jahren dieselben Hunderte Kilometer langen Strecken zurücklegen.

Das begeistert mich: Die Karibus hatten immer Refugien, in denen sie selbst Eiszeiten überleben konnten. Es gibt auf der Welt nur noch ganz wenige Flecken, wo wir Natur so ursprünglich erleben können. Wo die Tiere noch ziehen wie einst. Besonders der Sommer hier oben ist traumhaft, man möchte nie schlafen. Es wird ja auch nie dunkel, ein Tag hält mehrere Monate an – total verrückt!

Fotografieren Sie im Sommer meistens nachts?

Ja. Gerade im Juni, wenn die Sonne gar nicht mehr untergeht, habe ich nachts das wärmste und schönste Licht – da machen wir die Nacht zum Tag! Und schlafen am Tag. Bei Schlechtwetterperioden müssen wir dann wieder am Tag fotografieren. Mit dieser ständigen Umstellung müssen wir leben. Wir schlafen erst, wenn wir völlig erschöpft sind.

Wie viel Zeit verbringen Sie in dieser Wildnis?

Gern mal acht Monate im Jahr. Ich war im Jahr 2000 zum ersten Mal hier. In den vergangenen fünf Jahren habe ich weit mehr Zeit in Alaska zugebracht als anderswo. Mein logistisches Zentrum ist in Anchorage – aber meistens bin ich in der Wildnis.

Durch die Verbindungen, die ich hier aufgebaut habe, bekomme ich immer mehr Aufträge und Projekte. Es hilft sehr, wenn man Erfahrung hat: Es ist extrem aufwendig und teuer, in das Refuge hinein zu kommen und dort zu filmen und zu fotografieren. Und wir liefern jetzt in Kinoqualität – vor meinem Bruder Salomon und mir hat das noch niemand gemacht. Viele Menschen konnten sich gar nicht vorstellen, wie phantastisch das Arctic Refuge ist.

Am Rande des Schutzgebietes liegt das größte Ölfeld Nordamerikas. Die Ölindustrie hat schon lange ein Auge auf die vermuteten Vorkommen in den Küstenebene des Arctic Refuge geworfen.

Das Gebiet ist massiv bedroht, eine wahre Katastrophe. Es ist ein extrem sensibles Ökosystem. Das raue Klima lässt den dort lebenden Arten nur wenig Zeit zum Erholen. Wenn sie zusätzlich von Ölbohrlärm, seismischen Tests und Zerschneidung ihres Lebensraumes durch Öl- und Gaspipelines gestört werden, sind die Auswirkungen auf die Tierwelt verheerend. Ich möchte daher unbedingt die Einzigartigkeit – die Seele – dieses Ortes festhalten  und dafür sorgen, dass diese Wildnis erhalten bleibt.

Wie kommen Sie in das Naturschutzgebiet, und wie bewegen Sie sich dort?

Mit dem Buschflugzeug fliegen wir zuerst in die Wildnis und errichten ein Basiscamp. Weiter geht es zu Fuß oder bei weiteren Strecken mit dem Flugzeug. Im letzten Herbst sind wir auch über Wochen mit einem aufblasbaren Floß den Canning River hinunter gefahren. Am Ende der Tour wurden wir mit dem Buschflugzeug abgeholt. Zu Fuß können wir uns nur begrenzt vom Camp entfernen, denn die Ausrüstung ist ungeheuer schwer.

Gibt es feste Camps?

Wir müssen unsere Camps immer wieder an neue Orte verlegen. Wir dürfen nicht Wochen am selben Ort sein, damit die Tundra dort nicht verletzt wird.

Wie finden Sie Ihre Motive?

