Einblicke in die blühende und widersprüchliche Marihuana-Industrie Italiens

Seit Jahrhunderten werden Hanf und Marihuana in Italien legal angebaut – nun steht die Industrie neuen Herausforderungen gegenüber.

Von Lucia De Stefani
bilder von Matteo Bastianelli
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:37 MEZ
Industriehanfpflanzen
Antonio Cerozzi ist Eigentümer einer Farm, die Getreide, Obst und Gemüse produziert. Er läuft mit Rachel Invernizzi durch seine Industriehanfpflanzen auf einem fünf Hektar großen Feld. Torremaggiore (Foggia), Italien, 2016.
Foto von Matteo Bastianelli

Als Matteo Bastianelli diese Story fotografierte, arbeitete er manchmal 30 Stunden am Stück.

Als er die Polizei in Lecce begleitete – einer süditalienischen Stadt, geprägt von hellen Steinbauten –, fuhr er bei Observierungen mit, beobachtete, wie Drogen abgefangen wurden, und ging rund um die Uhr Hinweisen nach. Er sah, wie vier Tonnen beschlagnahmtes Marihuana verbrannt wurden, und war Zeuge eines bewaffneten Konflikts, um illegal gehandelte Drogen zu bergen.

An anderen Tagen passierte weniger. Er befand sich mit anderen Italienern im Zentrum seiner aktuellsten Arbeit. Er hing in ihren Wohnungen rum und begleitete sie, wenn sie Besorgungen machten. „Wenn ich an Langzeitprojekten arbeite, muss ich in das Leben anderer Menschen schlüpfen. Ich muss das Gefühl haben, akzeptiert zu werden“, sagt Bastianelli.

Seine jüngste Arbeit, „Green Gold“, zierte vor Kurzem das Titelblatt der italienischen Ausgabe von National Geographic. Sie behandelt die vielen Rollen, die Cannabis in Italien spielt: Es steht im Zentrum einer florierenden Industrie, es ist eine illegal gehandelte Ware, aber auch ein Produkt, dass sowohl zu medizinischen als auch gelegentlichen zur privaten Nutzung konsumiert wird.

Der 36-jährige Alberico Nobile erlitt bei einem Autounfall eine Querschnittslähmung. Mit der Hilfe seines Freundes Vincenzo raucht er in seinem Haus Cannabis. Aufgrund seines Zustandes, sagt Bastianelli, rollen Albericos Eltern und Freunde ihm jede Stunde Zigaretten, um ihm seine Therapie zu ermöglichen. Talsano (Taranto), Italien, 2016.
Foto von Matteo Bastianelli

Italien ist einer der besten Orte, um sich Cannabis genauer anzusehen. Das Land zählte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den Top-Produzenten der Welt, bevor ein Verbot und synthetische Materialien Produzenten und Konsumenten zu schaffen machte. Eine Reihe von Verordnungen der italienischen Regierung haben über die Jahre hinweg widersprüchliche Ansätze verfolgt. Sie wechselten zwischen strengeren und weniger strengen Vollzugsmaßnahmen – mit durchwachsenem Ergebnis. In den letzten Jahren gaben laut der italienischen Behörde für Anti-Drogen-Politik 23 Prozent der Teenager zwischen 15 und 19 Jahren zu, Cannabis zu benutzen. Die Polizei beschlagnahmt nur einen Bruchteil der illegal gehandelten Drogen. Der Rest bereichert organisierte Verbrecherringe, deren Profite zu 70 Prozent aus dem Drogenhandel stammen.

Trotzdem hält sich auch die legale Industrie. In den Feldern in der Nähe des Castiglione d'Otranto in Apulien traf Bastianelli zwei junge Bauern. Sie sagten, sie würden es vorziehen, von dem Cannabis-Anbau auf ihrem Land zu leben, anstatt in der Stadt nach besser bezahlten Jobs zu suchen. Bastianelli traf sich mit Bauern und mit Patienten, die Marihuana nutzen, um ihre Krankheiten zu bekämpfen. Er traf sich mit örtlichen Vereinen, die für weniger Verordnungen warben, und folgte Polizisten bei ihrer Jagd nach illegalen Händlern. Jede Interessengruppe schien ihre eigenen Ziele zu haben.

Einige Menschen, die Marihuana zu medizinischen Zwecken nehmen, wollten fotografiert werden. „Viele von ihnen fühlen sich von den Medien schlecht repräsentiert, die sie oft [mit Gelegenheitsnutzern] verwechseln“, sagt Bastianelli. „Wenn diese Aspekte nicht seriös und mit einer richtigen und gründlichen Analyse angegangen werden, ist es einfach, einen kranken Menschen mit einem Gelegenheitsnutzer zu verwechseln.“

In Italien, wo man Marihuana in Apotheken legal mit einem Rezept erwerben kann, führen zu viele Verordnungen oft zu Preisanstiegen. Viele sehen dann den Schwarzmarkt oder den Eigenanbau als die preiswertere Lösung an. Andrea Trisciuoglio ist 38 und leidet an Multipler Sklerose. Er ist einer der Menschen, die Bastianelli fotografiert hat. Jahrelang hatte er verschiedene Behandlungsmethoden versucht – aber erst, seit er vor zehn Jahren mit dem Konsum von Marihuana begann, kann er wieder laufen. Alberico Nobile, 36, leidet seit seinem 15. Lebensjahr an Tetraplegie, einer Form der Querschnittslähmung. Er benötigt jede Stunde Marihuana. Trisciouglio hat die Interessenvertretung LapianTiamo gegründet, um auf einfacheren Zugang zur privaten medizinischen Nutzung zu drängen. Außerdem möchte er öffentlich den Irrglauben über die Droge korrigieren.

Als nächstes möchte Bastianelli seinen Fokus verschieben und sich auf den internationalen illegalen Handel mit Cannabis konzentrieren, darunter auch die Rolle von Albanien und Marokko. Am Ende wird er seine Arbeiten in einem Buch und einer Reiseausstellung zusammentragen, die speziell auf Schüler ausgerichtet ist.

„Bildung kann uns dabei helfen, solche Arbeit zu verbreiten, die nicht so sensationslüstern ist, die beeindrucken will, aber auch Fragen stellt: darüber, wer wir sind, was wir später mal werden wollen, über unsere Beziehung zu unserer Umwelt“, sagt Bastianelli. „Sie kann uns dabei helfen, all die Realitäten zu verstehen, die uns umgeben.“

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