Herkules im Gras: Wer ist der Cerne-Abbas-Riese?

Lange rätselten Forschende über den Ursprung und das Alter des 55 Meter großen Bildes auf einem Hügel in England. Jetzt konnten Forschende endlich seine Geheimnisse lüften.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 5. Jan. 2024, 08:42 MEZ
Die Umrisse eines nackten Mannes im Grün eines Hügels.

Ein tränenförmiger Kopf, nackter Körper und eine Keule über dem Kopf: der Cerne-Abbas-Riese.

Foto von Ray Gaffney / National Trust

Im Süden Englands wird das monotone Grün der hügeligen Landschaft immer wieder von seltsamen weißen Linien durchbrochen. Dahinter stecken einige der kuriosesten historischen Denkmäler des Landes: die Hügelfiguren. Dabei handelt es sich um riesige sogenannte Scharrbilder, die in den Boden der Landschaft eingearbeitet wurden – vor Hunderten, teilweise gar Tausenden von Jahren.

Das größte und wohl bekannteste unter ihnen ist der etwa 55 Meter hohe Cerne-Abbas-Riese, der auf dem gleichnamigen Cerne-Abbas-Hügel in Dorset, England, prangt. Seine Entstehungsgeschichte lag lange im Dunkeln. Doch nun brachte ein Studienteam Licht in die Angelegenheit – und fand sogar heraus, was das Bild darstellen soll: den griechischen Helden Herkules. Ihre Studie veröffentlichten die Forschenden im Fachmagazin Speculum.

Geoglyphen: Englands ikonische Hügelfiguren

Bei den Hügelfiguren handelt es sich um sogenannte Geoglyphen, auch Scharr- oder Bodenbilder genannt. Schon vor Jahrtausenden erschufen die Menschen sie, indem sie die oberen Erdschichten in Form des gewollten Bildes bis zu einem Meter Tiefe abtrugen, wodurch das darunter liegende Gestein freigelegt wurde. Teilweise füllten sie die entstandenen Furchen mit hellem Material wieder auf, um die Figuren sichtbar zu machen. Im Fall des Cerne-Abbas-Riesen war das nicht nötig: Durch das Abtragen der Rasen- und Torfschicht des Hügels wurde die darunterliegende helle Kalkschicht sichtbar.

Links: Oben:

Die vermutlich älteste Hügelfigur ist das Uffington White Horse, eine Pferdefigur, die vor über 3.000 Jahren in den nach ihr benannten White Horse Hill gegraben wurde.

Foto von National Trust Images/Mike Calnan/James Dobson
Rechts: Unten:

Der sogenannte Long Man, also „lange Mann“, befindet sich auf dem Windover Hill nahe Wilmington.

Foto von CC BY-SA 3.0

Dieses Gestein war es auch, das 2021 ein erstes Rätsel um die Geschichte des Cerne-Abbas-Riesen löste. Forschende des National Trust, einer Denkmalschutzorganisation in England, nahmen mehrere Bodenproben aus den Furchen des Bildes. Dabei fanden sie heraus: Das älteste freigelegte Gestein ist etwa 700 Jahre alt, das jüngste um die 1.100 Jahre. Das Bild entstand also im Mittelalter. „Das haben wir nicht erwartet“, sagt Mike Allen, unabhängiger Archäologe von der Bournemouth University in England. „Viele Archäologen und Historiker hielten den Riesen für prähistorisch oder neuzeitlich, aber nicht für mittelalterlich. Alle haben sich geirrt.“

Herkules-Bild aus dem Mittelalter

Die neue Studie von Morcom und Gittos baut nun auf dieser Erkenntnis auf. „Zum ersten Mal ist es möglich, den Riesen von Cerne in einen kulturellen Kontext einzuordnen“, schreiben sie in ihrer Studie. Sie sagen: Beim Cerne-Abbas-Riesen handelt es sich um eine Darstellung von Herkules, da sowohl Körperform als auch Haltung des Riesen – mit entblößtem Genital und erhobener Waffe – an bereits bekannte Bilder des griechischen Helden erinnert. „Herkules war eine der am häufigsten dargestellten Figuren in der klassischen Welt, und seine unverkennbar verknotete Keule diente als Erkennungszeichen.“ 

BELIEBT

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    Diese Skulptur aus der späten Römerzeit stellt Herkules mit seiner charakteristischen Keule dar.

    Foto von Corbridge Roman Town Museum, DP045083 / Carole Raddato

    Laut Morcom und Gittos endete das Interesse an Herkules nicht in der Antike. „Herkules blieb während des gesamten Mittelalters eine bekannte kulturelle Figur“, heißt es in der Studie. Auf dem Hügel in Dorset diente die Figur den Studienautor*innen zufolge möglicherweise als Sammelpunkt für angelsächsische Soldaten. Diese kämpften im Mittelalter gleich mehrere Kriege gegen Wikinger. 

    „Ein riesiges Bild von Herkules wäre ein idealer Hintergrund für die Monumentalisierung eines Sammelplatzes in der Landschaft gewesen“, heißt es in der Studie. „Vor allem angesichts der seit langem bestehenden Charakterisierung von Herkules als Modell der Männlichkeit, insbesondere unter Kriegern, und seiner Verbreitung im neunten und zehnten Jahrhundert.“

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