
Vom Mythos zum Monster: Als der Drache im Mittelalter zum Teufel wurde
Dieses Werk im spanischen Stil ist um das Jahr 1405 in Italien entstanden. Es zeigt den Erzengel Michael, der im Begriff ist, den siebenköpfigen Drachen der Apokalypse zu töten.
Die meisten Menschen kennen Drachen aus modernen fantastischen Geschichten wie denen aus der Feder von R. R. Tolkien. Ihre Wurzeln reichen aber viel weiter zurück. In den Mythen der Antike finden sich eine Vielzahl von Kreaturen mit drachen- und schlangenähnlichen Merkmalen. So soll Marduk, der Hauptgott des babylonischen Pantheons, die Göttin Tiamat, die in Gestalt eines vierköpfigen Drachens auftritt, im Zweikampf besiegt und aus ihren Körperhälften Himmel und Erde erschaffen haben. Im antiken China verehrte man Drachen, weil sie Wasserquellen beschützten und für Gesundheit, Stärke und Glück standen.
Auch in der griechischen Mythologie tauchten bösartige Schlangenwesen auf. Zum Beispiel in der Herkulessage, zu deren Beginn die Göttin Hera dem neugeborenen Halbgott zwei Schlangen in die Wiege legt, um ihn zu töten. Später erhält Herkules von König Eurystheus die Aufgabe, die Hydra von Lerna zu töten – ein gigantisches, schlangenartiges Seeungeheuer mit neun Köpfen. Doch die antiken Griechen kannten auch drákōntes: riesige Schlangen, die Menschen, Orte oder magische Objekte beschützten und Symbole für die unbezwingbare Kraft der Natur waren.

Dieses Mosaik, das im dritten Jahrhundert im mittelitalienischen Otricoli angefertigt und später in den Boden des Runden Saals im vatikanischen Museo Pio-Clementino eingelassen wurde, zeigt ein drachenartiges Seeungeheuer.
Ein neuer Zeitgeist: das Christentum
Im Mittelalter wurde das in den antiken Mythen geschaffene Bild der Kreaturen weiterentwickelt. Im Jahr 313 n. Chr. wurde das Mailänder Edikt erlassen, das den Weg für die Verbreitung des Christentums im Römischen Reich ebnete. Im Jahr 380 n. Chr. erklärte Kaiser Theodosius I. es zur Staatsreligion. In diesem Zusammenhang wurde der Drache dem Zeitgeist angepasst und auf Linie mit den nun herrschenden Glaubensvorstellungen gebracht.
Deutlich wird dies unter anderem in Gemälden aus den christlichen Katakomben in Rom oder in Reliefs auf frühchristlichen Sarkophagen, die Drachen mit dem Teufel in Verbindung setzen. In der christlichen Ikonografie jener Zeit finden sich oft Darstellungen von Heiligen, die im Kampf gegen drachenähnliche Monster siegreich sind – ein Symbol für den Triumph der Kirche über heidnische Kulte und Ketzerei.

Darstellung des Kampfes von Erzengel Michael mit einem Drachen an einem französischen Bischofsstab aus dem 13. Jahrhundert.
In der Offenbarung, dem letzten Buch des Neuen Testaments, spielt ein roter Drache mit sieben Köpfen eine zentrale Rolle. Mit einem Schwanzschlag wischt die Bestie, die an die Hydra aus der griechischen Mythologie erinnert, ein Drittel aller Sterne vom Himmel. Dann gelingt es Erzengel Michael, sie zu besiegen und aus dem Himmel zu schleudern. Im Buch Genesis ist es eine Schlange, die Eva dazu verführt, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu pflücken und dadurch die Erbsünde – den sogenannten Sündenfall – zu begehen. Auch die Seeungeheuer der griechischen Mythenwelt tauchen in der Bibel an verschiedenen Stellen auf, zum Beispiel in Form des Leviathans oder eines großen Fischs – in der hebräischen Bibel dag gadol genannt –, der den Propheten Jona verschluckt.
Je nach Weltregion und kulturellem Hintergrund war das Aussehen von Drachen sehr unterschiedlich. Das Bild, das sich im Mittelalter durch Beschreibungen in den Etymologiae verbreitete, geht auf den Verfasser dieser Enzyklopädien, den Bischof und Gelehrten Isidor von Sevilla, zurück. Basierend auf verschiedenen antiken Quellen ordnete der spanische Theologe Drachen der Familie der Schlangen zu und erklärte sie zu den größten aller Tiere. Den Etymologiae – Buch XII, Kapitel IV – zufolge waren sie in Äthiopien und Indien heimisch, lebten in Höhlen, konnten fliegen und erlegten ihre Beute weder durch einen Biss noch mit Gift, sondern mithilfe ihres Schwanzes, mit dem sie sie erschlugen oder erwürgten.

