Uralte Kunstschätze: Die 3 spektakulärsten Funde der schwäbischen Eiszeithöhlen

Die ältesten Musikinstrumente der Welt und die älteste Darstellung eines Menschen – unzählige Funde aus den Höhlen im schwäbischen Ach- und Lonetal geben faszinierende Einblicke in die Kunst- und Musiktradition vor 40.000 Jahren.

Von Heidrun Patzak
Veröffentlicht am 26. Juli 2023, 15:03 MESZ
Venus vom Hohle Fels

Die "Venus vom Hohle Fels" wurde im September 2008 im Hohle Fels bei Schelklingen entdeckt.

Foto von Urmu 2014 - Hannes Wiedmann CC BY-SA 4.0

Sie stellten einfache Steinwerkzeuge her, jagten, sammelten, pflanzten sich fort: Das Leben unserer steinzeitlichen Vorfahren ist in den Köpfen der meisten Menschen einfach und genügsam. Ziemlich sicher entspricht dieses Bild aber nicht der historischen Realität. Beweisen können Forscher das anhand der spannenden Zeugnisse, die in den letzten Jahrzehnten über die Steinzeitkultur zu Tage gebracht wurden – und zwar direkt vor unserer Haustür: in den Höhlen im Ach- und Lonetal auf der schwäbischen Alb.

Im Jahr 2017 wurden diese Höhlen von der Unesco zum Welterbe „Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“ ernannt, und jedes Jahr machen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen dort spektakuläre archäologischen Funde. Viele davon stammen aus dem Aurignacien, einer Kulturepoche des Homo sapiens im Jungpaläolithikum, die vor 40.000 Jahren in der Schwäbischen Alb begann. Die Geschichten, die diese Fundstücke erzählen, werfen ein völlig neues Licht auf die Gedankenwelt der Steinzeitmenschen.

„Vereinfacht kann man sagen: Ja, es gab eine Kunstszene in der Steinzeit“, erklärt Prof. Nicholas Conard von der Uni Tübingen. In dem Buch „Als der Mensch die Kunst erfand“ geben er und Claus Joachim Kind tiefe Einblicke in die archäologische Forschung und das Leben der Menschen in der eiszeitlichen Welt. National Geographic hat mit ihm über die herausragenden Funde aus den schwäbischen Höhlen gesprochen.

BELIEBT

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    „Venus vom Hohle Fels“: Die vielleicht älteste Darstellung eines Menschen

    Im Jahr 2008 fanden Archäologen neun zusammengehörige Bruchstücke in der Karsthöhle Hohle Fels nahe Schelklingen. Als sie sie vorsichtig zusammenfügten, erlebten die Forscher eine echte Überraschung, denn heraus kam eine 6,6 Zentimeter große Frauenfigur. „Es könnte sich hier um die älteste auf der Welt existierende Darstellung eines Menschen handeln“, erklärt Prof. Conard, der damals Leiter der Ausgrabungen war. Das Besondere an der Figur: Statt eines Kopfes steht ein Ring hervor, was nahelegt, dass sie regelmäßig getragen oder zum Betrachten und Berühren aufgehangen worden war. 

    Die Interpretation des üppigen Frauenkörpers von der „Venus vom Hohle Fels“ liegt auf der Hand: Sie gilt als Symbol für Fruchtbarkeit und Überfluss.

    Foto von Ramessos, VenusHohlefels2, CC BY-SA 3.0

    Die Existenz dieser Figurine sorgte für eine kleine Revolution innerhalb der Forschung über das europäische Jungpaläolithikum. Bisher wurden Frauenfiguren wie die berühmte „Venus von Willendorf“ in das Gravettien datiert, also etwa 25.000 bis 30.000 Jahre vor heute. Die „Venus vom Hohle Fels“ ist damit mehrere tausend Jahre älter. „Sie ist deshalb wissenschaftlich so bedeutend, weil man bis dahin aus dem Aurignacien nur Darstellungen von Tieren kannte.“ Die figürliche Kunst war in dieser Epoche also deutlich vielfältiger, als bis dahin angenommen. „Mittlerweile haben wir Fragmente einer zweiten Frauendarstellung entdeckt“, berichtet Prof. Conard. In der archäologischen Forschung wird die „Venus vom Hohle Fels“ inzwischen als Zeugnis für den Beginn einer altsteinzeitlichen Tradition gedeutet, die Frauenfiguren als Hauptmotive der damaligen Kunst verwendete.

