Live-Rollenspiele: Mehr als Kostüme und Mittelalter-Hype

Beim Live Action Role Play, kurz LARP, schlüpfen Mitspielende in Fantasierollen: von Feen bis zu Wikingern. Was LARP überhaupt ist – und wie die Rollenspiele sogar im Kampf gegen Rechtsextremismus und Sexismus eingesetzt werden.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 11. Okt. 2023, 09:43 MESZ
Ein verkleideter LARPer auf dem Weg in den Kampf.

Beim LARPen tauchen Mitspieler*innen in eine fiktive Welt ein, in der sie sich nicht als sie selbst, sondern im Rahmen ihrer zuvor erdachten und festgelegten Rollen bewegen.

Foto von Marc Wehrmann

Ein Mann liegt blutüberströmt auf einem Bett, sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Um ihn herum stehen Menschen, die sich über ihn beugen. Sie tragen mittelalterliche Gewänder, der Raum besteht aus rauen Steinwänden, auf dem Tisch steht ein alter Kelch. Die Szene wirkt wie aus einem Historienfilm – zeigt aber Mitspieler*innen des LARP-Events Sturmwacht: Under Siege.

LARP steht für Live Action Role Play und meint interaktive Rollenspiele, bei denen Teilnehmer*innen ganz aktiv in die Welt des Spiels eintauchen. Wie die Szene zeigt, geht es dabei um mehr als Schminke und Verkleidungen. Schauspielkunst, Kostüm- und Setdesign sowie umfangreiche Eventplanung sind nur einige der Aspekte, die zusammenspielen müssen, um ein erfolgreiches LARP-Event auf die Beine zu stellen.

Teilweise sind die Szenen, die von den Teilnehmer*innen gespielt werden, extrem emotional. Wie auch dieser Moment, in dem ein verletzter Kämpfer von anderen umsorgt wird.

Foto von Beol Miller / Event-Trailer Sturmwacht: Under Siege / Realms of Mythodea

Doch was macht die Teilnahme an den Rollenspielen mit den Beteiligten? Geht es dabei immer um Wikinger und Kelten? Und welche Rolle spielen Rassismus und Sexismus im LARP?

Was ist LARP?

Wie auf der mehrtägigen LARP-Veranstaltung Sturmwacht: Under Siege, auf der auch die oben beschriebene Szene stattgefunden hat, treten Mitspieler*innen beim LARPen in eine fiktive Welt ein, in der sich ihre Figuren bewegen. Dahinter steckt viel Planung: Teilnehmende überlegen sich eine Rolle mit umfassender Hintergrundgeschichte und kümmern sich um passendes Make-up, Frisuren und Kostüme.

Doch auch hinter den Kulissen muss viel vorbereitet werden. Ganze Organisationsteams arbeiten an den Rahmenbedingungen der Welt, in der sich die Charaktere bewegen sollen. Dabei denken sie sich Storylines, Kulissen und Gegebenheiten der fiktiven Welt wie Konflikte oder die politische Situation aus. Geplant werden der Ausgangspunkt der Gesichte und einige Szenen – wie die Spieler*innen in ihren Rollen die Welt erleben und welche Entscheidungen sie treffen, entscheiden sie aber im Laufe des Spiels selbst. 

Ruth Bitai-Balyko ist als Head of Regie hauptberuflich Teil eines solchen Organisationsteams bei Realms of Mythodea, dem mit etwa 10.000 Teilnehmenden weltweit größten LARP-Universum. In dessen Rahmen finden jährlich mehrere LARP-Großevents statt, bei denen sie mit ihrem Team für das jeweilige Gamedesign, die Organisation der Events und das Worldbuilding zuständig ist. „In unseren Welten verkörpern die Mitspielenden live und in Farbe das, was man meist aus Computerspielen wie World of Warcraft kennt“, sagt sie. „Ganz ohne VR-Brille oder Bildschirm.“ 

Für die Events treffen sich die Teilnehmenden in verschiedenen Locations wie Burgen, Schlössern oder auf großen Wiesen, auf denen mittelalterliche Zelte aufgestellt werden. Bei mehrtägigen Events verbringen die Spieler*innen ihre gesamte Zeit an diesen Orten, schlafen dort und bekommen Verpflegung.

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    Von Wikingern und Drachen: Rollen und Figuren im LARP

    Die Planungsebene außerhalb des Spiels nennt man im LARP OT, also Out-Time, während IT, also In-Time, die Ebene innerhalb des Spiels, in der man seinen Charakter spielt, bezeichnet. Auf LARP-Events verbringen Spieler*innen die meiste Zeit IT. „Man bleibt, so gut es geht, die ganze Zeit in der Rolle“, sagt Bitai-Balyko. So sprechen die Teilnehmer*innen einander in ihren jeweiligen Rollen an und interagieren auch innerhalb dieser miteinander. „Wenn einem das zu viel wird, gibt es OT-Zonen, wie zum Beispiel extra beschriebene Räume, die Bäder oder Toiletten oder natürlich das eigene Zelt, wenn man das so möchte.“ 

    Je nach Art des Rollenspiels können die Rollen sehr unterschiedlich sein. „Im LARP gibt es verschiedene Genres. Es gibt edu-LARP, also Bildungsliverollenspiele, Histo-LARP, Fantasy LARP, Endzeit-LARP und viele mehr“, sagt Bitai-Balyko. Dabei ginge es entgegen der gängigen Meinung meist nicht darum, möglichst akkurat historische Begebenheiten nachzustellen – vor allem nicht beim Fantasy-LARP, das zahlenmäßig zur Zeit in Deutschland am meisten vertreten ist.