Das ist nicht leicht. Manchmal haben wir das Glück, etwas aus dem Buschflugzeug zu entdecken. Die meiste Zeit verbringe ich damit, von einer Anhöhe die Landschaft mit dem Fernglas abzusuchen. Wir wissen beispielsweise, wie Nestbedingungen für bestimmte Vögel aussehen müssen: welche Art Klippe, in welche Himmelsrichtung ausgerichtet. Wir haben gelernt, wo ein Steinadler brüten könnte. Wenn wir dann etwas entdeckt haben, bedeutet das allerdings leider nicht unbedingt, dass wir auch dorthin gelangen. Manchmal helfen Geduld und Glück: Wir warten stundenlang auf einem Aussichtspunkt, und plötzlich kommt ein Wolf. Inzwischen kann ich auch vorrausschauend handeln: Ich weiß in welche Richtung eine Herde ziehen wird und wähle meinen Platz entsprechend. Und manchmal klappt eben gar nichts: Es gab Expeditionen, bei denen ich nur ein einziges Karibu gesehen habe.

Wie vertreiben Sie sich die Zeit an Tagen, an denen sich keine Tiere zeigen?

Ich bin immer auf der Suche. Schlimm wird es, wenn ich schon lange von der Familie weg war, es draußen stürmt oder schneit und ich keine Chance habe, Bilder zu machen. Dann packt mich ein bisschen die Einsamkeit.

Es gibt viele Menschen, die diese Ruhe und Einsamkeit nicht ertragen können.

Und viele, die es nicht ertragen können, ständig unterwegs zu sein, und an verschiedenen Orten zu leben. Menschen lieben Routine. Mein Leben ist das absolute Gegenteil. Ich lebe mit meiner Familie in verschiedenen Ländern, bin allein in der Wildnis und dann unter tausenden Menschen bei Vorträgen oder Konferenzen. Einmal hatte meine Frau Emil in Deutschland schon Wehen, und ich bin tagelang nicht aus dem Basislager in Alaska weggekommen. Ich kam erst Tage später heim ­– aber mein Sohn Silvan hat sich dann glücklicherweise Zeit gelassen.

Hätten Sie es nicht gerne mal etwas gemütlicher und geregelter?

Meine Frau vermisst das manchmal. Deswegen haben wir jetzt unsere Basisstation in Anchorage und zusätzlich eine in Baja California, in Mexiko. Emil kommt aus Mexiko, und wir haben ein weiteres Projekt dort, an der Pazifikküste. Die Kinder sollen sich an beiden Orten zuhause fühlen.

Florian Schulz mit seiner Frau Emil und den Söhnen Nanuk und Silvan im Arctic National Wildlife Refuge.

Ihre Söhne sind jetzt drei und sechs Jahre alt. Die letzten beiden Sommer waren sie längere Zeit mit in der Wildnis. Wie war das?

Die Kinder haben das geliebt. Sie haben immer neue Spiele erfunden und die Tundra erkundet. Nanuk hat seine ersten Fische geangelt. Ich hab mir anfangs die größten Sorgen gemacht wegen der Moskitos. Das können extreme Schwärme werden. Unser Kleinster, Silvan, war zwei und hat sehr stark auf die Stiche reagiert.

Ich habe Filmaufnahmen von ihm gesehen, auf denen er mit Moskitohut schläft.

Ja, wir mussten ihn ganz besonders schützen. Aber die Kinder lieben es da draußen und passen sich sofort an. Dieses Jahr wollten sie unbedingt wieder mit raus. Es gibt da soviel für sie zu tun und zu entdecken.

Für die Kinder ist es bestimmt ein großes Abenteuer. Wie war es für Sie, währenddessen zu arbeiten?

Zwischendrin war ich angespannt, wenn manche Aufnahmen nicht so funktioniert haben wie gewollt, und ich keine Zeit für die Kinder hatte. Aber mir ist die Nähe zu meinen Kindern sehr wichtig, ich hätte sie sonst zu lange nicht gesehen. Ich wünsche mir, dass sie die Natur tief in sich aufnehmen können. In der Arktis haben sie mit uns Zehntausende von Karibus gesehen. Wir saßen still da, einige Karibus kamen immer näher und haben uns beäugt und gewittert. Die Kinder haben sich auf den Boden gelegt. Bis auf etwa fünf Meter sind die Karibus herangekommen.

