Unterwegs mit Migranten

Auf seiner Wanderung von Afrika durch Asien bis nach Südamerika erlebt Paul Salopek eine historische Bewegung: Die Migration von Millionen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben.

Von Paul Salopek
Veröffentlicht am 23. Aug. 2019, 11:39 MESZ
Wanderung Paul Salopek
Äthiopien 2013: Auf den Spuren unserer Vorfahren. In Herto Bouri beginnen Paul Salopek (l.) und sein Guide Ahmed Elema den zweiten Tag der jahrelangen Wanderung. Von hier, in Äthiopien, brachen einst die ersten modernen Menschen auf, um schließlich die ganze Welt zu besiedeln.
Foto von John Stanmeyer

Seit fast sieben Jahren bin ich jetzt zu Fuß unterwegs. Ich brach in Herto Bouri im Norden Äthiopiens auf – dort befindet sich eine alte archäologische Stätte, an der man die steinernen Überreste von frühen Homo sapiens gefunden hat. Ich will die wichtigste Wanderung der Menschheit nachvollziehen: unsere erste Besiedlung der Erde während der Steinzeit. Ich berichte von dem, was ich auf meiner Reise beobachte – immer entlang dieser frühen Routen, auf denen wir den Planeten entdeckten. Anthropologen zufolge hat sich unsere Art vor 60000 Jahren zum ersten Mal aus Afrika hinausgewagt. Ohne Ziel, ohne Anhaltspunkt, bis sie irgendwann bis zur Spitze Südamerikas gelangte. Das ist auch die Ziellinie meiner Wanderung.

Bisher bin ich diesen vergessenen Abenteurern mehr als 16000 Kilometer weit gefolgt. Derzeit laufe ich durch Indien. Überall, wohin ich kam, waren sie schon da: Migranten.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass mehr als eine Milliarde Menschen innerhalb ihrer Länder oder über Grenzen hinweg unterwegs sind. Das ist einer von sieben Erdenbewohnern. Noch nie waren so viele auf der Flucht wie heute: vor Krieg, Verfolgung, Kriminalität, politischem Chaos, aber auch vor erdrückender Armut. Dieser gigantische neue Exodus wurde aber auch durch andere Entwicklungen in Gang gesetzt: ein globalisiertes Marktsystem, das soziale Sicherheitsnetze zerreißt; ein gefährlich gewordenes Klima und schnelllebige Medien, die menschliche Sehnsüchte hochpuschen.

Mit 25 Kilometern pro Tag schreite ich diese Welt ab. Oft mische ich mich dabei unter die Entwurzelten.

In Dschibuti habe ich mit Migranten an trübseligen Raststätten Tee getrunken. In Jordanien habe ich mit ihnen in staubigen Flüchtlingszel­ten der Vereinten Nationen geschlafen. Ich habe mir ihre Leidensgeschichten angehört, ich habe aber auch mit ihnen gelacht. Natürlich bin ich keiner von ihnen: Ich bin ein privilegierter Fuß­gänger. Ich habe eine Kreditkarte und einen Pass. Aber ich habe das Elend der Ruhr mit ihnen geteilt und bin viele Male von ihrem Erz­feind in Haft genommen worden: der Polizei. Eritrea, Sudan, Iran und Turkmenistan haben mir Visa verweigert; Pakistan hat mich hinaus­geworfen, dann wieder hereingelassen.

Hunger, Ehrgeiz, Angst, politischer Wider­stand: Die Gründe für Migration stehen nicht infrage. Die Frage ist auch nicht, ob man dieser Entwicklung mit Angst oder Mitgefühl begegnet. Denn unabhängig davon, wie wir uns dabei füh­len: Die neue Mobilität der Menschheit hat uns und die Welt schon jetzt verändert.

Die ersten Migranten, denen ich begegnete, waren tot. Sie lagen unter kleinen Steinhaufen im Großen Afrikanischen Grabenbruch. Wer waren diese Unglücklichen?