    Das älteste Musikinstrument der Welt: Die Gänsegeierflöte vom Hohle Fels

    Nur 70 Zentimeter von der Frauenfigurine entfernt konnte im gleichen Jahr ein weiterer sensationeller Fund gemacht werden: Die am besten erhaltene Flöte aus dem Aurignacien, und damit eines der ältesten Musikinstrumente der Welt. Die aus 12 Fragmenten zusammengesetzte Flöte misst 21,8 Zentimeter. Ihre fünf Grifflöcher wurden sorgfältig in den Knochen eines Gänsegeiers geschabt, wodurch sich schärfere Kanten erzeugen ließen. Das wiederum machte es für die steinzeitlichen Musiker leichter, die Luftsäule zu verkürzen und verschiedene Tonhöhen zu erzeugen, was ihnen viel musikalischen Gestaltungsspielraum ermöglichte, erklärt Prof. Conard. „Die Flöte aus einem Gänsegeierknochen beweist, dass es schon vor 40.000 eine musikalische Tradition gab, die sehr bedeutend und hochwertig war.“ Neben der berühmten „Hohle Fels Flöte 1“ wurden außerdem auch Bruchstücke von Mammutelfenbeinflöten gefunden. Wie die Flöten klangen, lässt sich ebenfalls genau sagen, denn sie konnten von experimentellen Archäologen sehr gut nachgebaut werden.

    Derzeit wird die Gänsegeierflöte im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren ausgestellt.

    Foto von Magalex, Gänsegeierflöte vom Hohlefels 2, CC BY-SA 4.0

    Halb Mensch, halb Tier: Der Löwenmensch

    Geradezu mystisch wirkt der etwa 40.000 Jahre alte Löwenmensch aus der Stadel-Höhle. Bereits 1939 wurden Fragmente davon gefunden, die lange ein Dasein in Kisten fristeten. Bis zum Jahr 2013 kamen teils aus Privatfunden und teils aus weiteren Grabungen Fragmente hinzu, so dass die Figur mehrmals restauriert und neu zusammengesetzt wurde. Das Besondere an ihr ist nicht nur ihre Größe von 31,1 Zentimetern sondern vielmehr das, was sie darstellt: Der Kopf und die Pranken eines Höhlenlöwen sitzen auf einer Figur mit aufrechtem Stand und menschlichen Beinen. 

    Ob der Löwenmensch einen Mann oder eine Frau darstellt, darüber war sich die wissenschaftliche Welt lange uneins. Neueste Erkenntnisse nach der dritten Zusammensetzung im Jahr 2013 legen jedoch nahe, dass es sich bei der Figur eher um einen Löwenmann handelt, als eine Löwenfrau.

    Foto von Dagmar Hollmann, Loewenmensch1, CC BY-SA 3.0

    „Der Löwenmensch ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass nicht nur Löwen, Pferde, Bären und Mammuts abgebildet wurden – also Sachen, die Menschen damals aus der Realität kannten – sondern auch Dinge, die nur in der Gedankenwelt der Menschen existierten“, erklärt Prof. Conard. Geschnitzt wurde die Figur aus einem Mammutstoßzahn, sogar der Nervenkanal des Stoßzahns ist noch zu erkennen. Die Mundpartie der Figur wurde mit einem Feuersteinmesser so fein ausgearbeitet, dass beinahe ein Lächeln auf dem Gesicht zu erkennen ist. Überhaupt zeigt der Löwenmensch auffällige Verzierungen: Waagrechte Kerben, die in den linken Oberarm eingearbeitet sind, lassen etwa auf eine stilisierte Tätowierung oder Schmucknarben schließen. Ob der Löwenmensch einen Schamanen oder womöglich ein gottähnliches Wesen darstellt, kann nicht eindeutig geklärt werden. „In jedem Falle ist er ein guter Beleg für eine frühe Form von Religion oder für ein Glaubenssystem auf unserer Erde“, so Conard. Zudem zeuge die Figur von den überraschenden intellektuellen Fähigkeiten unserer steinzeitlichen Vorfahren.

    1996 begann Prof. Nicholas J. Conard PhD mit der Geländearbeit im Ach- und Lonetal und ist seitdem jedes Jahr bei Ausgrabungen beteiligt. Er ist Leiter der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen.