Nanuk ist jetzt sechs. Geht er schon zur Schule?

Wir machen „homeschooling“ und hoffen, dass es auch noch länger möglich ist. Aber gerade sind wir in Deutschland zu Besuch, und er kann hier die Schule kennenlernen. Nanuk kann schon jetzt drei Sprachen und die Kinder lernen so viel in der Natur. Wir versuchen, ihre Neugier und ihren Mut zu fördern. Alles andere wird sich mit der Zeit ergeben. Im Moment läuft es ganz gut.

Was gibt es im Refuge zu essen?

Haferflocken, Astronautennahrung – diese gefriergetrockneten Tüten –, viel Reis, Suppen, getrocknete Früchte. Wir haben natürlich auch mal zwischendurch gefischt, aber im Allgemeinen essen wir nicht besonders viel und nicht besonders gut. Im Basiscamp ist es besser, da haben wir auch asiatische Curries und Linsengerichte. An frischen Lebensmitteln gibt es oft nur Karotten und Kohl. Wenn wir mehr Gewicht mitnehmen können, packen wir für die Kinder auch ein paar Äpfel und Orangen ein.

Was sind die größten Gefahren für einen Naturfilmer in der arktischen Wildnis?

Eine der größten Gefahren ist das Buschfliegen – es gibt es leider immer wieder Abstürze. Man braucht einen erfahrenen Buschpiloten und muss sehr genau aufs Wetter achten. Ein ganzes Gebiet kann innerhalb einer halben Stunde mit Nebel zuziehen, da schauen nur noch die Bergspitzen raus – und da soll man dann landen? Im Winter haben wir am North Slope gearbeitet, da ist alles Tundra. Es gibt keine Bäume, also keine Konturen, die aus der Schneedecke herausragen, alles ist weiß. Wenn Nebel aufkommt, kann man keinen Unterschied mehr sehen zwischen dem Land, den Hügeln, dem Himmel, den Wolken. Das hab ich mehrmals erlebt.

Was sind die Gefahren am Boden?

Im Winter ins Eis einzubrechen. Der Schnee auf den Flüssen macht es schwer, darunter liegendes brüchiges Eis von festem Boden zu unterscheiden.

Wie gefährlich sind Bären?

Früher hatten wir nie eine Waffe mit, jetzt haben wir manchmal einen Revolver dabei, wenn wir ganz allein am Ansitz auf Tiere warten. Damit können wir im Notfall einen agressiven Bären vertreiben. Die Bären im Arctic Refuge haben oft noch nie einen Menschen gesehen, und man muss abschätzen, wie sie auf einen zukommen. Vorsichtig, neugierig oder eher forsch? Man möchte ja, dass der Bär näher kommt, um ihn zu fotografieren, muss aber gleichzeitig wissen, wann man ihm seine Grenze aufzeigt. Ich fange früh an mit ihm zu reden, sage: „Hey bear“, damit er schon mal merkt: Da ist etwas, das anders ist.

Sie machen sich bemerkbar?

Ja, es hilft sehr, selbstbewusst da zu stehen, das hat viel Einfluss darauf, wie die Situation abläuft. Alle paar Jahre trifft man auf einen Bären, mit dem etwas nicht stimmt, der aggressiv ist, dann wird es gefährlich. Bei einem Angriff ist Pfefferspray die beste Lösung. Im Arctic Refuge ist die Bärendichte aber nicht sehr hoch.

Wie schwierig ist die Rückkehr in die Zivilisation?

Das ist ein völliger Kulturschock. Hier ist alles ruhig und auf das Wesentliche reduziert. Aber in der Zivilisation muss ich mich natürlich auch zurechtfinden, soziale Medien verstehen und nutzen. Ich habe ja eine Botschaft: Ich will mit meinen Bildern das Arctic Refuge am Leben erhalten.

 

Sehen Sie weitere Fotos von Florian Schulz im Artikel "Wildnis oder Öl?"  und auf Instagram.

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