Eine Fotostory über Albinismus veränderte die Zukunft dieser Familie

Als sie gerade Fotos für einen Artikel über Albinismus machten, beschlossen Stephanie Sinclair und ihr Mann, zwei Kinder mit Albinismus aus China zu adoptieren.

Von Stephanie Sinclair
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:38 MEZ
Familie Sinclair
Stephanie Sinclair und ihr Mann Bryan Hoben mit ihren gerade adoptierten Kindern.
Foto von Nicole Chan

An vielen Orten, zu denen ich als National Geographic-Fotografin gereist bin, bin ich die auffällige Ausländerin, die hellhäutige, blonde Frau mit 18 Kilogramm an Kamera-Equipment. Ich bin so daran gewöhnt, dass die Leute mich anstarren, dass es mir kaum noch auffällt. Aber als mein Mann Bryan und ich im letzten Februar nach China reisten, um unsere zwei Kinder zu adoptieren, war das Gefühl der Auffälligkeit jenseits von allem, was ich bisher erlebt hatte.

Forst, 7 Jahre, und Lotus, 3 Jahre, wurden mit Albinismus geboren und prompt in staatlich betriebenen Waisenhäusern abgegeben. Das ist so üblich in China, wo dieser Zustand als eine lähmende soziale und finanzielle Last angesehen wird. Der Anblick dieser Kinder mit der Porzellanhaut und dem auffallend weißen Haar reichte aus, damit die Menschen wie angewurzelt stehen blieben. Während Forest im Zoo in Guangzhou die Giraffen beäugte und seine Schwester im Kinderwagen schlief, hielten Fremde an und richteten ihre Kameras auf unsere Kinder. Diese Art von Neugier begegnete uns ebenso in Parks, Einkaufszentren und Restaurants. Die meisten Leute waren erstaunt, dass die Kinder Mandarin sprachen, da sie annahmen, es seien unsere biologischen Kinder, die mit uns aus den USA angereist waren.

In vielen Teilen der Welt gelten Kinder, die mit einer Behinderung oder einer Störung geboren werden, als Unglücksboten oder als Fluch, der über die Familie gekommen ist. In manchen Gemeinschaften werden Menschen mit Albinismus aus der Schule ausgeschlossen, können keine Arbeit oder keinen Partner finden und werden in extremen Fällen sogar wie Tiere gejagt.

Ich beschäftigte mich im Zuge eines langfristigen Projekts – das schließlich zu einem Auftrag für National Geographic wurde – näher mit Albinismus und jenen Menschen, die davon betroffen und deshalb Gefahren ausgesetzt sind. Es ist eine Störung mit genetischer Ursache, in deren Folge die Produktion von Melanin in Haut, Haaren und Augen gestört ist. Daraus ergibt sich das Risiko für ein deutlich eingeschränktes Sehvermögen und Hautschäden sowie für Diskriminierung und Vorurteile. Mein Mann und ich befanden uns bereits im internationalen Adoptionsprozess, als wir die großmütigen, freundlichen und talentierten Menschen trafen, die in der Juni-Ausgabe des Magazins in einem Artikel über Albinismus vorgestellt wurden. Fast schon reflexartig begannen wir damit, gezielt nach einem Kind mit Albinismus zu suchen.

Die Agentur Cradle of Hope brachte uns im April 2016 mit Lotus zusammen. Wie es der Zufall wollte, brachte eine Organisation mit Sitz in Maryland im darauffolgenden Juni 20 Kinder aus China in die USA, um für eine Weile bei dort lebenden Familien zu bleiben. Die Agentur fragte uns, ob wir daran interessiert wären, einen sechsjährigen Jungen bei uns aufzunehmen, der ebenfalls Albinismus hatte. Sie zeigten uns ein Video von Forest, der unbekümmert ein chinesisches Gedicht rezitierte, und wir haben uns sofort verliebt.  Forest am Ende seines Sommeraufenthalts wieder in ein Flugzeug zurück nach China zu setzen, war eines der schwersten Dinge, die Bryan und ich je tun mussten. Aber Cradle of Hope versicherte uns, dass unser Adoptionsprozess für Forest beschleunigt werden konnte, damit wir ihn und Lotus Anfang dieses Jahres zusammen nach Hause holen konnten.

Wenn die Leute sie jetzt sehen, nehmen sie an, dass die beiden biologische Geschwister sind, sogar Zwillinge. Obwohl ihre typische Geschwisterbeziehung viel Gepetze und Streiterei über das Teilen beinhaltet, wissen wir, dass sie eines Tages auch Trost und Geborgenheit beieinander finden werden. Sie haben im jeweils anderen dann einen geliebten Menschen, der ihren einzigartigen Hintergrund verstehen wird, der das Heranwachsen in einem Waisenhaus, ihre chinesische Herkunft, Adoption und Albinismus umfasst.

Wie viele Menschen mit Albinismus haben auch unsere Kinder schlechte Sicht. Aber je routinierter die täglichen Aktivitäten werden, desto leichter vergisst man die Sehbehinderung. Wir spielen und schwimmen zusammen und unternehmen die gleichen Aktivitäten wie viele andere Familien – wenn auch mit deutlich mehr Sonnencreme und Schlapphüten, um die Haut der Kinder vor der Sonne zu schützen. Sie scheinen mit ihren Sehproblemen sogar so gut zurechtzukommen, dass es manchmal schwierig ist, sich daran zu erinnern, Lotus die Bereiche auf dem Spielplatz zu zeigen, an denen sie sich verletzen könnte. Neulich ist sie gegen eine Kletterstange gelaufen, die sehr niedrig hing, was zu einer beachtlichen Beule auf ihrer Stirn führte. Auf ihrer blassen Haut kommen blaue Flecke noch deutlich stärker zum Vorschein. Aber größtenteils sind sie wie alle anderen Kinder in ihrem Alter auch.

