Frisuren der Freiheit
Zwei Fotoprojekte zeigen, wie Kultur und Geschichte in Nigeria mit der Haarkultur verflochten sind.
Zum ausdrucksstarken Stil nigerianischer Frauen gehören extravagante Kleidung und Accessoires. Bei den jüngeren gehören auch mutige und farbenfrohe Frisuren dazu, die der Schwerkraft zu trotzen scheinen.
Haare können Geschichten erzählen. Das zeigen die Fotos von J. D. ’Okhai Ojeikere, der von 1930 bis 2014 lebte. Fast ein halbes Jahrhundert lang dokumentierte der Fotograf in seinem Heimatland Nigeria Tausende von Frisuren, die der Schwerkraft trotzen. Sie kamen in Mode, nachdem das Land 1960 die Unabhängigkeit vom britischen Empire erlangte. Davor hatten Frisuren eine gesellschaftliche Funktion: Sie gaben Auskunft über den Familienstand, die ethnische Herkunft und die sozioökonomische Klasse. Mit der nigerianischen Unabhängigkeit bekamen sie auch eine politische Bedeutung.
Ojeikere fotografierte Frisuren mit starken Mustern und Statements. Der Look onile gogoro ist eine Referenz an die Wolkenkratzer, die in Nigeria nach Beginn der Unabhängigkeit entstanden.
Ojeikere dokumentierte das Wiederaufleben der traditionellen Frisuren, die in der eurozentristischen Kolonialzeit verpönt gewesen waren. Seine Bilder zeigen innovative Kreationen, mit denen die Bürgerinnen Nigerias ihre Identität wiederfanden. Und mit der Zeit wurde sein Ansatz immer archivarischer, um die Erinnerung an die Stile angesichts der Globalisierung zu bewahren. Die in Lagos lebende US-Fotografin Medina Sage Dugger startete ihr Projekt „Chroma“ 2017, etwa 50 Jahre, nachdem Ojeikere seines begonnen hatte, als Hommage an ihren Vorgänger. Neu ist die Farbpalette: Ojeikeres Porträts sind schwarz- weiß, Duggers dagegen strahlend bunt.
Dugger will mit „Chroma“ Stolz auf die nigerianische Identität dokumentieren. Die Stylistin Ijeoma Christopher setzt der globalen Uniformität traditionelle Flechttechniken und futuristische Mode entgegen.
Heute hat die Globalisierung die nigerianischen Städte fest im Griff. Frisuren sollen eher schön als gesellschaftspolitisch relevant sein – aber sie können immer noch Zeichen setzen. Da der Zeitgeist häufig zwischen liberal und konservativ schwankt (und mehr zu Letzterem tendiert), können die kühnen, skurrilen Haare auch als Auflehnen gegen die Normen gesehen werden, selbst wenn sie nur einen individuellen Stil ausdrücken.
Als Ojeikere begann, galten seine Fotografien als bahnbrechend. Heute würden wir seine Arbeit als traditionell und die von Dugger als modern bezeichnen. Doch mit ihrem Frisurenprojekt setzt Dugger die Tradition fort, indem sie die vergängliche Haarkultur dokumentiert, wie auch Ojeikere es getan hat. Das Geschichtenerzählen geht weiter.
Dieser Artikel erschien in voller Länge und mit vielen weiteren Bildern in der Juli 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!