Wer ist der unbekannte Tote von Notre-Dame?
Nach dem Brand der ikonischen Kathedrale wurden bei Ausgrabungen im Jahr 2022 zwei Sarkophage gefunden. Nun konnte das Geheimnis um die rätselhafte Identität des zweiten Individuums gelüftet werden.
Einer der Bleisärge, die bei den Ausgrabungen unter der Kathedrale in Paris gefunden wurden.
Der Großbrand in der Pariser Kathedrale Notre-Dame vom 15. April 2019 hielt die ganze Welt in Atem. Über 600 Feuerwehrleute waren an den mehrstündigen Löscharbeiten an der ikonischen gotischen Kirche beteiligt. Mehrere Gebäudeteile, darunter die Turmuhr, fielen den Flammen zum Opfer.
Einen Tag nach dem Brand begannen bereits die ersten archäologischen Arbeiten durch das französische Institut national de recherches archéologiques préventives (Inrap). Seit mehr als fünf Jahren führt das Team Ausgrabungen im Innen- und Außenbereich der Kathedrale durch. Dabei kamen nicht nur diverse Artefakte zum Vorschein, sondern auch zwei geheimnisvolle Bleisärge.
Die Identität der Toten konnte Ende 2022 nur teilweise geklärt werden. Sicher waren sich die Forschenden damals nur bei einem der beiden männlichen Individuen: Antoine de la Porte, einem Kleriker aus dem 17. Jahrhundert, dessen Name in einer Inschrift auf dem Sarg stand. Nun konnten die Archäolog*innen auch das Geheimnis um die Identität des zweiten Toten aufklären. Es handelt sich bei ihm wahrscheinlich um eine literarische Berühmtheit aus der Renaissance: den französischen Lyriker Joachim du Bellay, der im 16. Jahrhundert in Frankreich lebte.
Archäologische Kriminalarbeit
Joachim du Bellay war einer der bekanntesten französischen Lyriker der Renaissance.
Um herauszufinden, wer der Tote sein könnte, kombinierten die Forschenden ihre Analyse des Leichnams mit historischen Aufzeichnungen. Mehrere Indizien führten die Forschenden schließlich zu der Annahme, dass es sich bei dem Toten um du Bellay handeln könnte. So konnten die Archäolog*innen anhand der Überreste erkennen, dass der geheimnisvolle Tote zum Zeitpunkt seines Todes etwa 40 Jahre alt war und im 16. Jahrhundert begraben wurde. Du Bellay starb im Alter von 37 Jahren und wurde im Januar 1560 in Paris beigesetzt.
Außerdem war bereits 2022 klar, dass der Verstorbene zu Lebzeiten ein passionierter Reiter gewesen war. Aufschluss darüber gab die Form seiner Gliedmaßen. Passend dazu sind auch du Bellays Reitfähigkeiten gut dokumentiert: Der Lyriker ritt einst von Paris nach Rom. „Eine erstaunliche Leistung für einen Mann, der unter Tuberkulose litt“, so Eric Crubézy, Anthropobiologe an der Universität Toulouse III in Frankreich, auf einer Pressekonferenz vom 17. September gegenüber dem paneuropäischen Fernsehsender Euronews. „Tatsächlich wäre er beinahe daran gestorben.“
Die Tuberkuloseerkrankung des Dichters und seine chronische Meningitis, die auch in seinen Texten zur Sprache kommen, untermauern die Theorie der Forschenden ebenfalls. Denn auch der unbekannte Tote von Notre-Dame litt an dieser äußerst seltenen Kombination von Krankheiten, von der damals nur 0,03 Prozent der Bevölkerung betroffen waren.
Wieso wurde der Lyriker unter Notre-Dame begraben?
Der Fund des Leichnams löst auch das Geheimnis um du Bellays Begräbnisstätte, deren Lage bislang ungeklärt war. Offiziellen Aufzeichnungen zufolge sollte der Dichter in der Nähe seines Onkels, Kardinal Jean du Bellay, in der Saint-Crépin-Kapelle von Notre-Dame beigesetzt worden sein. Dort konnte er bei Bauarbeiten im Jahr 1758 allerdings nicht gefunden werden.
Die Archäolog*innen des Inrap vermuten, dass seine Überreste in der Zwischenzeit ins Querschiff von Notre-Dame verlegt wurden – möglicherweise im Jahr 1569, nachdem seine gesammelten Werke posthum veröffentlicht wurden. Vielleicht handelte es sich aber auch um eine ursprünglich nur vorübergehende Umbettung, die schließlich doch bis heute angehalten hat.