Niger – ein Land vor dem Sturm

Westafrika wird von Terrorismus und Krieg geprägt. Und ausgerechnet das ärmste Land gilt als Hort der Stabilität. Doch es brodelt auch hier.

Von Robert Draper
bilder von Pascal Maitre
Veröffentlicht am 24. Juli 2019, 14:50 MESZ
Fahrt von Agadez nach Libyen
Ein Konvoi aus Pickups begibt sich auf die beschwerliche dreitägige Fahrt von Agadez nach Libyen. Viele Passagiere auf den Ladeflächen wollen dort arbeiten; andere hoffen, nach Europa zu gelangen.
Foto von Pascal Maitre

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit rollen die ersten Pick-Ups am Kontrollpunkt vorbei und nehmen in der Wüste außerhalb der nigrischen Stadt Agadez Aufstellung. Die Passagiere quetschen sich hinein, bis zu 25 pro Wagen, jeder nur mit einer kleinen Tasche. Um sich vor dem Sand zu schützen, tragen sie Sonnenbrillen und Schals sowie dicke Jacken, um die eiskalten Nächte auf ihrer dreitägigen Fahrt nach Libyen zu überstehen.

Immer mehr Pick-ups treffen ein. Am Ende sind es mehr als hundert. Zwei Militärfahrzeuge rumpeln heran – eines wird an der Spitze fahren, das andere das Ende bewachen. Bei Einbruch der Nacht braust ein Schwarm Motorräder am Kontrollpunkt vorbei; auf den Rücksitzen verzweifelte Menschen, die noch einen Platz auf den überfüllten Pick-ups ergattern wollen.

Inmitten dieses hektischen Gewimmels kommt eines der Motorräder im wirbelnden Sand schleudernd zum Stehen. Selbst im Sitzen macht der Fahrer eine große, stattliche Figur. Mit seinem ungezähmten Bart und einem Zahnstocher zwischen den Zähnen schaut er mit einem strahlenden Lächeln auf das Gedränge. Seine gute Laune scheint irgendwie unpassend. Dann kichert er: „Reis mit Bohnen!“

Der Boss – wie ihn hier in Agadez alle nennen – redet nicht vom Essen. Vielmehr meint er die Zusammensetzung des Konvois. Da wäre der Reis: die vielen Hundert nigrischen Passagiere, Einheimische, die mit der allwöchentlichen Karawane auf Arbeitssuche nach Libyen fahren. Und dann wären da noch die anderen, die Bohnen – vielleicht sieben pro Fahrzeug –, die woanders herkommen und woanders hinwollen und aus völlig anderen Gründen mitfahren. Das ist das Rezept des Bosses. Man könnte sagen, er exportiert Bohnen. Viele Tausende seit seinem Einstieg in das Geschäft 2001, das er trotz des Verbots durch die nigrische Regierung im Jahr 2015 fortführt.

„Überall kennt man mich“, erklärt er. „Selbst im Internet findet man Bilder vom Boss mit Flüchtlingen.“ Er organisiert die Transsaharafahrt von Agadez in die zentrallibysche Stadt Sabha. Von dort bringt jemand die Flüchtlinge weiter nach Tripolis, bevor ein dritter Mittler sie über das Mittelmeer in den Westen übersetzt. Wo sie am Ende landen – in Italien, in den USA, in Abschiebehaft, zum Sterben in der Wüste oder zum Ertrinken im Meer –, liegt außerhalb der Zuständigkeit des Bosses.

Manche sehen in ihm nur einen Kriminellen. Der Boss, der wegen seiner zwielichtigen Operation seinen Namen nicht nennen will, sieht sich selbst als umtriebigen Unternehmer im Dienste der Öffentlichkeit. Vor allem aber ist der Boss ein Stabilisator in einer Region, in der es nur wenige solche Faktoren gibt. Was auf Außenstehende wie ein wildes Durcheinander wirkt, ist in Wahrheit ein System, das alle verstehen und von dem viele profitieren.

Da es illegal ist, ist es nicht das beste System. Aber es ist eine kreative Lösung angesichts der unumstößlichen Tatsache, dass um Niger herum das Chaos regiert. Es ist zwar ein Land mit unendlich vielen Missständen – bitterer Armut, einem Mangel an fruchtbaren Böden, der durch die Desertifikation noch verschlimmert wird, und einem instabilen politischen System –, aber anders als seine Nachbarn ist es kein Hort der Gewalt. Es ist ein Land, durch das man flieht. Keines, aus dem man flieht. Nigers Schicksal hängt davon ab, ob es das Chaos abwenden und eine gewisse Ordnung aufrechterhalten kann oder ob es ihm ganz verfällt.

