Wie Nächstenliebe zum Beweis der Urknalltheorie beitrug

Der in Deutschland geborene Nobelpreisträger Arno Penzias veränderte unser Verständnis vom Universum. Dass es dazu kam, ist einem anonymen Wohltäter zu verdanken, der Penzias Familie zur Flucht aus dem Dritten Reich verhalf – ohne sie zu kennen.

Von Katie Sanders
Veröffentlicht am 11. Sept. 2023, 16:42 MESZ
Physiker, Radioastronom und Nobelpreisträger Arno Penzias 1985

Der Physiker, Radioastronom und Nobelpreisträger Arno Penzias – hier zu sehen im Jahr 1985 – entdeckte die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung, ein Echo des Urknalls. Damit trug er dazu bei, die am besten belegte Theorie über die Entstehung unseres Universums aufzustellen.

Foto von Arnold Newman, via Getty Images

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ging der deutsche Einwanderer Leo Gelbart in der Stadt Belleville, New Jersey, von Tür zu Tür. Der 28-Jährige hatte einen verzweifelten Appell an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde. 

„Diese Familie muss aus Deutschland herauskommen, und ich habe nicht genug Geld, um ihr zu helfen. Können Sie das?“, fragte er auch den Besitzer eines Farbengeschäfts. Er zeigte ihm ein Schwarz-Weiß-Foto von seinen Freunden in München: ein Paar namens Karl und Justine Penzias mit ihren Söhnen Arno und Günther, sechs und vier Jahre alt. Die Verfolgung und Internierung von Juden durch die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler zwangen die Familie zur Flucht. Doch um nach Amerika einwandern zu können, brauchten sie mehrere eidesstattliche Erklärungen, die belegten, dass sie Verwandte und ein finanzielles Sicherheitsnetz in den Vereinigten Staaten hatten. Gelbart erfüllte die erste Bedingung, indem er fälschlicherweise angab, sein Freund Karl Penzias sei sein Cousin. Doch als Kellner hatte er nicht genug Geld, um als Sponsor der Familie in Frage zu kommen. Also suchte er jemanden, der bereit war, diese Rolle zu übernehmen.

Der 52-jährige Geschäftsinhaber sagte seine Hilfe zu. „Ich werde die Familie gerne unterstützen, bis sie sich selbst versorgen kann“, schrieb er in seiner Erklärung. Aus Deutschland ließ ein zutiefst dankbarer Karl Penzias dem Fremden über seinen Freund ausrichten, dass seine Familie dessen Unterstützung wirklich nur auf dem Papier benötige und versprach, die zugesagte Hilfe nie in Anspruch zu nehmen. 

Arno Penzias – vom Geflüchteten zum Nobelpreisträger

Heute lebt Arno Penzias, der ältere der beiden Jungen auf dem Foto, in Nordkalifornien – als Radioastronom und Nobelpreisträger im Ruhestand. Er wurde 1933, dem Jahr, als Hitler an die Macht kam, in München geboren. 1938 wurde seine Familie mit anderen Juden, die polnische Pässe besaßen, zusammengetrieben und für die Deportation nach Polen in einen Zug gezwungen. Doch dieser hatte Verspätung und kurz bevor er die Grenze erreichte, wurden die Pässe der Passagiere von Polen für ungültig erklärt.

Penzias und sein Kollege, der Radioastronom Robert Wilson, machten ihre berühmte Entdeckung mithilfe der Holmdel Horn Antenna in den Bell Laboratories in Holmdel, New Jersey. Ein Glaswürfel, in den ein Bild des hornförmigen Instruments geätzt ist, erinnert an den 50. Jahrestag ihres wissenschaftlichen Durchbruchs.

Foto von Richard Barnes

Barnet Yudin (2. v. rechts) und seine Familie posieren 1929 für ein Porträt. 1938, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, unterschreibt er eine eidesstattliche Erklärung, in der versichert, die Penzias im Notfall finanziell zu unterstützen. So ermöglicht er der Familie, die er nie kennengelernt hat, die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland. 

Foto von Richard Barnes

Im Jahr 1939 reisten die Söhne der Penzias im Rahmen einer britischen Aktion, bei der 10.000 größtenteils jüdische Kinder aus Deutschland gerettet wurden, mit einem Kindertransport nach England. Die Brüder waren erst in einem Londoner Waisenhaus für Mädchen untergebracht, danach lebten sie in verschiedenen englischen Pflegefamilien. Als sie die nötigen Papiere endlich zusammen hatten, folgten Karl und Justine Penzias ihren Kindern nach England und die Familie emigrierte mit dem Schiff in die USA. Wirbelstürme und deutsche U-Boote erschwerten die Reise über den Atlantik. Am 3. Januar 1940, als ihr Schiff in New York City anlegte, fotografierten Journalisten Arno und Günther, die mit großen Augen der Freiheitsstatue zuwinkten. 

