Wie alt wurden Menschen früher wirklich?
Der Glaube, dass Menschen in der Antike oder im Mittelalter nicht sonderlich alt wurden, hält sich hartnäckig. Doch die Idee, dass es alte Menschen damals kaum gab, ist ein Mythos.
Buchmalerei von Jacques Legrand aus dem frühen 15. Jahrhundert.
Kriege, Hungersnöte, Pest und Cholera: Es gibt viele Gründe, warum Menschen in der Vergangenheit früh starben. Während Menschen in Europa heute durchschnittlich 79,1 Jahre alt werden, lebten Personen im Mittelalter beispielsweise im Schnitt nur bis zu ihrem 33. Lebensjahr. Einige Jahrhunderte zuvor, im Römischen Reich, wurden Menschen durchschnittlich sogar nur 25 Jahre alt. Ähnliches gilt für die errechnete Lebenserwartung von Menschen in der Frühgeschichte Europas – je nach Fundort und genauem Jahrhundert oder Jahrtausend.
Wurden Menschen vor Beginn der Moderne also generell nicht alt? Nein, sagt Christian Tannhäuser vom thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie (LDA) und enttarnt diese Vorstellung als Mythos. Die Lebenserwartung sei während eines Großteils der Menschheitsgeschichte lediglich statistisch niedrig gewesen. Das bedeute aber nicht, dass Menschen generell niemals ein Alter jenseits der 50 oder gar 70 oder 80 erreichten.
Mythos hält sich aufgrund von Durchschnitts-Statistik
„Die Lebensspanne hat sich im Gegensatz zur Lebenserwartung, die ein statistisches Konstrukt ist, nicht wirklich stark verändert“, sagt auch der Historiker Walter Scheidel von der Stanford University gegenüber der BBC. Das heißt, es ist Menschen schon lange möglich, über 70 Jahre alt zu werden – es starben in der Vergangenheit aber gleichzeitig viel mehr Menschen jung, was diese alten Menschen statistisch unsichtbar macht.
Dieses Bild mit dem Titel „Die vier Altersstufen von Männern“ stammt vermutlich aus dem 13. oder 14. Jahrhundert.
Laut Tannhäuser gibt es gleich mehrere Faktoren, die die Statistik in der Vergangenheit heruntergezogen haben. Einer davon ist die hohe Säuglingssterblichkeit, die sich durch die Geschichte hindurch zog bis die moderne Medizin sie eindämmte. Bei jungen Männern sei zusätzlich die Sterblichkeit durch gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege mit eingeflossen und bei jungen Frauen zogen die häufigen Todesfälle bei Geburten die Statistik herunter. Außerdem starben gerade ärmere Menschen schneller an Krankheiten und Mangelernährung als heute. „Es gab also viele junge Menschen und nach oben hin immer weniger Alte – aber gegeben hat es sie dennoch“, so Tannhäuser.
Die Menschen mussten somit bestimmte Altershürden überwinden, damit ihre Lebenserwartung stieg. „Bei Säuglingen stieg die Chance, alt zu werden, beispielsweise nach dem ersten vollendeten Lebensjahr“, sagt Tannhäuser. Eine weitere Hürde war laut einem wissenschaftlichen Beitrag im Fachmagazin International Journal of Epistemology das Alter 25, vor allem im Mittelalter. War das erreicht, stieg die Lebenserwartung statistisch auf etwa 53 Jahre.
Betagte römische Kaiser und alte mittelalterliche Dorfbewohner
Dass der Anblick alter Menschen in der Vergangenheit nicht ungewöhnlich war, zeigen einige prominente Beispiele. Der römische Kaiser Justinian I., der im 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. lebte, wurde beispielsweise um die 83 Jahre alt. Bereits davor, im 1. Jahrhundert v. Chr., wurde in Rom beschlossen, dass Menschen erst ab 43 Jahren das Amt des Konsuls innehaben dürfen – was zeigt, dass eine beachtliche Menge an Menschen dieses Alter erreicht haben muss.
Auch im Mittelalter galt man dem aktuellen wissenschaftlichen Konsens zufolge nicht bereits mit 30, sondern erst mit 60 oder 70 Jahren als alt. Ein Beispiel für eine alte Person des Mittelalters ist Graf Georg von Löwenstein. Er starb im Jahr 1464 erst im Alter von etwa 90 Jahren – und ließ sich circa 10 Jahre zuvor noch porträtieren.
Porträt des circa 80-jährigen Georg von Löwenstein aus dem Jahr 1454.
Aber auch einfache mittelalterliche Dorfbewohner*innen waren mit 30 Jahren nicht todgeweiht. Eine Untersuchung von menschlichen Knochen aus dem mittelalterlichen Cambridge hat gezeigt, dass eine ganze Reihe von gewöhnlichen Menschen ein Alter bis zu 60 Jahren oder mehr erreicht hat.
Trotzdem wurden natürlich vor allem wohlgenährte Menschen und Personen mit höherem Stand, die nicht an Mangelerscheinungen oder an damals nicht behandelbaren Krankheiten litten, besonders alt. In einem relativ jungen Alter zu sterben, war früher also zwar durchaus gewöhnlicher als heute, betont Tannhäuser, „die Norm war es aber lange nicht.“