    Vielmehr zählt der Spaß. „Im LARP geht es darum, in die Haut einer*s anderen zu schlüpfen, ein wenig zu erahnen, wie die fiktive Welt, die man gerade gewählt hat, vielleicht war oder sein könnte“, erklärt Bitai-Balyko. Dabei reichen Rollenprofile von Feen, Trollen und Magiern in Fantasy-LARPs über Krieger*innen und Wikinger im Histo-LARP. Grob sei der Standard der Rollenkostüme ,mittelalterlich‘ und sie orientieren sich oft an der Zeit von 1.000 bis 1.400 n. Chr, sagt Bitai-Balyko. Aber auch das sei keine feststehende Regel. 

    Gekämpft wird im LARP mit geschäumten oder aus Schaum geschnitzten Polsterwaffen, die manchmal einen Kernstab im Inneren enthalten. Laut Bitai-Balyko sind Kämpfe im LARP „ungefähr so gefährlich wie Fußball oder andere Mannschaftssportarten.“ 

    Foto von Tomas Felcmann

    Piratinnen und Wikingerinnen: Frauen und LARP

    Genau so unterschiedlich wie die Geschichten und Rollen im LARP sind auch die Teilnehmer*innen. Das Klischee, dass LARP ein hauptsächlich männliches Hobby ist, ist längst überholt. Bitai-Balyko ist seit mehr als 20 Jahren im LARP aktiv und hat in dieser Zeit „meist eine relativ ausgeglichene Geschlechterverteilung vorgefunden“. Das zeigen auch nicht-repräsentative Umfragen wie die des Magazins Teilzeithelden: laut diesen sind zwischen 42 und 45 Prozent der LARPer*innen weiblich oder nicht-binär. 

    Doch wie sieht es mit Rollenklischees und Sexismuserfahrungen IT und OT aus? In Internetforen gibt es hin und wieder Diskussionen, ob Frauen auch Ritterinnen oder Piratinnen spielen dürfen oder können – weil viele der Welten an das Mittelalter angelehnt sind. Eine Einschränkung bei den Rollen, die Frauen spielen dürfen, ist dennoch nicht die Norm. Im Gegenteil: Bitai-Balyko erklärt, dass sie damit im Fantasy-LARP selbst bislang keine Berührungspunkte hatte. „Ich habe immer Schurken und Diebe, Kämpferinnen und Zauberinnen gespielt und habe da nie Probleme gehabt“, sagt sie. 

    Das läge auch daran, dass die Welten von Gamedesigner*innen gestaltet werden – und Probleme wie sexistische Rollenverteilungen oder Diskriminierung aktiv in die Welt eingebracht werden müssten. „Das Gamedesign und die Auswahl des LARP entscheidet darüber, ob man letztendlich möchte, dass Themen wie Sexismus eine Rolle spielen“, sagt sie. 

    Perfekt sei aber auch die Welt des LARP nicht. „Die Veranstaltungen finden mit Teilnehmenden aus unserer realen Gesellschaft statt und haben dadurch natürlich auch teilweise mit den normalen gesellschaftlichen Themen wie Seximus zu tun“, sagt sie. Allerdings versuche die Community aktiv, diese zu adressieren und zu verbessern. Das könne man zum Beispiel auch durch ein Aufgreifen der Themen IT, also im Spiel selbst, in Angriff nehmen. „Man kann quasi ins LARP gehen, um Dinge wie Sexismus zu erleben und wieder sicher aus dem Spiel herausgehen, um zu reflektieren“, sagt sie.

    Die Idee, dass im LARP möglichst historisch akkurate Gesellschaftsbedingungen nachgestellt werden sollen, stimmt meist nicht. Frauen können ebenso Piratinnen und Kriegerinnen spielen wie Männer.

    Foto von Tomas Felcmann

    Edu-LARP: Im Kampf gegen Rechtsextremismus und Seximus

    So funktioniert beispielsweise das edu-LARP, also das educational Live Action Role Play, das auch als Bildungsliverollenspiel bezeichnet wird. In diesem werden Themen wie Sexismus, toxische Männlichkeit und Rassismus extra in die Welten hineingeschrieben, um sie pädagogisch aufzuarbeiten. Dabei machen sich die Bildungsliverollenspiele die bekannten Merkmale des LARP zunutze: sich in andere Menschen hineinversetzen, sich mit historischen Kontexten auseinandersetzen und Narrative aufarbeiten, die unsere Sicht von der Vergangenheit prägen.

