Kommt, gute Geister!

Sie tragen bunte Kostüme, verbrennen Weihrauch und suchen in Trance die Kraft ihrer Ahnen und der Natur. Schamanen haben regen Zulauf, vor allem in der Mongolei.

Von David Stern
bilder von Carolyn Drake
Foto von Carolyn Drake

Nergui steht mitten im Raum, schwankt leicht hin und her und singt: «Großer Himmel, komm herbei.» Mit geschlossenen Augen greift er nach einem Büschel bunter Stoffstreifen. Seine Stimme ist rau, die Melodie wiederholt sich wie in einer Ballade aus uralter Zeit: «O, großer blauer Himmel, der du meine Decke bist, komm zu mir.»

Nergui ist ein böö. So wird in der Mongolei ein männlicher Schamane genannt. Er gilt als Mittler zwischen der sichtbaren Welt und der Sphäre der Geister. Menschen wie er lassen in der Mongolei und in Sibirien , aber auch in vielen anderen Ländern rund um den Erdball alte Traditionen wieder aufleben.

Nach einer Phase der Meditation und des Singens fällt Nergui in Trance. Er ist bereit, den Geist aus der unsichtbaren Welt in seinen Leib eintreten zu lassen. «O Geist, bitte erlaube dem goldenen Kuckuck, mich zu dir zu führen.» Wir sitzen zu acht um ihn herum, auf Hockern und Metallbetten, die an die Wand des einzigen Raums seiner Holzhütte geschoben sind. Draußen hat es an diesem Tag Mitte November zwölf Grad unter null. Es ist kurz nach Mittag, nach chinesischem Tagesablauf „die Stunde des Pferdes“, für Nergui die perfekte Zeit, um eine Reise in eine andere Welt anzutreten.

«Himmel des Wolfs, bitte hilf mir. Ein Mann in Not ist gekommen, mit einem Herzen voll Frieden. Großer Himmel, bitte komm.» Nergui ist von schmächtiger Gestalt. Sein melancholisch-missmutiger Gesichtsausdruck erinnert mich ein wenig an den Schauspieler Walter Matthau. Er ist unrasiert und trägt eine traditionelle braune mongolische Kutte, die del, dazu einen gelben Gürtel. Um den Hals eine blaue Seidenschärpe. Abgenutzte blaue Cordhosen blitzen unter der Kutte hervor. Seine Füße stecken in speziell gefertigten Schamanenstiefeln aus Rentierleder.

Nergui gehört zur Volksgruppe der Darhad, die in der nördlichen Mongolei nahe der russi­schen Grenze leben. Sie umfasst etwa 20 000 Menschen und hat ihre nomadische Lebensweise weitgehend bewahrt. Tagsüber versorgt Nergui seine Rinder, Ziegen, Schafe und Pferde. Aber die Darhad praktizieren auch Schamanismus, er ist Teil ihres Alltags. Der hat sich hier seit langer Zeit kaum verändert, auch weil das Volk so abgeschieden lebt. Zu meiner Anreise aus der mongolischen Hauptstadt Ulan­Bator gehörte zunächst ein holpriger Flug und danach eine knochenbrecherische 13­stündige Autofahrt in einem klapprigen Bus aus Sowjetzeiten, über zugefrorene Flüsse, eisige Pässe und die schneebedeckte Tundra.

Nerguis Gesang wird schneller, sein Schwanken ähnelt jetzt mehr einem Tanz. Er gibt an­ feuernde Töne von sich und schwingt sein Stoffbüschel, als wolle er ein Pferd antreiben. In einem schmiedeeisernen Gefäß brennen Wacholderzweige, der intensiv duftende Rauch soll Geister anlocken. An den Wänden hängen Decken, damit die Wärme nicht entweicht. Sie lassen den Raum noch enger wirken. In der Ecke gegenüber der Tür liegt eine Sammlung von Amuletten, Figürchen, bunten Schals, Stofffetzen und anderen Talismanen – ein Schrein für Nerguis Schutzgeister.

Plötzlich bricht Nergui zusammen. Zwei Helfer fangen ihn auf, er heult wie ein Wolf. Dann lacht er wie ein Dämon in einem Horrorfilm. «Nun ist der Geist in ihn gefahren», flüstert Saja Oldow, meine Übersetzerin.