Niger, umringt von fünf der größten Brutstätten extremistischer islamischer Gruppen – Algerien und Libyen im Norden, Mali im Westen, dem Tschad im Osten und Nigeria im Süden –, ist ärmer als sie alle und doch, bis jetzt, von allen das friedlichste Land. Wie es der US-Botschafter Eric Whitaker vorsichtig ausdrückt: „Niger ist ein gutes Land in einer rauen Nachbarschaft.“

Es scheint unter einigen Westmächten eine stillschweigende Übereinkunft zu geben: Wenn man Niger verliert, dann kann alles Mögliche passieren. Aus diesem Grund baute die amerikanische Luftwaffe am Stadtrand von Agadez einen Militärflugplatz, und aus diesem Grund sind US-Spezialeinheiten an Antiterroreinsätzen in Niger beteiligt. Aus diesem Grund beträgt der Anteil ausländischer Finanzhilfen an Nigers Budget 40 Prozent. Und aus diesem Grund trägt der Boss, indem er Westafrikaner über den ganzen Erdball schickt, auf paradoxe Weise zum Zusammenhalt einer Region bei, die ganz leicht aus den Fugen geraten könnte.

Trotz des Verbots des Menschenschmuggels wird Agadez schon wegen seiner geografischen Lage eine wichtige Transitstation für ausländische Durchreisende bleiben. Aber heute beherbergt es eben auch Gäste anderer Art. Die sogenannte Air Base 201 ist ein Luftwaffenstützpunkt im Besitz des nigrischen Staates, der von den USA gepachtet und von etwa 550 Angehörigen der U.S. Air Force bevölkert wird. Seine Existenz ist kein Geheimnis, doch die Amerikaner gehen hier sehr diskret vor. Man sieht sie, wenn sie in Agadez eine Schule wieder aufbauen oder in einem Dorf in der Nähe einen Brunnen anlegen, aber meistens bleiben sie auf dem Stützpunkt.

US-Pioniertruppen bauten eine anderthalb Kilometer lange Start- und Landebahn, die Wüstenbedingungen standhalten soll. Flugzeuge der Marken C-17 und C-130 werden die Piste nutzen, aber auch waffenbewehrte MQ-9-Drohnen, die nicht nur die Aktivitäten von extremistischen Gruppen überwachen, sondern diese auch angreifen sollen.

Nach Aussagen eines US-Verteidigungsbeamten wird Agadez selbst in aktuellen Risikoanalysen der Geheimdienste nicht erwähnt. Aber die Existenz einer Militärbasis und die Entfernung zur Grenze werden die Stadt nicht für immer schützen können.

Die Gespräche hinter den Lehmziegelwänden zeugen von wachsender Unzufriedenheit. Die jungen Männer zählen ihre erschöpften Möglichkeiten auf. Sie sind zur Schule gegangen, haben nach Arbeit gesucht, die Regeln eingehalten. Es gab nur wenige freie Stellen, einige haben für den Boss gearbeitet. Doch nachdem Freunde verhaftet und Pick-ups beschlagnahmt wurden, haben sie sich zurückgezogen. Jetzt warteten sie gemeinsam auf das, was da noch kommen kann.

Gleichzeitig hören sie von anderen jungen Männern, die sie beschwören: Du suchst Arbeit? Wir bezahlen. Du brauchst Geld, um zu heiraten? Wir bezahlen. Die YouTube-Videos und WhatsApp-Nachrichten der aus dem benachbarten Nigeria stammenden Dschihadgruppe Boko Haram machen die Runde.

Eines Abends bei einer fada – einem spontanen Beisammensein junger nigrischer Männer bei Tee und Kartenspielen – steigt ein besonders Geschäftstüchtiger, der früher als Importeur von Pick-up-Lkw gut verdient hatte, aber jetzt nur noch wenige Abnehmer fand, aus der Kartenspielrunde aus und grübelt verdrossen über sein Schicksal nach.

„So kann das nicht weitergehen“, sagt er leise. „Es wird der reinste Dschungel.“

Diese Reportage wurde gekürzt und bearbeitet. Lesen Sie den ganzen Text in Heft 8/2019 des National Geographic-Magazins!

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