Forschung mit Robert Wilson

Familie Penzias ließ sich in der Bronx nieder. Hier gingen die Jungen zur Schule und lernten Englisch. Arno machte seine Abschlüsse an der Brooklyn Technical High School und am City College. Er diente im U.S. Army Signal Corps und promovierte im Anschluss an der Columbia University in Physik. 

Nach Abschluss seines Studiums forschte er in den Bell Laboratories, wo er in den Sechzigerjahren gemeinsam mit seinem Forschungskollegen Robert Wilson die kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung entdeckte, die die Urknalltheorie der Kosmologie bestätigte. Für diese Entdeckung wurden die beiden Wissenschaftler im Jahr 1978 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. In einem Brief, den er als Antwort auf ein Glückwunschtelegramm des damaligen Präsidenten Jimmy Carter verfasste, drückte Penzias seine Dankbarkeit dafür aus, in Amerika leben zu dürfen:

„Ich kam vor neununddreißig Jahren als mittelloser Flüchtling aus Nazi-Deutschland in die Vereinigten Staaten. Für meine Familie und mich selbst war Amerika sowohl ein sicherer Hafen als auch ein Land der Freiheit und der Möglichkeiten. In einer Zeit, in der das Versprechen und die Bedeutung amerikanischer Institutionen oft in Frage gestellt werden, fühle ich mich verpflichtet, die Erfüllung des amerikanischen Versprechens durch meine persönliche Lebenserfahrung zu bezeugen. Ich bin sehr stolz, Amerikaner zu sein, und bin Amerika und dem amerikanischen Volk sehr dankbar. Ich möchte daher die Gelegenheit ergreifen, Ihnen in Ihrer Eigenschaft als Vertreter des amerikanischen Volkes zu danken und durch Sie dem amerikanischen Volk einen kleinen Teil meines Dankes zu übermitteln.“

Wem er jedoch nicht danken konnte, war der Mann, dessen Unterschrift seiner Familie die Tür nach Amerika geöffnet hatte. Arnos Vater hatte versprochen, den Unterzeichner der eidesstattlichen Erklärung niemals zu kontaktieren – und er hatte sein Wort gehalten. Die Einzelheiten über den selbstlosen Helfer blieben ein Geheimnis.

BELIEBT

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    Barnet Yudin (links) floh 1906 aus Russland in die USA, verkaufte zunächst Farbe von einer Schubkarre aus und eröffnete schließlich ein Farbengeschäft in Belleville, New Jersey. Seiner eidesstattlichen Erklärung zufolge betrug sein Einkommen zu jener Zeit 125 Dollar pro Woche.

    Foto von Richard Barnes

    Doch im Jahr 2012 fand Arnos Sohn David Penzias in den Familienunterlagen einen Umschlag, in dem sich eine Kopie der eidesstattlichen Erklärung befand. Unterzeichnet hatte sie ein gewisser Barnet Yudin. David ging die Kopien der Dokumente durch, die Yudin zur Bestätigung der eidesstattlichen Erklärung vorgelegt hatte. Er war ergriffen, wie viele Informationen dieser Fremde bereitwillig preisgegeben hatte: Als Inhaber eines Farbengeschäfts verdiente er 125 Dollar pro Woche. Seine Wohnung befand sich über dem Laden in einem Gebäude, dessen Besitzer er selbst war. Auf seinem Bankkonto hatte er Ersparnisse in Höhe von 2.000 Dollar. Dieser Mann hatte sich nicht nur für eine Familie verbürgt, zu der er keinerlei Verbindungen hatte und die er nicht einmal kannte, sondern auch erhebliche Anstrengungen unternommen, um dies zu tun. Wer war er?

    Wer war Barnet Yudin?

    Bei seiner Recherche im Internet stieß David Penzias die Nummer eines Robert Yudin, wohnhaft in New Jersey, von dem er sich sicher war, dass es sich bei ihm um Barnet Yudins Enkel handelte. Als er ihn anrief, reagierte Yudin zunächst verblüfft: Barnet war im Jahr 1950 an Krebs gestorben, auch seine Frau, sein Sohn und seine Tochter lebten nicht mehr. Keines der Enkelkinder konnten sich nicht daran erinnern, dass Barnet je eine deutsche Familie erwähnt hätte, der er mit einer eidesstattlichen Erklärung geholfen hatte. Aber nachdem Arnos Sohn ihm aber die Dokumente gezeigt hatte, begann sich das Puzzle zusammenzufügen.

    Sydney Neuwirth, Künstlerin im Ruhestand und Enkelin von Barnet Yudin, sagt, dass ihr Großvater der Familie Penzias helfen wollte, weil „er wusste, wie es ist, abgewiesen zu werden“.

    Foto von Richard Barnes

    Günther „Jimmy“ Penzias (vorne) war vier Jahre alt, als er und sein Bruder Arno im Rahmen eines Kindertransports nach England kamen. 2012 entdeckte Arnos Sohn David Penzias (hinten) eine Kopie der von Barnet Yudin unterzeichneten eidesstattlichen Erklärung, von der bis dahin niemand in der Familie gewusst hatte.