Sie bringen ihn ans Ende des Raums, er setzt sich mit überkreuzten Beinen hin, die Augen geschlossen. Einer nach dem anderen tritt vor ihn. Der Schamane – oder der Geist, der durch ihn spricht – erzählt jedem etwas aus seiner Vergangenheit, ehe er einen Rat erteilt.

Dann bin ich an der Reihe und knie mich vor ihn hin. «Du warst sehr still, als du jung warst.» Nerguis Stimme ist nun tiefer, selbstsicher. «Du liebst Tiere. Wo immer du hingegangen bist, hast du anderen Geschenke gemacht, das hat sie zum Lächeln gebracht.» Alles richtig, aber auch so vage, dass es fast auf jeden zutreffen könnte.

Er fährt fort: «Du hast ein unverwechselbares Mal auf der rechten Seite, unter der Achselhöhle.» Das stimmt nicht, meine Haut dort ist ohne Makel. Dann wird es rätselhaft: «Ein Mann mit dem Zeichen des Hundes und des Schafs wird dir bald helfen.» Nergui schließt mit den Worten: «Mit der mir verfügbaren Macht werde ich für deine Familie und für die sorgen, die dir nahestehen. Nimm diese Wacholderzweige und verbrenne sie in deinem Haus.»

Ich nehme sie, dann streckt er seine Hand aus und reicht mir noch etwas: «Dies ist der Fußknöchel eines Wolfes. Stecke ihn in deine rechte Tasche. Er wird dich vor Unheil bewahren.» Nergui bewegt seinen Oberkörper im Kreis und breitet die Arme aus. Langsam fällt die Trance von ihm ab. In seinen Augen steht Angst. Oder ist es Schmerz? Er atmet stoßweise. Seine Frau Tschimdschi, ein hageres Wesen in blaugrauer Kutte und grünem Kopftuch, steckt ihm eine brennende Zigarette in den Mund. Am ganzen Leib zitternd, zerkaut Nergui die Zigarette samt der Glut und schluckt sie hinunter.

Dann wird er ruhiger. Eine zweite Zigarette wird ihm angeboten, jetzt raucht er sie. Tschimdschi lächelt ihren Mann an. «Hattest du eine gute Reise, Liebster?», fragt sie.

Das Wort „Schamane“ kommt ursprünglich aus der Sprache der Ewenken in Sibirien, aber Schamanen gibt es heute in vielen Kulturen auf allen Erdteilen – auch in großen westlichen Städten wie London, Boston und Berlin. Schamanen glauben, dass wir von Geistern umgeben sind, die uns beeinflussen und unser Schicksal lenken. Schamanen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Kontakt zu diesen Geistern herstellen können. Innerhalb ihrer Gesellschaften nehmen sie oft eine herausragende Stellung ein. Mal sind sie Ärzte, mal Priester, Mystiker, Psychologen, Dorfälteste, Orakel oder Poeten.

Auf Messerklingen tanzen? Erleben Sie mit NATIONAL GEOGRAPHIC den Initiationsritus von Schamanen in Südkorea:

Dabei ist es bis heute nicht gelungen, präzise zu bestimmen, was Schamanismus ist. «Man sollte von Schamanismen sprechen, also von der Mehrzahl», sagt Marjorie Mandelstam Balzer, eine Anthropologen an der Georgetown-Universität in Washington, D.C. Noch zurückhaltender formuliert es die Ethnologin Gabriele Herzog-Schröder, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt: «Ich ziehe es vor, von schamanistischen Vorstellungen und Methoden zu sprechen.»

Der Glaube, die Praktiken und Rituale sind von Schamane zu Schamane und in jeder Kultur verschieden. Aber einige Gemeinsamkeiten gibt es, ob in Sibirien, bei den Indianern Nordamerikas, am Amazonas, bei den Buschleuten in Südafrika oder den Aborigines in Australien. Grundlage des Schamanismus ist immer ein bestimmtes Weltbild, die Überzeugung, dass es neben oder über unserer Welt weitere Welten gibt, in denen Geister wohnen. Schamanen fungieren als Türöffner in diese Welten.

Notwendige Voraussetzung, um in Kontakt mit den Geistern zu treten, ist ein Zustand der Trance, der Ekstase. Dieser Zustand der „Seelenreise“ kann auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden, durch Trommeln, Singen, Tanzen, Meditation oder Drogen.