Das Relief des Tympanons der Kirche Saint-Pierre in Beaulieu-sur-Dordogne, Frankreich, aus dem 12. Jahrhundert zeigt mehrere Fantasiegestalten – darunter auch einen mehrköpfigen Drachen, wie er in der Offenbarung erwähnt wird.
Den Menschen im vorwiegend christlich geprägten Äthiopien waren Legenden von Drachen nicht fremd. Der heilige Georg, Schutzpatron dieses und einiger anderer Länder und Regionen, wird in der christlichen Ikonografie als Drachentöter dargestellt – und in Äthiopien als Kämpfer gegen Feinde, die es kolonisieren.

Auf diesem Relief aus dem frühen 13. Jahrhundert aus der Kirche San Leonardo in Zamora, Spanien, aus dem frühen 13. Jahrhundert, zertritt ein Löwe, der stellvertretend für Jesus Christus steht, den Drachen der Sünde.
Während Drachen in der byzantinischen Kultur ausschließlich schlangenartige Merkmale aufwiesen, nahmen sie in der westlichen Welt des Mittelalters viele verschiedene äußere Formen an – von der Katze über den Hund bis zum Vogel. Diese formwandelnde Eigenschaft des mittelalterlichen Drachens unterstrich seine Verbindung zum Teufel. In der romanischen Kunst des 11. und 12. Jahrhunderts finden sich verschiedene Darstellungen der Wesen. Mal haben sie Flügel, mal katzen- oder hundeartige Gesichter. Ihre Haut ist schuppig, die Ohren sind lang, an ihren Schwanzspitzen sitzen pflanzenartige Gebilde. In manchen Bildnissen erinnern Drachen eher an einen Greif – ein mythisches Mischwesen aus der Antike mit Kopf, Oberkörper, Vorderbeinen und Flügeln eines Adlers und dem Hinterteil eines Löwen.
Die Drachen auf Kapitellen, Kragsteinen und Tympana von Kirchen und Klöstern jener Zeit greifen oft Ritter, Heilige oder Wesen wie Lämmer oder Löwen, die Jesus Christus symbolisieren sollen, an. Drachen, Meerjungfrauen, Harpyien, Affen und andere ,böse‘ Kreaturen in der Architektur der Gotteshäuser waren eine Warnung für die Gläubigen, die sie betrachteten und meist nicht lesen konnten. Denn die fürchterlichen in Stein gemeißelten Bestien sollten an die Qualen erinnern, die Sünder in der Hölle erwarteten, und daran, dass ein tugendhaftes Leben sie vor ihnen bewahren konnte.
Die Darstellungen verbreiteten sich in ganz Europa und erreichten durch die wachsende Beliebtheit von Pilgerreisen nach Rom oder ins spanische Santiago de Compostela ein breites Publikum.
Bestiarien: fantastische Enzyklopädien
Im 12. und 13. Jahrhundert wurden in Europa Bestiarien populär. In diesen Sammlungen von Tierdichtungen und -sagen ging es allerdings nicht um den naturgeschichtlichen Hintergrund von Tieren, sondern um ihren symbolischen Sinn in christlichen Allegorien. Lockender Vogelgesang stand zum Beispiel für die Gefahr der Verführung, während Biber aufgrund des mittelalterlichen Glaubens, sie würden sich selbst kastrierten, Keuschheit repräsentierten. Tatsächlich existierende Spezies wurden in den Bestiarien Tieren aus der Fantasiewelt gegenübergestellt – und zu diesen zählten auch der Drache.

