
Queen Victoria: Die erste Influencerin der Geschichte
Während der Regierungszeit von Königin Victoria (1837-1901) kam es zu einer nie dagewesenen Verbreitung von Medien. Drucke, Fotografien und Gemälde wie dieses verfestigten ihr Bild in Großbritannien und darüber hinaus und machten sie zu einer der bekanntesten Monarchinnen der Geschichte.
Von Bahnhöfen über Parks, Pubs bis hin zu einer U-Bahn-Linie der London Underground: spaziert man durch die Straßen Großbritanniens, begegnet einem der Name von Queen Victoria an jeder Ecke. Von 1837 bis 1901 saß sie auf dem Thron des Vereinigten Königreichs, während sich um sie herum die Welt in rasantem Tempo veränderte und Eisenbahnen, elektrisches Licht und das Telegraphieren Teil des Alltags wurden. Doch Victoria war nicht einfach nur eine Regentin – sie war eine kulturelle Naturgewalt.
Der Historiker John Plunkett nennt die Königin „die erste Medien-Monarchin“, weil sie aufgrund der sich verbreitenden Medienkultur wie keine anderen Herrscher vor ihr im Blick der Öffentlichkeit stand. Bilder von Victoria wurden in Zeitungen, auf Postkarten und Poster gedruckt und machten sie für das Volk in ungekanntem Maße sichtbar.
Zeitloser Brautkleid-Trend
Schon lange bevor sie Königin wurde, hatte Victoria ein Faible für Kleidung. „Sie liebte Mode“, sagt die Historikerin Kimberly Chrisman-Campbell. In ihrer Kindheit besuchte sie „das Ballett oder die Oper und machte sich Notizen zu den Kostümen, kehrte nach Hause zurück und zeichnete sie.“ Diese Zeichnungen dienten Victoria und ihrer Gouvernante als Vorlage für Puppenkleider.
Nach ihrer Krönung im Jahr 1837 waren die Kleider, die die damals 18-jährige auswählte, die modische Messlatte für die Damen bei Hofe – und darüber hinaus.
„Es ist nicht so, als hätte sie Mode neu erfunden“, sagt Chrisman-Campbell. „Aber eben weil ihr Stil eher konservativ war und damit die Werte der Mittelschicht nicht angriff, hatte er so einen weitreichenden Einfluss.“
Victorias wichtigster Beitrag zur Modegeschichte ist auch der, der am längsten – bis heute – nachhallt. Im Jahr 1840 heiratete die 21-jährige Königin mit Prinz Albert die Liebe ihres Lebens. Statt einer royalen Robe wählte sie für die Zeremonie ein Kleid, das im Stil dem entsprach, was viele junge Bräute dieser Zeit an ihrem großen Tag trugen. Doch es gab ein Detail, das dazu führte, dass ihre Wahl eine kleine Revolution auslöste: die Farbe.
„Die meisten Bräute trugen zu ihrer Hochzeit einfach das beste Kleid, das sie besaßen – egal, welche Farbe es hatte“, sagt Chrisman-Campbell. Victoria aber entschied sich für ein weißes Kleid – und machte dieses Kleidungsstück so zum Standard der Brautmode.
„Weiß war damals schon die Farbe der Wahl für wohlhabendere Damen, die heirateten“, sagt Sally Goodsir, Kuratorin des Royal Collection Trust. „Doch nach der königlichen Hochzeit gewann es noch einmal extrem an Popularität.“

Das Königspaar setzte in vielen Bereichen – von der Mode bis hin zu Festtagstraditionen – Trends.
Wie der Weihnachtsbaum nach Großbritannien kam
Victorias Einfluss ging jedoch über die Mode hinaus. Die Festtagstraditionen ihrer Familie haben zum Beispiel einen enormen Anteil daran, wie bis heute Weihnachten gefeiert wird. Das zeigt sich vor allem beim Weihnachtsbaum.
Königin Charlotte, die deutschstämmige Großmutter Victorias, hatte den Weihnachtsbaum bereits Dekaden zuvor in Großbritannien bekannt gemacht. Doch erst die junge Königin und ihr Ehemann, der in Deutschland geboren war, etablierten ihn als saisonales Must-have.
Das Königspaar stellte an den Weihnachtstagen mehrere Tannenbäume auf, die laut Goodsir vermutlich aus dem Windsor Great Park stammten. „Für jedes Mitglied der Königsfamilie – also auch jedes der neun Kinder – wurde auf Tischen in der Residenz ein eigener Baum aufgestellt, unter dem unverpackte Geschenke lagen“, sagt sie. „Die Bäume waren mit bunten Papierketten, Kerzen und Süßigkeiten geschmückt.“

Der mit Kerzen, Süßigkeiten und Papierornamenten geschmückte Tannenbaum von Königin Victoria und Prinz Albert setzte einen Trend, der sich bald in ganz Großbritannien ausbreitete.
Ein Bild der Königsfamilie mit ihren Weihnachtsbäumen, das im Jahr 1848 in der Illustrated London News erschien, half laut Goodsir dabei, die Weihnachtstradition weiter zu verbreiten.
Trendsetterin in Sachen Reise
Einer der Orte, an denen Victoria und Albert sich am liebsten aufhielten, war Schottland – und dank des wachsenden Streckennetzes in Großbritannien war die Reise dorthin deutlich komfortabler und leichter geworden.
Die royale Liebe zum britischen Norden sorgte für einen Ansturm von Touristen, die auf den Spuren des Königspaars wandeln wollten. Im Anschluss an dessen Royal Tour durch West-Schottland im Jahr 1847 bot ein Dampfschiffunternehmen eine Reise an, deren Route der des königlichen Ausflugs entsprach.