Am Anfang steht bei jedem Schamanen die Initiation: der Akt, in dem ein Mensch akzeptiert, dass er zum Schamanen ausersehen ist. Dieser Prozess kann durchaus schmerzhaft sein.

Hier enden die Gemeinsamkeiten. Wie Schamanen ihre Requisiten einsetzen und zu welchen spirituellen Einsichten sie kommen, kann sehr unterschiedlich sein. Das gilt auch für den Zweck des Rituals. Viele Schamanen arbeiten allein, in Städten schließen sie sich auch Organisationen an, die Berufsverbänden gleichen. Das Golomt-Zentrum für schamanistische Studien in Ulan-Bator gibt zum Beispiel an, es habe rund 10000 Mitglieder.

Die meisten Schamanen in islamisch geprägten Ländern Zentralasiens, etwa in Kasachstan und Kirgisistan, sehen sich als fromme Muslime. Ihre Riten sind von den mystischen Traditionen des Sufismus geprägt. Sie wickeln sich in jungfräulich-weiße Kittel und vollziehen ihre Rituale an heiligen muslimischen Stätten. Ausführliche Gebete aus dem Koran gehören immer dazu. In Sibirien und der Mongolei dagegen hat sich der Schamanismus häufig lokalen buddhistischen Traditionen angepasst.

In Ulan-Bator traf ich auf meiner Reise unter anderem den Schamanen Sorigtbaatar Bansar, eine imposante Figur mit durchdringendem Blick. Er hat eine eigene religiöse Einrichtung gegründet: das „Zentrum für Schamanismus und Ewige Himmlische Vervollkommnung“, das den Schamanismus mit den Weltreligionen vereinen will. «Jesus wandte schamanische Methoden an», sagt er, «auch wenn die Leute es nicht verstanden haben. Genauso Buddha und Mohammed.» Jeden Donnerstag veranstaltet Bansar am Rand einer Straße nahe des Stadtzentrums Zeremonien in seiner ger, der traditionellen mongolischen Jurte. Dutzende von Anhängern lauschen aufmerksam seinen Predigten.

Schamanen verleihen ihren Ritualwerkzeugen spirituelle Energie, machen sie „lebendig“

Nergui ist aus seiner Trance erwacht. Er öffnet die Flasche Wodka, die ich als Geschenk mitgebracht habe, und gießt jedem von uns einen Schluck in eine flache Teetasse. Ich nehme sie und bringe, ehe ich trinke, den Geistern in drei Richtungen ein Opfer dar: Ich tunke meine Finger in den Schnaps und schüttele ein paar Tropfen nach oben in die Luft, dann gen Boden; schließlich benetze ich noch meine Stirn.

«Der Schamanismus ist von Geburt an in dir», sagt Nergui und nimmt einen kräftigen Schluck. «Du kannst dir nicht vornehmen, ein Schamane zu werden, du musst von den Geistern auserwählt werden.» Das schließt in manchen Kulturen nicht aus, dass die Berufung von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. «Mein Vater ist ebenfalls Schamane», sagt Nergui. Er selber sei erst mit 25 Jahren gewahr geworden, dass er die Fähigkeit besitze, eine Verbindung zur Geisterwelt aufzubauen. «Und nun mache ich das seit 25 Jahren. Es gibt 23 Geister, die ich anrufen kann.»

Aber die Erkenntnis, berufen zu sein, ist nur der Anfang. Alle Schamanen durchlaufen eine intensive Ausbildung und erlernen die bewährten Praktiken ihrer Zunft. Diese Rituale ermöglichen die Interaktion eines Schamanen mit der Geisterwelt, sie schreiben auch die Methoden vor, mit denen den Geistern Respekt entgegengebracht wird. Schamanen verleihen ihren persönlichen rituellen Requisiten spirituelle Energie, machen sie „lebendig“. Nerguis Hilfsmittel bestehen unter anderem aus einer Trommel aus Rentierleder, einer Maultrommel, gebündelten Stoffstreifen und seinem Kostüm.

