Hungersnöte und das Spiel mit der Macht: Wie der Brotpreis im Mittelalter die europäische Geschichte beeinflusste

Heute sind Hungersnöte in Europa fast vergessen. Doch vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert bestimmten sie wesentlich die politische Ordnung. Eine Schlüsselrolle hatte dabei vor allem der Preis für Brot.​

Von Marius Rautenberg
Veröffentlicht am 22. Nov. 2022, 10:46 MEZ
Gemälde: Der Triumph des Todes

Mit dem Ölgemälde „Der Triumph des Todes“ zeigt der niederländische Maler Pieter Breugel der Ältere die Schrecken, durch die seine Generation ging, circa 1562.

Foto von Pieter Breugel der Ältere

Fast 200 Jahre lang, bis 1978, war der Brotpreis in Frankreich staatlich festgelegt – ein Relikt der Französischen Revolution und aus Zeiten, in denen die Versorgung mit Brot für die Stabilität der öffentlichen Ordnung entscheidend war. „Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert war der Preis des Brotes die Schlüsselgröße für die europäische Geschichte. Ging er nach oben, so kam es zu Hungeraufständen“, so Professor Volker Reinhardt, Historiker der Universität Freiburg in der Schweiz. „Brot war Grundnahrungsmittel. Das Überleben von 60 bis 70 Prozent der Menschen hing davon ab.“

Hungersnöte ab dem 14. Jahrhundert

Dabei war die Versorgungslage in Europa im Hochmittelalter verhältnismäßig gut. Eine Warmzeit ab dem 8. Jahrhundert sorgte für ideale landwirtschaftliche Bedingungen. Die Ernteerträge stiegen, was im 11. Jahrhundert einen Boom der Städte auslöste. Zuvor gab es abseits alter antiker Siedlungen nur wenige größere Zentren. Nun entstanden große gotische Kathedralen, die Bevölkerungszahlen gingen steil nach oben. Doch im 14. Jahrhundert endete diese Blütephase. 1315 bis 1317 kam es auf großen Teilen des Kontinentes zu einer ersten schweren Hungersnot mit Millionen Todesopfern, ausgelöst durch starke Regenfälle und kalte Witterungsbedingungen.

Einen harten Einschnitt bildete der Ausbruch der Pest 1347, durch die in den folgenden Jahren mindestens ein Drittel der Bevölkerung Europas ums Leben kam. Die Bauern bestellten ihre Felder nicht mehr, was die Versorgung weiter verschlechterte. In den folgenden Jahrhunderten war die Pest regelmäßiger Begleiter der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Gesellschaft – oft verbunden mit Hungersnöten.

„Von da an leben die Städte und auch die Landbevölkerung Europas in einem Terrorrhythmus“, meint Reinhardt. „Alle zehn bis fünfzehn Jahre kam es zu verheerenden Missernten.“ Zur Erntezeit im Sommer blickten alle gebannt auf die Felder. „Die Obrigkeiten mussten Schauveranstaltungen abhalten. Selbst wenn die Lage kritisch war, versucht man das so lange wie möglich zu verbergen. Man ließ Getreide zur Beruhigung der Massen in größeren Mengen auf den Marktplätzen auffahren, um Panikreaktionen zu vermeiden.“

Besonders heikel war die Versorgung der Städte: Um die großen Zentren wie Paris, Florenz, Brügge oder London zu versorgen, ließen die Herrschenden Getreide aus dem Umland beschlagnahmen. In Krisenzeiten zogen tausende Menschen vom Land in die Stadt, was die Situation noch explosiver werden ließ. Die Folge waren Plünderungen, Aufstände und Gewalt. Ein Jahr lang ließen sich Ernteausfälle mit Getreidevorräten meist noch kompensieren. Doch mit den ungünstigeren klimatischen Bedingungen folgten vor allem ab dem 15. Jahrhundert oft mehrere schlechte Jahre aufeinander.

1789 begehrte das französische Volk gegen die Obrigkeit auf. Ursache waren die hohen Brotpreise und der verschwenderische Luxus der gehobenen Stände. Das Gemälde von Bernard-René Jordan de Launay zeigt den Sturm auf die Bastille.

Foto von Bernard-René Jordan de Launay

Ein Jahrzehnt der Krankheiten, des Hungers und der Kriege

Um das Volk ruhig zu halten, ordneten die Obrigkeiten oft Obergrenzen für Brotpreise an – nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Die Getreidehändler des Spätmittelalters und der Neuzeit handelten bereits über Landesgrenzen hinweg. Sie exportierten ihre Vorräte in Länder, die höhere Preise anboten. In anderen Fällen wurden Bäcker gezwungen, ein oder zwei Jahre mit Verlust zu arbeiten. Deren Versuche, die Preiskontrollen zu umgehen, wurden teils drakonisch bestraft. So gibt es Berichte von einem Pariser Bäcker, der um das Jahr 1500 herum, lediglich mit einem Hemd bekleidet, vor der Kirche Notre Dame ausgepeitscht wurde und Abbitte leisten musste. 1722 musste ein Kollege mehrere Tage eingemauert in seiner Bäckerei ausharren, weil eines seiner Brote angeblich einige Gramm zu wenig wog.

Besonders angespannt war der Zugang zu Lebensmitteln in Kriegszeiten. Während des Hundertjährigen Kriegs konnten in Frankreich ganze Landstriche nicht geordnet versorgt werden. In den Jahren 1431 bis 1441 fiel der Konflikt mit ausgesprochen kalten und langen Wintern zusammen, der in ganz Europa die Brotpreise in die Höhe steigen ließ. Vielerorts aßen die Menschen verdorbenes Getreide, was vermutlich Vergiftungen durch den Mutterkornpilz verursachte. Die 1430er Jahre waren eine Dekade voller Krankheiten, Hunger und Kriegen.

Auch die kommenden Jahrhunderte brachten keine wesentliche Entspannung der Lage. Was die Lebensmittelversorgung anging, so bildeten „Mittelalter und Neuzeit eine Einheit“, meint Reinhardt. Erst im 18. Jahrhundert setzten sich Düngung, technische Innovationen und die Gemüsesorten aus Südamerika, darunter vor allem Kartoffeln, Tomaten und Mais, in der Landwirtschaft durch. In den Jahrhunderten zuvor hatten die Speisepläne der Armen vor allem aus Brot bestanden, kombiniert mit Eintöpfen aus Gemüse, gelegentlich auch billigem Fisch oder Abfallfleisch. Das gute Fleisch war den Wohlhabenden vorbehalten, es war quasi das Statussymbol der Reichen. Nichtsdestotrotz kam bis ins 19. Jahrhundert hinein weiterhin regelmäßig zu Hungersnöten und Brotrevolten, wie etwa im großen Hungerwinter in Frankreich 1709. Als 1789 die Brotpreise wieder in die Höhe schnellten, folgte die Französische Revolution.

 

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