Das ist schwer zu ermitteln. Die ärmsten Menschen der Welt laufen von vielen Punkten aus los und kommen häufig im Afar­-Dreieck Äthiopiens ums Leben, einer der heißesten Wüsten auf der Erde. Sie wagen sich in dieses entsetzliche Ödland, um den Golf von Aden zu erreichen. Dort bildet das Meer das Tor zu einem neuen – wenn auch nicht immer besse­ren – Leben jenseits von Afrika: zu Jobs in den Städten und auf den Dattelplantagen der Ara­bischen Halbinsel, immer für Sklavenlohn. In manchen Gräbern der Migranten liegen zwei­fellos Somalier: Kriegsflüchtlinge. In anderen wahrscheinlich Deserteure aus Eritrea. Oder von der Dürre ausgemergelte Oromo aus Äthio­pien. Sie alle haben gehofft, heimlich über die unmarkierten Grenzen Dschibutis zu gelangen. Sie verirrten sich. Sie brachen unter der glü­henden Sonne zusammen. Manche verdurste­ten, da war das Meer in der Ferne schon zu sehen. Die erschöpften Menschen, die hinter ihnen kamen, begruben hastig die Leichen.

Eines Tages traf ich auf 15 magere äthiopische Männer, die sich im spär­lichen Schatten einiger Felsen ver­steckten. Sie versuchten, unsichtbar zu wirken, indem sie vollkommen reglos blie­ben. Die meisten waren Bauern aus dem äthio­pischen Hochland. Die jährlichen Regenfälle seien vollkommen unberechenbar geworden, erzählten sie. Auf ihren von der Sonne vertrock­neten Feldern zu bleiben hätte bedeutet, all­mählich zu verhungern. Dann lieber das Risiko des Afar­-Dreiecks auf sich nehmen, dieses Oze­ans aus weißem Licht, selbst wenn man nie daraus zurückkehrte. Auch sie sind eine Art Pioniere: die ersten Klimaflüchtlinge.

Laut einer Studie der Weltbank werden bis zum Jahr 2050 mehr als 140 Millionen Menschen in Subsahara, ­Afrika, Südasien und Lateinamerika unterwegs sein – keineswegs freiwillig, sondern wegen der verheerenden Auswirkungen des Klimawandels. In Äthiopien könnte die Zahl auf 1,5 Millionen Menschen anwachsen – mehr als 15­mal so viele, wie sich schon jetzt jedes Jahr durch das gefürchtete Afar­Dreieck kämpfen.

Die Gründe für den ersten Aufbruch der Menschheit aus Afrika lagen möglicherweise ähnlich. Forscher vermuten, dass damals ein drastischer Klimawandel und mörderische Hungersnöte dazu beitrugen, dass die Men­schen Afrika verließen.

Der Charakter eines Menschen spiegelt sich in seinem Gesicht. Doch wenn man über Kontinente wandert, lernt man, nach unten zu blicken. Man begreift, wie wichtig Füße sind.

Die Wahl der Schuhe (ebenso wie ihr Fehlen) sagt etwas über die persönliche Geografie eines Menschen aus: Wohlstand oder Armut, Alter, Art der Arbeit, Ausbildung, Geschlecht, Stadt versus Land. Die Legionen von Migranten weltweit kann man nach ihren Füßen klassifizieren. Wirtschaftsmigranten – jene Millionen Notleidender, die zumindest etwas Zeit zum Vorausplanen haben – scheinen den billigen chinesischen Unisex-Mehrzweck-Sneaker zu bevorzugen. Kriegsflüchtlinge, die vor Gewalt fliehen, müssen ihre Schreckenswege hingegen in Flip Flops, Slippern, hochhackigen Pumps oder sogar in Stiefeln antreten, die aus Lappen zusammengeschustert sind.

Sie fliehen aus brennenden Städten und verlassenen Dörfern. Sie ziehen die Schuhe an, die im Moment griffbereit herumliegen.Erdrückende Verzweiflung und Hilflosigkeit, das macht einen Kriegsflüchtling aus. Zumindest ist es das, was bei uns fast immer in den Medien ankommt. Als gebe es nur diese Standardaufnahme eines Kriegsvertriebenen: Kolonnen traumatisierter Seelen marschieren schweren Schrittes und mit hängenden Schultern eine staubige Straße entlang. Oder das Bild der zusammengedrängten Familie in einem lecken Boot, der Blick panisch nach irgendwo gerichtet. Doch diese Schnappschüsse vom Flüchtlingsleben – durch die Linse der reichen Welt gesehen – sind beschränkt, irreführend, wenn nicht sogar eigennützig.