Als er begann, als Schamane zu wirken, war dies offiziell noch verboten – eine Folge der zeitweise dichten Anlehnung der Mongolei an die Sowjetunion. Zu Sowjetzeiten wurden alle Religionen unterdrückt, auch die schamanistischen Traditionen. Lange Zeit durften Schamanen nur im Verborgenen wirken. «Es gab zwei Orte, an denen wir die Rituale vollziehen konnten», erzählt Nergui. «Bei uns zu Hause, aber dann saß stets einer an der Tür und passte auf, ob Fremde kommen. Oder versteckt in den Bergen. Mit dem Ende der Sowjetunion hörten die Repressionen auf, aber erst ab 1995 durften wir wieder ungehindert praktizieren.»

Tatsächlich erlebt der Schamanismus in seinem gesamten Ursprungsgebiet in Zentralasien, Sibirien und der Mongolei eine Wiedergeburt. Nach 70 Jahren staatlich verordnetem Atheismus stillt er den gewachsenen Hunger nach Spiritualität. Und nicht nur dort: Überall in der westlichen Welt gewinnt der Kult an Kraft. Ein Beispiel dafür ist der Schamanenkongress am Mondsee bei Salzburg. Dort treffen sich seit mehr als zehn Jahren Schamanen aus fünf Kontinenten, unter anderem, um sich mit Vertretern der Schulmedizin auszutauschen.

Nergui scheint mittlerweile von einer tiefen Melancholie erfasst zu sein. «Ein Schamane ist verantwortlich für die Menschen um ihn herum», sagt er. Das sei oft eine große seelische Belastung – und eine Erklärung für den unter Schamanen häufigen Alkoholmissbrauch. «Was man tun muss, ist nicht immer angenehm», sagt er und verstummt ohne weitere Erklärung.

Die wachsende Popularität des Schamanismus macht es neuerdings schwierig, zwischen Traditionen und modischen Events zu unterscheiden. An einem Tag im August finden sich auf einer sonnigen Wiese in der russischen Republik Burjatien etwa zwei Dutzend Mitglieder einer lokalen Schamanengruppe namens Ten­ geri („Himmelsgeister“) ein. Alle sind in indigoblaue Roben gekleidet. Sie wollen ein sogenanntes tailgan abhalten, ein Kraft spendendes Ritual. Mücken schwirren durch die Luft, es riecht nach gekochtem Hammel, das Fleisch simmert in einem riesigen Topf.

Das Trommeln und der Gesang des Schamanen steigern sich zu fieberhafter Raserei

Die Schamanen singen und schlagen ihre runden Trommeln aus Tierhaut. Sie sitzen in einer Reihe mit Blick auf die heilige Stätte Bucha­Nojon – einen baumlosen Fleck auf dem Berghang gegenüber, angeblich ein Wohnort heiliger Geister. Auf Tischen sind Kerzen, Süßigkeiten, Tee, Wodka und weitere Gaben für die Geister bereitgestellt. Verkäufer bieten auf der Heckklappe ihrer SUV würzige buuza an, mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen. Kinder spielen im dürren Gras. Am Himmel kreisen zwei Adler. Man sagt mir, dies bedeute, dass die Ankunft der Geister bevorstehe.

Ich stehe mit rund 200 Zuschauern in einem Halbkreis hinter den Schamanen. Es ist eine bunte Schar: ethnische Russen, Angehörige der hier lebenden Burjaten – und eine Anzahl von Gästen aus dem Westen. Oleg Dorschijew, einer der Schamanen, sitzt konzentriert und tief nach vorn gebeugt. Das Trommeln und der Gesang des Schamanen steigern sich zu fieberhafter Raserei. Plötzlich hält er inne und steht auf: Ein Geist hat von ihm Besitz ergriffen.

Dorschijew nähert sich einer Seite der Zuschauer. Sein Kopfschmuck ähnelt dem Helm eines Kriegers, sein Gesicht ist hinter einem Vorhang dünner schwarzer Troddeln nur schwer zu erkennen. Seine Schritte wirken mechanisch, sein Atem geht schwer. Die Leute wenden ihren Blick von ihm ab. «Es ist verboten, einem Schamanen in die Augen zu schauen, wenn ein Geist in ihm ist», sagt mein Nachbar. «Das kann üble Folgen für dich haben.»

Ein Helfer bringt einen Hocker, der Schamane setzt sich, etwa 20 Zuschauer drängen sich um ihn, einige auf Knien, andere werfen sich auf den Boden. Sie stellen ihm Fragen: «Warum habe ich keinen geschäftlichen Erfolg? Warum werde ich nicht schwanger?» Dorschijew antwortet mit tiefer, heiserer Stimme.

