Down-Syndrom bei Neandertaler-Kind nachgewiesen

Auch Neandertaler hatten Trisomie 21. Eine aktuelle Studie hat den ältesten Fall von Down-Syndrom nachgewiesen – und liefert spannende Erkenntnisse über den Umgang der Neandertaler mit Gruppenmitgliedern mit Behinderung.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 8. Juli 2024, 10:00 MESZ
Nachbildung zweier Neandertaler, die auf dem Boden hocken.

Rekonstruktion eines erwachsenen und jungen Neandertalers aus dem Naturhistorischen Museum in Wien. Über das Zusammenleben der Homo neanderthalensis, einem Verwandten der Homo sapiens, wird immer mehr bekannt.

Foto von Wolfgang Sauber / Naturkundliches Museum Wien / CC BY-SA 4.0

Die Bezeichnung Neandertaler ist heute hauptsächlich negativ besetzt und wird oft für Menschen genutzt, die sich besonders grob oder unsensibel verhalten. Dass dieses Bild nicht der Wahrheit entspricht, hat nun erneut eine Studie gezeigt, für die das Skeletts eines jungen Neandertaler-Kindes mit Down-Syndrom untersucht wurde.

Das Kind, dem die Forschenden den Namen Tina gegeben haben, lebte im Mittelpaläolithikum, also vor etwa 273.000 bis 45.000 Jahren und wurde sechs Jahre alt – ein für die damalige Zeit hohes Alter für ein Individuum mit Down-Syndrom. Der Studie zufolge, die im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht wurde, konnte Tina es nur erreichen, weil sich die Gemeinschaft aufopferungsvoll um sie kümmerte. 

Das zeigt: Bei den Neandertalern wurde der Wert eines Individuums nicht durch seinen materiellen Nutzen für die Gemeinschaft bestimmt.

Ältestes Beispiel für ein Neandertaler-Individuum mit Down-Syndrom

Entdeckt wurde das Skelett von Tina in Cova Negra, einer Fundstätte in der spanischen Stadt Xàtiva. Der Ort ist für seinen Reichtum an Neandertaler-Knochen bekannt, von denen die meisten bislang auf ein Alter von 273.000 bis 146.000 Jahren datiert wurden. Wie alt die Überreste von Tina sind, wurde bislang nicht untersucht. Es ist aber wahrscheinlich, dass auch sie aus diesem Zeitraum stammen.

Wichtiger als die Datierung der Knochen war es den Forschenden, Tinas Gesundheitszustand und ihr Alter zum Zeitpunkt ihres Todes zu ermitteln. Anhand von Analysen eines Schädelknochenfragments, das auch die Ohrknochen eines Ohres umfasste, konnte das Studienteam von den Universitäten Alcalá und Valencia zunächst nachweisen, dass Tina das Down-Syndrom hatte. Denn bei Trisomie 21 kommt es unter anderem zu einer Verformung der Cochlea im Innenohr, die Schwindel und Hörverlust verursacht. Diese wurde auch bei Tina festgestellt.

Aus dem Fossil der Ohrknochen von Tina haben die Forschenden ein 3D-Modell erstellt, anhand dessen sich das Down-Syndrom nachweisen lässt.

Foto von Mercedes Conde-Valverde et al. / DOI:10.1126/sciadv.adn9310

Damit ist Tina das bisher älteste Beispiel für ein Neandertaler-Individuum mit Down-Syndrom. Die bis zum Erscheinen der Studie ältesten bekannten Belege für Trisomie 21 beim Menschen sind 4.5000 Jahre alt.

Selbstlose Fürsorge für Gruppenmitglieder mit Behinderung

Dass Tina sechs Jahre alt wurde, überraschte die Forschenden. Noch im Jahr 1929 lag die Lebenserwartung für Menschen mit Down-Syndrom bei nur neun Jahren. Erst in den Vierzigerjahren stieg sie auf zwölf an, in der heutigen Zeit wird im Schnitt ein Alter von 60 Jahren erreicht. 

Dem Studienteam zufolge konnte Tina nur darum so lange leben, weil sich die anderen Gruppenmitglieder extrem gut um sie gekümmert haben. Das sei vor allem darum besonders, weil für diese Fürsorge keine Gegenleistung oder materieller Nutzen zu erwarten war. Dass Neandertaler sich um Erwachsene mit Behinderung kümmerten, war bereits bekannt. Laut Mercedes Conde von der Universität Alcalá, Hauptautorin der Studie, ist die Umsorgung von Tina aber ein noch deutlicherer Beweis dafür, dass die Neandertaler eindeutig altruistisch handelten.

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