Diese Miniatur, die ein Krokodil mit einem menschenähnlichen Kopf, Löwenkörper und Drachenschwanz zeigt, erschien in der Enzyklopädie Liber floridus, die zwischen 1090 und 1120 verfasst wurde.
Seine stärkste Waffe laut den Bestiarien sein Schwanz, mit dem er sogar große Tiere wie Elefanten bewegungsunfähig machen konnte. Trotz seiner Bösartigkeit und Verbindung zum Teufel gab es eine Sache, vor der er sich fürchtete: den Schatten des Peridexions. Dabei handelt es sich um einen mythischen Baum, der im Physiologus erwähnt wird, einer frühchristlichen Sammlung von Tierdichtungen. Der Baum soll demnach in Indien wachsen und Tauben beherbergen, die für die Reinheit der Seele stehen. In den Zweigen des Baums sind sie sicher vor Angriffen durch Schlangen – und damit auch Drachen. Das Peridexion ist somit ein Symbol für die Erlösung.
Fledermäuse und Eidechsen: Anatomie des Drachen
In der Kunst der Gotik, die sich ab dem 13. Jahrhundert entwickelte, wurden Darstellungen von Drachen komplexer. Die Wiederentdeckung der Schriften Aristoteles über die Natur und das Studium arabischer Abhandlungen über die Optik waren nur zwei Auslöser dafür, dass man sich bei Darstellungen der Natur in jener Zeit stärker auf tatsächliche Beobachtungen und Erfahrungen konzentrierte.
In Darstellungen dieser Zeit weisen Drachen besonders starke Ähnlichkeiten mit echten Tieren wie Reptilien, Amphibien oder Raubvögeln auf. Laut dem Kunsthistoriker Jurgis Baltrušaitis haben gotische Drachen oft dünnhäutige Flügel, die an die von Fledermäusen oder Motten erinnern, einen sichtbaren Kamm am Kopf, einen langen Schwanz und mit Dornen besetzte Haut. Immer öfter wurden Drachen, basierend auf echten Eidechsen und Krokodilen, als Vierbeiner dargestellt. Im ausgehenden Mittelalter war das monströse Gesicht des gotischen Drachen zum Sinnbild für den Teufel selbst geworden.
In vielen Legenden und Hagiographien, die sich mit dem Leben Heiliger befassen, spielen Drachen eine wichtige Rolle. So erreichen Heilige durch das Töten eines Drachen oder einer ähnlich schlangenhaften Kreatur die Erlösung. Patrick von Irland soll beispielsweise alle Schlangen aus dem Land vertrieben, Hilarion von Gaza einen Drachen auf einen Scheiterhaufen gelockt und dort verbrannt haben. Der Legende nach traf auch Marcellus von Paris – ein Bischof, der im 5. Jahrhundert starb – auf einen Drachen, der die Grabstätte einer Heidin bewachte und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte. Voller Gottvertrauen näherte er sich der Bestie, berührte ihren Kopf mit seinem Bischofsstab und befahl ihr, die Stadt zu verlassen.

Diese Darstellung aus dem Stundenbuch der Anne de Bretagne zeigt die Heilige Margareta von Antiochia, die unversehrt dem Leib eines Drachens entkommen ist, der sie zuvor verschlungen hat.
Viele der Geschichten waren weitreichend bekannt und beliebt – auch dank der Legenda aurea, einer Sammlung von Heiligengeschichten, die um das Jahr 1256 von Jacobus de Vorgraine, dem damaligen Bischof von Genua, zusammengetragen wurden. Eine der darin enthaltenen Erzählungen ist die von Margareta von Antiochia, die zur Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian um 303 n. Chr. vom damaligen Statthalter Olibrio aufgefordert wurde, ihrem Glauben abzuschwören und ihn zu heiraten. Als sie sich weigerte, ließ er sie verhaften. In ihrer Zelle hatte sie dann eine Begegnung mit einem Drachen, die ihr Mitinsasse Timotheus so beschrieb: „Nachdem sie ihr Gebet beendet hatte, gab es ein großes Beben [...]. Ein riesiger und furchterregender Drache mit vielfarbiger Haut tauchte aus einer Ecke auf. Sein Kamm und sein Bart waren wie Gold. Seine Zähne blitzten und seine Augen waren wie Perlen. Feuer und Rauch quollen aus seinen Nasenlöchern. Seine Zunge war wie ein Schwert. Schlangen waren um seinen Hals geschlungen.“
Die furchterregende Kreatur verschlang Margareta, doch mithilfe des Zeichens des Kreuzes befreite sie sich aus dem Leib des Drachen und entkam ihm unversehrt.
In den Schriften des 12. und 13. Jahrhunderts wimmelt es nur so vor Drachen. Oft verzieren sie Großbuchstaben am Anfang von Absätzen, um die sie herumschleichen oder von denen sie herunterhängen. Häufig werden ihre Zungen genutzt, um wichtige Wörter zu unterstreichen, und an den Seitenrändern kämpfen sie gegen Ritter oder seltsame Wesen. Die Idee hinter diesem kreativen Einsatz von Drachenabbildungen war, die Aufmerksamkeit der Leserschaft zu gewinnen und den Prozess des Lesens dynamischer und unterhaltsamer zu gestalten.
In vielen mittelalterlichen Erzählungen ist der dunkle Wald das Zuhause des Drachen. So auch in einer aus der Legenda aurea über Martha von Bethanien, einer Anhängerin Jesu, die mit ihrer Familie nach Frankreich vertrieben wurde. Am Ufer der Rhône, in deren Nähe sie lebte, trieb der schreckliche Drache Tarasque sein Unwesen – eine Gefahr für alle, die durch den nahen Wald reisten. Martha näherte sich ihm mit zwei Stöcken, die sie zum Kreuz zusammenhielt, begoss ihn mit Weihwasser, sang ihn in den Schlaf und führte ihn an einem Seil in das nahe Dorf Nerluc, wo Tarasque von den Bewohnern mit Spießen und Steinen getötet wurde.