Die größten Hürden, die wir überwinden mussten, hatten weniger mit ihrem Albinismus zu tun und mehr damit, sie akademisch und sozial auf einen Stand mit ihren Gleichaltrigen zu bringen. Von denen haben die meisten schließlich ihre ersten Jahre nicht als Heimkinder verbracht. Wie jedes Elternteil eines Kindes mit einer Behinderung weiß, braucht das Eintreten für die Rechte des eigenen Kindes im Schulbezirk fast so viel Geduld und Beharrlichkeit wie das Elternsein selbst.

Der Übergang vom kinderlosen Paar zu zweifachen Eltern war mitunter überwältigend. Mein Mann und ich scherzen manchmal, dass wir nicht nur ins kalte Wasser gesprungen sind, was Elternschaft angeht, sondern dass wir vom Weltraum aus hineingeschossen wurden. Allerdings bekamen wir sagenhafte Unterstützung vom engen Netzwerk der Albinismus-Community. Über die Nationale Organisation für Albinismus und Hypopigmentierung (NOAH) trafen wir zwei Familien aus der Nähe, die ebenfalls Kinder mit Albinismus aus China adoptiert haben, die sich etwa im selben Alter wie unsere befinden. Diese Bekanntschaften zeigen unseren Kindern, dass es zwar nur einen unter 17.000 Menschen mit derselben genetischen Eigenschaft gibt, sie aber dennoch nicht allein sind. Daher war es unglaublich ermutigend, als bei unserem ersten Treffen mit einer der Familien deren Töchter so begeistert darüber waren, Lotus kennenzulernen, dass sie riefen: „Ihre Haare sind weiß, genau wie unsere!“ Als ihr Sohn zu unserem auf Mandarin Hallo sagte – Ni hao –, ließ Forest direkt einen Freudenschrei erklingen und nahm seine Hand.

BELIEBT

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    Forest fotografiert seine nun offiziellen Adoptiveltern. Er lernte uns während eines dreiwöchigen Besuchs im letzten Sommer kennen. Sich bis zur Adoption wieder voneinander zu trennen, war für uns alle schmerzhaft, aber es hat das Wiedersehen umso mehr zu etwas ganz Besonderem gemacht.
    Foto von Nicole Chan

    Glücklicherweise wissen unsere Kinder noch nicht, dass manche Gesellschaften Menschen wie sie ablehnt. Tatsächlich glauben sie – völlig zurecht –, dass sie ganz umwerfende Menschen sind. Auch wenn ein Heim kein Ort ist, an dem ein Kind aufwachsen sollte, wurden die beiden eindeutig von liebenden, wenn auch überarbeiteten Kindererziehern betreut. Sie wurden vor einer Welt beschützt, die Menschen mit Albinismus gegenüber grausam sein kann. Manchmal zeigt Forest spontan auf sein helles Haar und sagt selbstbewusst: „Schön.“

    Der Übergang unserer Kinder auf die amerikanische Schule verlief reibungslos, teils deshalb, weil sie sich in einem Alter befinden, in dem Kinder noch nett zueinander sind und sich gegenseitig akzeptieren. Wir wurden allerdings von Eltern und Adoptionstherapeuten gewarnt, dass ihre Besonderheit wahrscheinlich zu einigen schmerzhaften Momenten führen wird, wenn sie älter werden. Gerade dann wird es besonders hilfreich sein, Freunde und einen Bruder oder eine Schwester zu haben, die dieses seltene Erscheinungsbild teilen.

    Forest, der sich nicht von seinem Ballon trennen wollte, schlief damit während seines Besuchs im letzten Sommer ein.
    Foto von Stéphanie Sinclair

    Als die Juni-Ausgabe von National Geographic per Post ankam, sah Forest die Fotos darin aufmerksam an und erklärte zu jedem der abgebildeten Menschen: „Das ist mein Freund!“

    Eines der vielen Dinge, die ich auf meinen ausgedehnten Reisen gelernt habe, ist, dass unsere Unterschiede ein Grund zur Freude sind. Vielfalt ist der Schlüssel zu dem reichhaltigen Gefüge der Gesellschaft. Bryan und ich hoffen, dass unsere Kinder,  die wir über alle Maßen lieben, niemals auf irgendeine Art diskriminiert werden, sei es wegen ihres Albinismus oder aus irgendeinem anderen lächerlichen Grund. Wir hoffen, dass sie, wenn sie etwas weltgewandter werden, ihren eigenen Zustand in einem positiven Licht sehen, als eine der vielen Eigenschaften, die sie einzigartig und besonders machen. Und wir hoffen, dass sie um die Welt reisen werden – vielleicht nach Tansania, nach Panama oder in ihr Heimatland China – und weiterhin Aufmerksamkeit erregen werden. Nicht wegen ihrer hellen Haut und ihrem weißen Haar, sondern wegen ihrer wunderschönen Seelen.

    Stephanie Sinclair ist eine Fotojournalistin und Pulitzer-Preisträgerin. Sie wohnt in Hudson Valley, New York, USA und ist bekannt für ihre einzigartigen Einblicke und Ansätze zu den heikelsten Bereichen der Thematiken Gender und Menschenrechte.

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