Die Liebe Königin Victorias zu Schottland machte es zu einer populären Urlaubsdestination für Touristen, die auf ihren Spuren wandeln wollten.

Balmoral Castle, das Prinz Albert als Geschenk für Victoria im Jahr 1852 kaufte, ist bis heute das schottische Zuhause der britischen Königsfamilie.
Victoria und Albert besuchten Schottland so oft, dass sie beschlossen, dort einen Zweitwohnsitz zu beziehen. Im Jahr 1852 fanden sie ihn mit Balmoral Castle, einem Anwesen in den Highlands. Im Geldadel Großbritanniens riss man sich daraufhin geradezu um schottischen Grundbesitz.
Befürwortern von Betäubungsmitteln bei der Geburt
Der gesellschaftliche Einfluss, den Victoria hatte, war mindestens so weitreichend. Als Mutter von neun Kindern spielte sie eine überraschende Rolle in der veränderten Einstellung gegenüber dem Geburtsvorgang. Sie hasste es, schwanger zu sein, und beschrieb den Zustand im Jahr 1858 mit den Worten, sie fühle sich „bewegungsunfähig“, als hätte man ihr „die Flügel gestutzt“.

Queen Victoria und Prinz Albert mit fünf ihrer Kinder im Jahr 1846.
Es gab nur wenige Dinge, die der schwangeren Königin Erleichterung verschafften. Die Schmerzen der Geburt aber wurden für sie erträglicher dank eines revolutionären neuen Ansatzes: dem Einsatz des Anästhetikums Chloroform, das ab 1847 zur Anwendung kam.
Allerdings nicht, ohne unter Medizinern eine erhitzte Kontroverse auszulösen. Manche Ärzte fürchteten, dass die Frauen während der Geburt durch das Chloroform bewusstlos werden könnten, andere argumentierten, dass Geburtsschmerzen eine natürliche Last seien, die Frauen nun einmal zu tragen hätten.
Diese Diskussionen hielten Victoria jedoch nicht auf. Als sie mit ihrem achten Kind im April 1853 in den Wehen lag, griff sie auf Chloroform zurück. Offenbar eine gute Entscheidung der Königin, die in ihrem Tagebuch schrieb: „Die Wirkung war beruhigend, lindernd und über allen Maßen angenehm.“
Weil die Monarchin Chloroform benutzte, taten andere Frauen es ihr gleich. Mit Victoria als Befürworterin verbreitete sich immer mehr die Ansicht, dass die Geburt für die Mutter nicht zwangsläufig Schmerzen bedeuten muss – und so ermächtigte die Königin Frauen dazu, bei ihrer medizinischen Versorgung stärker mitzubestimmen als zuvor.
Trauern als lebenslanges Ritual
Queen Victoria erlebte aber auch Schicksalsschläge – der härteste war vermutlich der Verlust der großen Liebe ihres Lebens. Nach dem Tod von Prinz Albert im Jahr 1861 setzte die Königin in Sachen Trauer neue Maßstäbe.
„Nach Alberts Tod ließ sie den Raum, in dem er gestorben war, unverändert, abgesehen von einigen Schmuck- und Erinnerungsstücken, die sie darin deponierte“, so Goodsir.
Sogar für die damalige Zeit war die Trauer der Monarchin extrem. „Eine aufwändige Traueretiquette war normal, doch meistens gaben Witwen sie nach ein paar Jahren auf – oder tauschten ihre schwarze Trauerkleidung zumindest gegen etwas Graues oder Lavendelfarbenes“, sagt Chrisman-Campbell. „Victoria aber trug bis zum Ende ihres Lebens schwarz und schränkte ihre öffentlichen Auftritte auf ein Mindestmaß ein.“

In den 1890er Jahren hatte Queen Victoria Jahrzehnte der Trauer hinter sich. Ihr schwarzes Gewand war fester Bestandteil ihrer Identität. Ihre hingebungsvolle Trauer veränderte die britischen Sitten und führte zu einer strengeren Etikette in Bezug auf Kleidung und Gedenken.
Nach Jahren der Abwesenheit verlor das Volk jedoch das Verständnis für die Zurückgezogenheit der Regentin, sodass sie schließlich wieder in der Öffentlichkeit erschien. Ihre Trauerkleidung legte sie aber nicht ab.
Inspiriert von der unerschütterlichen Trauer der Königin veränderte sich die Etikette hinsichtlich des Gedenkens der Verstorbenen auch im Rest der Gesellschaft. Laut der Historikerin Lou Taylor war der Einfluss der verwitweten Königin zweifellos „einer der Hauptgründe für die weite Verbreitung von Trauerkleidung und -etikette in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.comveröffentlicht.
