„Arbeitsmigration hat eine längere Tradition in der Region“

Durch Niger kommen viele Flüchtlinge auf dem Weg nach Norden. Eine Expertin für Migration erklärt, wie das Land damit umgeht und was sich seit 2015 verändert hat.

Von Kathrin Fromm
Veröffentlicht am 1. Aug. 2019, 17:28 MESZ
Flüchtlingsviertel von Agadez
In einem Flüchtlingsviertel von Agadez warten junge Männer auf ihre Ausreise nach Libyen. Denn hier ist das Leben für sie hoffnungslos: geringe Lebenserwartung, schlechte Bildungschancen, große Armut. Niger belegt im UN-Entwicklungsindex den letzten Platz.
Foto von Pascal Maitre

Frau Biehler, viele Flüchtlinge ist Niger eine Durchgangsstation. Woher kommen die Menschen, und wohin wollen sie?

So pauschal lässt sich das nicht sagen. Das Geschehen im Land ist komplex. Dabei muss man zwischen Flucht und Migration unterscheiden, auch wenn sich die beiden Gruppen oft überschneiden. Es gibt in Niger viele regionale Flüchtlinge, vor allem aus Mali und Nigeria, aber inzwischen auch aus Burkina-Faso. Die Sicherheitslage hat sich in diesen Nachbarländern stark verschlechtert. Die Menschen fliehen vor der Gewalt von bewaffneten Gruppen wie Boko Haram und vor lokalen Gewaltkonflikten, vor Plünderungen und Entführungen. Oft bleiben die Flüchtlinge nahe der Grenzen und leben dort in spontanen, selbstorganisierten Siedlungen oder werden von der lokalen Bevölkerung aufgenommen. Doch mittlerweile betrifft die Situation auch die Grenzregion von Niger selbst. Bewaffnete Angriffe und Unsicherheit in der Region führen dazu, dass auch innerhalb des Landes die Menschen fliehen.

Nadine Biehler beschäftigt sich bei der Stiftung Wissenschaft und Politik mit Migration und Entwicklungszusammenarbeit.
Foto von SWP

Was ist mit denen, die weiterwollen?

Unter denen, die weiterziehen, sind Flüchtlinge, aber genauso Arbeitsmigranten, auch viele Saisonarbeiter. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen in Libyen bleiben und dort nach einem Job suchen und wie viele nach Europa weiterwollen. Aber das ist auf jeden Fall nur ein Bruchteil. Arbeitsmigration hat eine längere Tradition in der Region und der Großteil der Menschen – Arbeitsmigranten wie Flüchtlinge – bleibt auf dem afrikanischen Kontinent. Niger ist sehr arm. Die Menschen gehen von dort und aus anderen westafrikanischen Staaten schon länger nach Libyen, weil es dort besser bezahlte Arbeitsplätze gab und gibt. Durch die geografische Lage bietet sich Niger für viele Westafrikaner auf dem Weg nach Libyen an.

Wie sieht die Reise aus?

Lange Zeit war es möglich, legal und regulär durch Niger zu reisen, daher sind viele Migranten auch individuell gereist. Ab Agadez führt die Route durch die Wüste und wird gefährlich. Viele Reisende haben sich daher Konvois angeschlossen, die regelmäßig bis an die Grenze nach Libyen fuhren. 2015 gab es eine Gesetzesänderung, die die Situation verändert hat.

Wie sah diese Gesetzesänderung aus?

Niger ist Mitglied der ECOWAS, der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Innerhalb derer ist allen Staatsangehörigen eigentlich Bewegungsfreiheit garantiert. Diese Freizügigkeit hat Niger 2015 eingeschränkt. Die Durchreise ist – zumindest im nördlichen Teil des Landes – seitdem verboten. Mit dieser neuen rechtlichen Situation wurde es für die Menschen aus den Nachbarländern natürlich schwieriger.

Sind jetzt weniger Migranten unterwegs?

Dort, wo dies gemessen wird, sieht es so aus, als ob sich die Transitmigration in Niger Richtung Norden verringert hätte. Möglicherweise wählen die Menschen jetzt andere Routen, um nach Nordafrika zu kommen Es kann aber auch daran liegen, dass es durch die Eskalation der Gewalt schwieriger geworden ist, in Libyen Arbeit zu finden. Außerdem ist es gefährlicher geworden, von Libyen nach Europa zu kommen. Aber insgesamt ist schwer zu sagen, wie sich die Leute orientieren. Wir wissen viel zu wenig darüber, wie Migranten ihre Entscheidungen treffen.

Manche reisen trotzdem durch Niger. Wie machen sie das?

Dort, wo die Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde, müssen die Menschen jetzt mehr im Verborgenen reisen und dann auf Schmuggler oder Schleuser zurückgreifen. Sie bewegen sich oft nicht mehr auf den traditionellen Handelsrouten, sondern wählen abgelegenere Wege durch die Wüste, die oft gefährlicher sind. Dabei kommt es immer wieder zu Notlagen und zum Teil auch zu Todesfällen, beispielsweise wenn Proviant ausgeht oder Autos liegenbleiben. Die Gesetzesänderung bedeutet für die Migranten meist ein höheres Risiko und höhere Kosten.

Wer verdient an der Migration?

In erster Linie profitieren die Arbeitsmigranten selbst, wegen der Einkommensunterschiede. Wenn sie genug verdienen und Geld nach Hause schicken, kommt das auch ihren Familien zugute. In Städten wie Agadez waren die Migranten beziehungsweise ihre Verpflegung, Unterbringung und die Beförderung bis zur Grenze eine wichtige Einkommensquelle für viele. In Niger war dies ja lange Zeit erlaubt. Diese Dienstleistungen wurden aber mittlerweile durch das neue Gesetz kriminalisiert. Einige der Fahrer von Geländewagen wurden beispielsweise verhaftet, ihre Wagen beschlagnahmt. Wer trotzdem reist, muss häufig mehr bezahlen und mehr Gefahr in Kauf nehmen.

Eine Reportage aus Niger steht in der Ausgabe 8/2019 des National Geographic-Magazins. Einen Auszug daraus lesen Sie hier.

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