Wochenlang bin ich in Jordanien durch den Staub von Zelt zu Zelt gegangen. Mindestens eine halbe Million Syrer vegetierten dort vor sich hin – nur ein Bruchteil der ungefähr zwölf Millionen Zivilisten, die vom blutigsten Bürgerkrieg im Nahen Osten vertrieben wurden. Krieg stiehlt die Vergangenheit und die Zukunft. Die Syrer konnten nicht zu den umkämpften Ruinen ihrer Häuser zurückkehren. Und niemand sonst wollte sie haben. Sie waren gestrandet.

Viele Schufteten illegal auf den Feldern. Ein mageres Auskommen fanden sie beim Tomatenpflücken, für umgerechnet 1,50 Dollar am Tag. Ich lief vorbei, sie winkten mich heran. Fröhlich gaben sie mir die Feldfrüchte ihrer Arbeitgeber zu essen. Sie flößten mir literweise Tee aus wildem Thymian ein. Sie schüttelten ihre dreckigen Decken aus und luden mich ein, mich zu setzen und auszuruhen.

Was immer Flüchtlinge sein mögen – sie sind auf keinen Fall machtlos.

Sie sind nicht die bevormundeten Opfer, als die sie im Leidensporno der politischen Linken üblicher Weise dargestellt werden.

Noch weniger ähneln sie den karikaturhaften Eindringlingen, die Rechtspopulisten fürchten: barbarische Horden, die kommen, um die Jobs und die Wohnungen, Sozialleistungen, Sexpartner und alles andere in den wohlhabenden Gastländern an sich zu reißen.

So schwarz oder weiß war es in der Geschichte noch nie: Seit neolithischen Zeiten haben Einwanderungswellen aus Zentralasien und dem östlichen Mittelmeerraum Europa und dessen früheste Bevölkerungen stark verwandelt. Ohne sie gäbe es den modernen „Europäer“ gar nicht.

Die Flüchtlinge, mit denen ich gewandert bin, sind Pharmazeuten, Ladenbesitzer und Intellektuelle. Also normale Leute, die versuchen, mit den spärlichen Möglichkeiten zurechtzukommen. In Erinnerung an ihre Toten legen sie die Hände vors Gesicht und weinen. Im nächsten Moment sind sie unglaublich stark und großzügig.

„Bitten kommen Sie, Mister“, flüsterte eine syrische Lehrerin in der Türkei und führte mich aus einem Klassenraum im Flüchtlingslager nach draußen an die Luft. Ihre Schüler hatten als Teil ihrer Therapie Enthauptungen und Hinrichtungen durch den Galgen gemalt. Sie hatte bemerkt, dass ich verstummt war. Sie sorgte sich um meine Gefühle.

Im Kaukasus rief mir eine armenische Flüchtlingsfamilie aus Syrien zu: „Bitte nicht hereinkommen!“ Ich wartete vor ihrem baufälligen Haus, während sie hastig ein Essen auf den Tisch brachten, das sie sich nicht leisten konnten. Ihr Haus hatte einmal Aserbaidschanern gehört, die nach dem Zerfall der Sowjetunion im Konflikt um Bergkarabach vertrieben worden waren. Die heimatlosen Aserbaidschaner traf ich 200 Kilometer später. In einem Flüchtlingslagercafé wiesen sie mein Geld zurück, als ich bezahlen wollte.

Die Flüchtlinge und Migranten der Welt fordern kein Mitleid von uns. Sie bitten nur um unsere Aufmerksamkeit. Sie bemitleideten mich, als ich weiterwanderte.

BELIEBT

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    „Darf ich mein Englisch üben?“, fragten die Teenager in Punjab letztes Jahr auf Kilometer 11300 meiner langsamen Wanderung über die brutheißen Nebenwege von Indiens Kornkammer. Fünf, zehn, 20 Jugendliche kamen täglich aus ihren Häusern und rannten los, um mich einzuholen, nachdem ich vorbeigegangen war. Schwitzend, keuchend, nicht an Sport gewöhnt, probierten sie ein paar Hundert Meter lang ihre englischen Wörter und Sätze aus, bis sie wieder abdrehten. Sie lernten für die Prüfungen des International English Language Testing System. Gute Ergebnisse waren entscheidend, um die Anforderungen für ein Visum für Neuseeland, Australien, Großbritannien, Kanada und die USA zu erfüllen. Diese Gespräche hatten nichts Unbekümmertes an sich, es waren Hausaufgaben. Die Fragen, die die Jugendlichen mir stellten, sind so alt wie die Steinzeit: „Wer sind Sie?“ „Woher kommen Sie?“ „Wohin gehen Sie?“