    Foto von Marc Steinmetz / VISUM

    Jimi Hendrix und Michelangelo der Steinzeit

    Besagte intellektuelle Fähigkeiten sind aber nicht das Einzige, das die sensationellen Funde aus den schwäbischen Eiszeithöhlen über den Lauf der Jahre enthüllten. „Wir haben mehrfache Varianten von den Flöten gefunden, so dass wir allein bezogen auf die Flöten von orchesterartigen Verhältnissen ausgehen können“, berichtet Conard. Das lege nahe, dass etwa auch geklatscht, gesungen, getanzt und rhythmische Instrumente wie Trommeln eingesetzt wurden. „Wenn man bedenkt, dass eine Höhle fantastische akustische Bedingungen bietet, es darin komplett dunkel ist, vielleicht gibt es nur eine kleine Lampe in einer Schale mit etwas Öl, sind auch Schattenspiele denkbar.“ Conard ist überzeugt davon, dass die Musik auch schon während der Steinzeit dazu diente, „die volle Bandbreite der Emotionen und Leidenschaft auszudrücken, und dass es sicher auch damals schon Talente wie Jimi Hendrix oder Aretha Franklin gab.“ 

    Gleiches gelte auch für die figürliche Kunst: „Die Qualität der Skulpturen und Wandmalereien der Steinzeit ist fantastisch. Aus meiner Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Michelangelo und den Menschen, die die Kunstwerke der Steinzeit erschaffen haben. Sie hatten die gleichen Fähigkeiten wie wir heute. Man könnte jemand aus dem Aurignacien in die heutige Zeit bringen, und er oder sie würde zurechtkommen“, so Conard. Deshalb könne man auch durchaus von den Anfängen unserer Kultur sprechen, die in den Höhlen auf der schwäbischen Alb entdeckt wurden. 

    “Aus meiner Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Michelangelo und den Menschen, die die Kunstwerke der Steinzeit erschaffen haben.”

    Prof. Nicholas J. Conard PhD

    Ein Vorteil gegenüber dem Neandertaler?

    „Es gab also eine Musikszene und sehr wahrscheinlich auch eine Kunstszene, mit einem gewissen Anteil an Glauben und Religion“, erklärt Conard. Ob das vielleicht der Grund ist, wieso sich der moderne Mensch gegenüber dem zur gleichen Zeit lebenden Neandertaler in der Evolution durchsetzte? Für Conard liegt die Antwort auf die Frage eher in einem anderen Bereich: „Symbolische Kommunikation spielt eine bedeutende Rolle. Neandertaler lebten in der Regel in relativ kleinen Gruppen, in denen ein komplexes Sprachvermögen nicht zwingend notwendig war.“ Anders verhielt es sich beim Homo sapiens, der es schaffte, mehr gesunden Nachwuchs auf die Welt zu bringen, und dadurch die demographische Überhand gewann. Eine Rolle spielte dabei nicht nur eine verbesserte Ernährung, sondern auch der Beginn der Hebammenkunst. Mehr Menschen bedeutete aber auch, dass die Kommunikationsfähigkeit weiterentwickelt werden musste. 

    Die Schnauze des berühmten Löwenmenschen zeigt faszinierende Details der eiszeitlichen Kunst.

    Foto von Muehleis/LAD Esslingen

    Symbolik und Kommunikationsfähigkeit könnten also als eine Art Klebstoff für den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe gedient, und so zum Erfolg des Homo sapiens beigetragen haben. „Es gibt keine Kultur auf dieser Welt ohne ein Glaubenssystem, ohne Kunst oder Musik. Das ist universal. Und das ist im evolutionären Sinne ein echter Vorteil.“ Die Arbeit für Prof. Conard und sein Team ist natürlich nicht abgeschlossen, denn jedes Jahr wird in den schwäbischen Eiszeithöhlen weiter gegraben und geforscht. Funde gibt es dabei ständig, und einmal im Jahr werden sie einem interessierten Publikum und der Presse vorgestellt. Am 27. Juli 2023 zeigt Prof. Conard im urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren (urmu) den Fund des Jahres 2022. So viel kann bereits verraten werden: Es handelt sich um ein neues Kunstwerk, das zweifellos wieder weitere, spannende Einblicke in das Leben und Wirken der Menschen während der Steinzeit ermöglicht.

     

    Das National Geographic Magazin 7/23 ist seit dem 22. Juni im Handel erhältlich.

    Foto von National Geographic

    Faszinierende Zeugnisse einer alten Kultur konnte auch Abenteurer und Fotograf Thomas Peschak auf seiner Expedition in den Nationalpark Chiribiquete dokumentieren. Lesen Sie mehr dazu im NATIONAL GEOGRAPHIC MAGAZIN 07/23. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis! 

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