Forscher rekonstruieren Ötzis fieberhaften letzten Aufstieg

Der Mann aus dem Eis starb vor 5.300 Jahren auf einem Bergpass durch einen Pfeilschuss. Nun können sich Forscher ein Bild seiner letzten Tage vor der Ermordung machen.

Von Megan Gannon
Veröffentlicht am 1. Nov. 2019, 11:48 MEZ

Verletzt – und möglicherweise verfolgt – verbrachte Ötzi seine letzten Tage hoch in den Alpen, bis ihn ein Pfeil in den Rücken traf. Etwa 5.300 Jahre später enträtseln Archäologen noch immer das Mysterium seines Todes. Eine neue Analyse von Moosrückständen am Ort seines Todes könnte nun Details über seinen letzten verzweifelten Aufstieg enthüllen.

1991 fanden Wanderer in den Ötztaler Alpen die Gletschermumie nahe der italienisch-österreichischen Grenze. Seither haben Forscher mehr als 60 Tattoos auf Ötzis Haus entdeckt und herausgefunden, dass er einen Fellmantel aus Schaf- und Ziegenhäuten trug. Vor Kurzem entdeckten sie seinen verlorenen Magen und konnten aus dessen Inhalt schließen, dass Ötzi nur Stunden vor seinem Tod ein letztes Mahl aus Einkorn und Trockenfleisch von Hirsch und Alpensteinbock gegessen hatte. Sie zeigten, dass der Mann in seinen Vierzigern vermutlich an Magenschmerzen litt, als er starb, und eine schwere Verletzung an der rechten Hand aufwies: Zwischen Daumen und Zeigefinger zog sich ein Einschnitt fast bis zum Knochen.

Darüber hinaus haben die Forscher bisher aber auch 75 Arten von Laubmoosen an und rund um Ötzi dokumentiert. Diese kleinen Pflänzchen könnten nun neue Details über die letzten Tage des Manns vom Tisenjoch offenbaren – die augenscheinlich von einer hastigen Flucht und Gewalt geprägt waren.

Mit einer neuen Analyse, die in „PLOS ONE“ erschien, zeigen Forscher, dass etwa 70 Prozent der Laubmoose an Ötzis Fundort nicht von dort stammten. Viele der Moose kommen in deutlich niedrigeren Höhenlagen südlich der Ötztaler Alpen vor. Wie also gelangten diese pflanzlichen Überreste an Ötzis Fundstelle im Tisenjoch auf eine Höhe von etwa 3.210 Metern? Mit der Beantwortung dieser Frage rekonstruierten die Forscher seine letzte Reise: ein chaotischer Auf- und Abstieg, bei dem er binnen zwei Tagen hunderte Höhenmeter überwand.

Das Moos-Mysterium

James Dickson, ein im Ruhestand befindlicher Professor für Archäobotanik der University of Glasgow und Hauptautor der neuen Studie, forscht seit 1994 an Ötzi. Damals erhielt er Proben organischer Materialien von der Fundstelle der Gletschermumie. Er sei sofort fasziniert gewesen, als er darunter auch Glattes Neckermoos (Neckera complanata) entdeckte, sagt er. Diese Moosart wurde früher dazu benutzt, Boote und Holzhütten abzudichten.

Das Neckermoos fand sich in recht großer Menge an der Fundstelle und Ötzis Kleidung. Womöglich befand es sich im Gepäck des Mannes, auch wenn sein Zweck noch immer unklar ist. Nutzte er es zur Wärmedämmung? Als Toilettenpapier? In jedem Fall wächst die Spezies nur in tieferliegenden Bereichen und half den Forschern deshalb dabei, Ötzis letzte Reise nachzuvollziehen.

„Das war eine ziemlich ungewöhnliche Situation, diesen ermordeten Menschen so hoch in den Alpen zu finden“, sagt der Anthropologe Albert Zink. Er leitet die Forschungen an Ötzi am Institut für Mumienforschung des Eurac Research-Zentrums im italienischen Bolzano, war an der aktuellen Studie aber nicht beteiligt. „Niemand konnte so wirklich sagen, warum er dort oben war.“

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BELIEBT

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    In Ötzis Magen fanden die Forscher zuvor nicht nur Reste seiner Mahlzeit, sondern auch Spuren von Pollen aus der Umgebung, in der er seine letzten Tage verbracht hatte. Mit Hilfe dieser Rückstände konnten sie unter der Leitung des Archäobotanikers Klaus Oeggl von der Universität Innsbruck eine grobe Route seiner letzten Reise erstellen. Oeggl wirkte auch an der aktuellen Studie mit.

    Proben aus Ötzis Enddarm und dem hinteren Abschnitt seines Dickdarms, die Aufschluss über die älteste Nahrung in seinem Verdauungstrakt geben, wiesen Spuren von Kiefern- und Fichtenpollen auf. Etwa 33 Stunden vor seinem Tod muss sich Ötzi also in einem Wald nahe der Baumgrenze in etwa 2.500 Metern Höhe aufgehalten haben. Im mittleren Teil seines Dickdarms fanden Forscher dann allerdings Pollen von Hopfenbuchen und anderen Bäumen, die nur in niedriger gelegenen Wäldern wachsen. Ötzi muss 9 bis 12 Stunden vor seinem Tod also wieder auf 1.200 Meter oder weniger abgestiegen sein – womöglich in ein Tal. Danach, so zeigen es die Pollenspuren, stieg er wieder auf und verspeiste seine letzte Mahlzeit in einem subalpinen Nadelwald, bevor er weiter ins Tisenjoch hinaufstieg, wo er getötet wurde.