    Foto von Richard Barnes

    Dass Barnet den Lebensunterhalt seiner Familie aufs Spiel gesetzt hatte, um Verfolgten bei der Flucht zu helfen, entsprach seinem bekanntermaßen bescheidenen, großzügigen Wesen. Weitere Yudins wurden involviert, um das Leben des Helfers zu rekonstruieren: Der im Jahr 1886 in Russland geborene Barnet wollte eigentlich Arzt werden. Er bestand die Aufnahmeprüfungen für das Medizinstudium, wurde aber nicht zugelassen – vermutlich, weil er Jude war. 1906 verließ er Russland über Skandinavien und kam in die Vereinigten Staaten. Angekommen in New Jersey verkaufte er zunächst Farbe von einem Schubkarren aus und führte schließlich gemeinsam mit seiner Frau Anne ein erfolgreiches Farben- und Eisenwarengeschäft.

    Barnets Enkelin Sydney Neuwirth, eine pensionierte Künstlerin, wuchs in einer der Wohnungen auf, die sich über dem Geschäft in dem Haus ihres Großvater befanden. Als sie die Fotos, Briefe und Zeitungsausschnitte betrachtete, die das Leben ihrer Großeltern dokumentieren, fühlte sie sich ihrem Großvater und der Familie, die um ihn gewachsen war, tief verbunden. „Er wusste, wie es ist, abgewiesen zu werden“, sagt Neuwirth. „Das war seine Art: Er wollte immer helfen.“ 

    Arno Penzias (rechts) und Robert Wilson stehen 1978 vor der Holmdel Horn Antenna. Im selben Jahr wurden die beiden Radioastronomen mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.

    Foto von AP

    Dieses Foto, das Barnet Yudin im Jahr 1938 vorgelegt wurde, zeigt den sechsjährigen Arno Penzias (Mitte) mit seinem Bruder und seinen Eltern. Yudin erfuhr nie, dass der Junge, den er zu retten half, später der Nobelpreis verliehen wurde (Faksimile links).

    Foto von Richard Barnes

    Fast acht Jahrzehnte, nachdem Barnet die eidesstattliche Erklärung unterzeichnet hatte, traf sich seine Familie mit David Penzias. Arno konnte an dem Treffen aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen, doch sein Bruder und sein Neffe vertraten ihn bei dem Brunch im Haus von Barnets Enkel in New Jersey. Bei herzhaften Bagels, Lachs und Weißfisch tauschten die Familien Dokumente und Erinnerungen aus. Als die Yudins Bilder von den inzwischen ergrauten Penzias-Brüdern im Kreise ihrer fünf erwachsenen Kinder und zehn Enkel ansahen, sagte David: „Ohne Barnet Yudin gäbe es heute keinen dieser Menschen.“ 

    Barnet Yudin konnte nicht ahnen, dass aus dem Sechsjährigen, dessen Ausreise nach Amerika er ermöglichte, eines Tages einer der einflussreichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts werden würde. Joe Yudin vermutet aber, dass dieser Aspekt seinem Urgroßvater auch gar nicht so wichtig gewesen wäre: „Ihm ging es darum, dass die Familie in Sicherheit war. Ich glaube, das ist alles, was für ihn zählte. ‚Wird dieses Kind eines Tages den Nobelpreis gewinnen oder als Shortstop für die Yankees spielen?‘ – solche Fragen stellte er sich nicht. Er tat, was er tat, weil es richtig war. Und dann sprach er nicht mehr darüber. Er hatte definitiv ein erhabenes Bild davon, wie Menschen sein sollten.“

    Im Jahr 1988 wurde die Holmdel Horn Antenna aufgrund ihrer großen Bedeutung für die Begründung der Urknalltheorie zum National Historic Landmark ernannt. 

    Foto von Richard Barnes

    Joe Yudin war früher Fallschirmjäger der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Heute ist er Inhaber eines israelischen Reiseunternehmens, das unter anderem für Menschen aus aller Welt Besuche der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem organisiert. Die Kindergedenkstätte von Yad Vashem erinnert an die rund 1,5 Millionen jüdischen Kinder, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. 

    In der dunklen, unterirdischen Höhle, erzeugt flackerndes Licht die Illusion von Millionen von Sternen. Wenn Yudin an diesen Ort kommt, wird ihm bewusst, dass im Holocaust nicht nur 11 Millionen Menschenleben verloren gingen, sondern auch das, was diese Kinder der Welt hätten geben können. „Wir haben das Heilmittel gegen Krebs verloren. Wir haben die Zeitreise verloren“, sagt Barnet Yudins Urenkel und fügt hinzu: „Denken Sie an all die Genies, die nicht überlebt haben.“ Dann erzählt er die Geschichte Arno Penzias – einem, der es geschafft hat.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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