Eine Darstellung aus dem Stundenbuch von Henry VIII, das um 1500 entstand, zeigt die heilige Martha von Bethanien mit dem Drachen Tarasque, den sie bezwingt, bevor er getötet wird.
Heilige und Ritter als Drachentöter
Das grausame Ermorden von Drachen mausert sich im Mittelalter, vor allem in Geschichten, in denen heldenhafte Ritter die Hauptrolle spielten, zu einem der beliebtesten Themen. Im frühmittelalterlichen Heldengedicht Beowulf bewacht ein Drache einen wertvollen Schatz. Als ihm ein Kelch gestohlen wird, greift er Menschen an, was den Titelheld dazu veranlasst, ihn zu töten. Der Drache, der einen Ort, Gegenstand oder Menschen beschützt und überwunden werden muss, ist ein wiederkehrendes Motiv. Auch in der Artussage muss Sir Lanzelot Drachen besiegen, die das Tal ohne Wiederkehr bewachen.

Diese Miniatur des französischen Künstlers Robert de Boron aus dem 13. Jahrhundert zeigt Sir Lanzelots Kampf mit zwei geflügelten Drachen, die das Tal ohne Wiederkehr bewachen.
Doch die berühmteste Drachen-Geschichte der mittelalterlichen Welt ist die des Heiligen Georg: ein römischer General aus dem heute türkischen Kappadokien, der zum Christentum übergetreten war. Georg erfährt, dass der König der Stadt Silene seine Untertanen an einen Drachen verfüttern muss, um diesen zu bändigen. Als die Tochter des Königs das nächste Opfer werden soll, fordert Georg den Drachen heraus und verletzt ihn zunächst nur mit seiner Lanze. Auf das Versprechen der Stadtbewohner, im Fall eines Siegs über den Drachen zum Christentum zu konvertieren, kehrt Georg zu ihm zurück und schlägt ihm den Kopf ab. Später wird Georg unter Diokletian zum Märtyrer.
In Darstellungen des ausgehenden Mittelalters tragen sowohl Georg als auch der Erzengel Michael typischerweise eine zeitgenössische Ritterrüstung. Der kämpfende Heilige verkörperte die Ideale der Tapferkeit und Selbstlosigkeit, die wesentlicher Bestandteil der mittelalterlichen Ritterlichkeit waren. Es ist darum wenig überraschend, dass sowohl die Legende von Georg als auch die von Michael zu dieser Zeit besonders populär waren.
Im Gegensatz zum Helden symbolisierte der Drache alles, was chaotisch, wild, sündhaft und dämonisch war und das es zu unterdrücken und zerstören galt. Er war in gewisser Weise ein Tier, aber er war auch ein Ungeheuer: seltsam, ungewöhnlich, magisch. Vermutlich sind es diese Aspekte des Drachen, die ihn durch die Jahrhunderte getragen und dazu geführt haben, dass er sich in der heutigen Popkultur so großer Beliebtheit erfreut.