    Allerdings konnten die Wissenschaftler nicht eindeutig sagen, ob Ötzis letzter Abstieg an den Südhängen im heutigen Italien oder im Norden in Österreich erfolgte. Zu Ötzis Fundstelle führen nur eine Handvoll möglicher Wege in der rauen, zerklüfteten Landschaft.

    „Wir wussten einfach nicht genau, wo er langgegangen war“, sagt Oeggl.

    Pflanzen aus anderen Gefilden

    Für ihre neue Studie berief sich Dicksons internationales Forscherteam auf umfassende botanische Untersuchungen der Region. Die Wissenschaftler kartierten das Verbreitungsgebiet sämtlicher Moose, die in Ötzis Verdauungstrakt und den Sedimenten rund um seine Fundstelle entdeckt wurden. (In den letzten 5.000 Jahren hat sich die Verteilung dieser Pflanzen in den Alpen nicht maßgeblich verändert.)

    Etwa 70 Prozent der Laubmoosarten an Ötzis Fundstelle wachsen nicht in der sogenannten nivalen Stufe – der letzten Vegetationsstufe in Gebirgen, die in den Alpen auf etwa 3.000 Metern beginnt. Einige der botanischen Eindringlinge könnten vom Wind oder von Tieren wie Schafen und Vögeln an die Fundstelle getragen worden sein. Aber den Forschern zufolge gab es einige Moose aus niedrigeren Bereichen, die nur von Ötzi selbst dorthin gebracht worden sein können. „Die Entfernung ist einfach so groß, dass es keine andere Erklärung dafür gibt“, sagt Oeggl.

    Einige der Moose von Ötzis Fundstelle – darunter auch das Glatte Neckermoos – wachsen im Schnalstal, einer Schlucht in südlicher Richtung auf italienischem Boden. In den Tälern nördlich der Fundstelle kommt es hingegen nicht vor. Dicksons Karte lässt daher den Schluss zu, dass Ötzi auf seiner Reise ins Schnalstal hinabstieg, ehe er zu seinem letzten Aufstieg ansetzte. Womöglich streifte er im Tal an moosbewachsenen Flächen entlang oder sammelte die Pflanzen ganz bewusst ein, um seine Schuhe damit auszupolstern oder seine Wunden zu versorgen. Bei seinem Abstieg gelangte Ötzi womöglich bis zum Boden des Vinschgaus auf etwa 800 Metern Höhe. Dort könnte er Torfmoos der Art Sphagnum affine gesammelt haben. Dickson spekuliert, dass Ötzi vielleicht um die antiseptischen Qualitäten des Mooses wusste und es nutzte, um die tiefe Wunde an seiner Hand zu versorgen.

    Die Ergebnisse passen auch zu den bisherigen Erkenntnissen darüber, dass Ötzi hauptsächlich Verbindungen gen Süden hatte. Isotopenanalysen deuteten beispielsweisedarauf hin, dass er im südlichen Teil der Alpen aufwuchs und die letzten Monate seines Lebens dort verbrachte, sagt Zink.

    Auch laut Ursula Wierer, einer Archäologin der Landesabteilung für Archäologie in Florenz, „gibt es viele Belege dafür, dass der Mann aus dem Eis an der Südseite der Alpen lebte und von dort aus seinen Aufstieg dorthin begann, wo er verstarb“. Wierers jüngste Analyse von Ötzis Werkzeugen lässt darauf schließen, dass er unvorbereitet angegriffen wurde und seine eigenen Waffen reparaturbedürftig waren. Die neue Studie, an der sie nicht beteiligt war, ist ihr zufolge ein weiterer Beleg für Ötzis hektisches Ende und „zeigt erneut die Bedeutung archäobotanischer Studien für die Rekonstruktion der letzten Tage des Mannes aus dem Eis“.

    Spuren so alter Laub- und Lebermoose lassen sich nur in außergewöhnlich gut erhaltenen Kontexten untersuchen, beispielsweise in anaeroben Mooren oder, wie in Ötzis Fall, eisigen Gebirgspässen. Deshalb sind sie „in der Archäobotanik sehr selten“, sagt Logan Kistler, der Kurator für den Bereich Archäobotanik und Archäogenomik am Smithsonian National Museum of Natural History. „Sie produzieren keine Samen oder Pollen, die in archäologischen Fundstellen erhalten bleiben. Sie sind ziemlich kurzlebig.“ Die neue Studie sei Kistler zufolge deshalb „ein gutes Beispiel dafür, wie ungewöhnlich die Ötzi-Fundstelle ist“.

    „Das ist einer dieser außergewöhnlichen Fälle, der das Leben der Vergangenheit für uns greifbar macht.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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