    In Faridkot, einer Stadt in einem Meer aus Weizen, bereiten ungefähr hundert private Englischschulen Zehntausende junge Inder darauf vor, ihre Heimat zu verlassen. Denn die Felder von Punjab sind vergeben, und Landwirtschaft hat wenig Zukunft. Die Schüler wollen sich den 150 Millionen Arbeitsmigranten anschließen. Die Gegend erlebt eine Entsiedelung, anders kann man es kaum sagen. „Die Einzigen, die bleiben, können es sich nicht leisten zu gehen“, sagte der Besitzer einer Sprachschule. Eine Auswanderung kostet durchschnittlich 14 000 Dollar. Das ist das 23-Fache eines mittleren Jahreseinkommens in Indien.

    Ich war gerade aus Zentralasien angekommen. Einer meiner Wandergefährten in Usbekistan stahl sich regelmäßig nach Kasachstan hinüber, um ohne Papiere auf Baustellen zu arbeiten. Er hatte Narben von Zusammenstößen mit der Polizei. In Kirgistan und Tadschikistan war ich Migranten begegnet, die nach Moskau zogen, um irgendwo an der Kasse zu sitzen oder in albtraumhaften Chemiefabriken zu schuften. Den Afghanen auf meiner Reise war jeder Kontinent recht, wenn sie nur dem Krieg entfliehen konnten.

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    Dennoch werden vermutlich die in ihrem Land bleibenden Menschen die Welt verändern. Und das sind viele. 139 Millionen Einwohner Indiens sind Binnenmigranten, die vor allem vom Land in die Städte ziehen. In China nähert sich diese Zahl einer Viertelmilliarde. In Brasilien, Indonesien, Mexiko: Überall ist es der gleiche Trend. Drei Viertel der Menschen, die über den Planeten ziehen, sind derzeit innerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen unterwegs. Neue Mittelklassen werden geboren, alte politische Dynastien geraten ins Wanken und die Megastädte werden immer größer.

    Ganze Systeme von Wissen etwa über die Landwirtschaft, über viele Jahrtausende auf­ gebaut, werden über Bord geworfen. Die Urba­nisierung bricht bestehende Normen auf, im Umgang mit dem anderen Geschlecht wie auch bei Religionen. Umweltressourcen werden ge­plündert. Es gibt Chaos, Verlangen, Gewalt, Hoffnung, Zerstörung, Aufbau, Experimente, erstaunliche Erfolge und Niederlagen. Nichts kann der beispiellosen Kraft der Sehnsucht im Weg stehen.

    Migranten wie sie werden den Kurs der Menschheit in diesem Jahrhundert lenken. Wie die junge Frau, die mich schon von Weitem kommen sah. Sie konnte kaum 18 sein. Sie wohnte in einem Dorf voller streunender Kühe in Bihar, einem der ärmsten Staaten Indiens. Ich war unterwegs nach Myanmar. Sie kam auf mich zu und schüttelte mir freimütig die Hand.

    „Hier ist es sehr, sehr langweilig“, erklärte mir das Mädchen nach einer Minute. „Meine Lehrer sind langweilig. Was machen Sie?“

    Ich lachte.

    In ihren Augen leuchteten Willen und Intel­ligenz. Schon bald würde sie den beschwerlichen Weg in eine von Indiens metastasieren­den Städten auf sich nehmen. Keine Mauer würde hoch genug sein, um sie zurückzuhalten.

    Wo wird sie landen? Und wo werden wir sein? Niemand weiß es. Auf unserer gemeinsamen Strecke zählt vor allem eins: weitergehen. Und keine Angst zu haben. Der Weg, der vor uns liegt, mag bergauf führen.

    Ich rate allen, darauf vorbereitet zu sein. Die Schuhe des Mädchens jedenfalls waren robust.

    Lesen Sie Paul Salopeks vollständige Reportage in Heft 9/2019 des National Geographic-Magazins!

    Paul Salopek ist National Geographic Fellow. Folgen Sie seiner Wanderung um die Welt auf outofedenwalk.org und natgeo.com. John Stanmeyer begleitet ihn zeitweise mit seiner Kamera.

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