    Mittlerweile gibt es mehrere Projekte, die im Rahmen der edu-LARPs ganz aktiv Aufklärungsarbeit leisten. So zum Beispiel ein Projekt mit Jugendlichen, die mit der rechten oder rechtsextremen Szene sympathisieren. Dessen Leiterin, die zum Schutz des Projektes namentlich nicht genannt werden möchte, erklärt, dass die LARPs dazu dienen können, „gängige Narrative einer rechtsgeprägten Ideologie aufzugreifen, zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen“. Dazu werden ganz konkret Welten entworfen, in denen emotional geprägte Bilderwelten wie die „Welt der Wikinger“ oder die „Welt der Kelten“, in denen Heldenkult und militärische Konflikte eine Rolle spielen, aufgegriffen werden.

    „In designten Spielsituationen kommt es zu Dilemmasituationen, die das ,Held sein‘ kritisch hinterfragen und Perspektiven von Mitleid, Verzweiflung und Unmenschlichkeit in den Vordergrund rücken“, sagt sie. „Das Lernen findet in Bildungsliverollenspielen also gezielt und gelenkt statt.“ In anschließenden Reflexionseinheiten werde dann dazu angeregt, die zugehörigen Helden- und Geschlechterrollen kritisch zu hinterfragen und auf die eigene Lebenswirklichkeit zu übertragen.

    Die Wirksamkeit dieses Ansatzes wird aktuell in mehreren Projekten und verschiedenen Untersuchungen erforscht. Laut Leiter*innen von edu-LARPs kann allerdings beobachtet werden, dass die Rollenspiele den Teilnehmenden dabei helfen, persönliche und emotionalisierte Zugänge zu komplexen gesellschaftspolitischen und moralischen Themen zu bekommen. Außerdem fördern die Rollenspiele laut ihnen merklich die Empathie.

    Bitai-Balyko betont, dass es solche Erfahrungen nicht nur in edu-LARPs gibt – in anderen Live-Rollenspielen aber eher zufällig und nicht gelenkt stattfinden: „Ich glaube, kein LARP ist frei von lehrreichen Anteilen“, sagt sie. Man könne im LARP beispielsweise lernen, freier zu sprechen, aus sich herauszukommen, oder eben Vorurteile und Diskriminierungserfahrungen zu erleben, die einem im realen Leben nicht widerfahren würden. Sie rät deshalb jeder*m, das LARPen einmal selbst auszuprobieren – und diese Erfahrungen am eigenen Leib zu machen.

    Warum Menschen gerne LARPen 

    Laut Bitai-Balyko macht vor allem die Freiheit, etwas ganz Neues ausprobieren zu können, die Rollenspiele attraktiv. „LARP ist immer ein wenig Urlaub von seiner normalen Umgebung und von sich selbst, aber auch gleichzeitig eine spannende, unterhaltende oder lehrreiche Erfahrung“, sagt sie. Sie selbst habe durch ihre Erfahrung mit Film und Theater zu den Live-Rollenspielen gefunden. „Ich fand das co-kreative Erschaffen mit all den Facetten von Schreiben, Organisieren und handwerklichem Aspekt großartig“, sagt sie.

    Ein weiterer spannender Aspekt des LARPens sei die extreme Immersivität des Hobbys, die einen bis in den Alltag begleiten kann. Ein aktuell im LARP heiß diskutiertes Phänomen ist das des „Bleed“, das so viel bedeutet wie „hineinreichen in den Alltag“ oder „abfärben“. „Das ist ein Zustand, in dem man nach Rückkehr in seine normale Umgebung noch intensiv an die Erlebnisse denkt und manchmal auch noch Gefühle hat, die der gespielten Rolle zuzuordnen sind“, sagt Bitai-Balyko.

    Beim LARPen werden teils extreme Gefühle gespielt: Von Liebe über Verzweiflung bis hin zu Wut und Hass – ähnlich wie beim Theaterspiele.

    Foto von Tomas Felcmann

    Ein Beispiel dafür beschreibt der LARPer Davide Orazi, Mitautor eines Essays, der das Konzept untersucht, in einem Interview mit dem Guardian: Nach einem LARP-Event, in dem er 52 Stunden lang in seiner Rolle blieb, fiel ihm auf, dass sein Körper in Gegenwart der Ehefrau seines Charakters Endorphine ausstieß, obwohl er im echten Leben mit einer anderen Frau verheiratet war. Das heißt: Die Gefühle, die der Körper beim LARP erlebt, sind chemisch real – auch wenn die Rolle es nicht ist. 

    Laut Bitai-Balyko müsse man deshalb, ähnlich wie beim Theaterspielen, im LARP darauf achten, sich sauber von der gespielten Rolle abzugrenzen. Gleichzeitig könne man sich diesen Effekt aber auch zunutze machen, um außergewöhnliche Erfahrungen im LARP und die erlebten Gefühle zu reflektieren. „Das ist ähnlich wie bei einem intensiven, besonders schönen Urlaub, nach dem es manchmal schwer fällt, in den Alltagstrott zurückzukehren“, sagt sie. „Bald ist das Erlebnis dann aber eine wunderbare Erinnerung.“

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