Andere Schamanen sind mittlerweile gleichfalls in Trance und halten Hof. Einer, mit Hörnern auf seinem Kopfputz, fordert Wodka, sein Geist verlange danach. Ein anderer spricht mit Fistelstimme, als sei er von einer Frau besessen. Für Dorschijews Geist wird es nach 20 Minuten Zeit, sich zu verabschieden. Helfer führen ihn ein paar Meter zur Seite und lassen ihn auf und ab hüpfen. Er setzt den Kopfschmuck ab und blinzelt in die Sonne. Ende der Trance.

Tage später besuche ich ihn in seinem einfachen Büro am Hauptsitz der „Himmelsgeister“. Es liegt am Rand von Ulan­Ude, der Hauptstadt von Burjatien. Vor dem flachen Holzhaus steht eine Skulptur mit dem Umriss eines Weihnachtsbaums, geschmückt mit blauen Fähnchen, Elchgeweihen und einem Bärenschädel.

«Ehe ich in Trance falle, fühle ich, wie eine seltsame Kraft, eine Energie immer näher an mich heranrückt», sagt Dorschijew. «Man kann sie nicht sehen, es ist etwas wie ein menschlicher Umriss im Nebel. Wenn sie näher kommt, sehe ich, wessen Geist es ist. Jemand, der vor langer Zeit lebte. Er nimmt von mir Besitz, mein Bewusstsein schwindet», fährt er fort. «Es reist an einen Ort, der schön ist. Und der Geist be­ stimmt, was mein Körper macht. Wenn ich fertig bin, verlässt er mich, und mein Bewusstsein kehrt zurück. Ich empfinde dann große Müdigkeit – es dauert lange, bis ich mich erholt habe.»

Bevor Dorschijew Schamane wurde, arbeitete er als Anwalt für das Justizministerium. «Ich trug Hemd und Krawatte», sagt er, «das Gehalt war gut.» Vor zwölf Jahren, er war 34, befiel ihn, was man die „Schamanenkrankheit“ nennt: eine Phase schwerer psychologischer, beruflicher, persönlicher oder körperlicher Probleme. Die Geister schicken Signale, heißt es hier. Die Probleme halten an, bis die Person nachgibt und für sich die Rolle des Schamanen annimmt.

Nach dem Ende der UdSSR leben die alten schamanistischen Kulturen wieder auf

«Mein Kopf tat weh, mein Rücken schmerzte. Da ich ein rationaler Mensch bin, ging ich zum Arzt», erzählt Dorschijew. Aber medizinisch war nichts festzustellen. «Ich kam mir vor wie ein Simulant.» Das dauerte vier Jahre. Dann erfuhr er im Laufe einer Sitzung von einem anderen Schamanen, dass er selber zu den Auserwählten gehöre. Inzwischen praktiziert er seit acht Jahren, seine Schmerzen sind verschwunden.

Im Jahr 2003 half Dorschijew mit, die Organisation Tengeri zu gründen, weil er sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen wollte. In jüngster Zeit ist Tengeri in die Kritik geraten, denn die ungeschriebene Regel sagt, dass Schamanen nie Geld verlangen. Aber einer Reihe burjatischer Schamanen haben Mitgliedern der „Himmelsgeister“ vorgeworfen, übertrieben hohe Summen für ihr Wirken zu fordern und zirkusähnliche Spektakel zu veranstalten. Allerdings gibt es unter den Schamanen heftig konkurrierende Fraktionen, so dass ein Teil der Kritik auch auf Neid beruhen kann.

«Wir nehmen keine Gebühren», verteidigt sich Dorschijew. «Wir leben von dem, was die Leute geben.» Tatsächlich habe ich nie erlebt, dass er Geld von Klienten forderte. Er lebt mit seiner Frau Tatjana, seinen beiden Söhnen und seiner Tochter in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung. Das Haus, in dem sie liegt, wird von seiner Frau verwaltet. «Unsere Einkünfte reichen fürs Brot», sagt er und lacht.

Der Schamanismus hat aber noch einen Aspekt neben dem spirituellen und dem geschäftlichen. Er wirkt als Katalysator für das Wiederaufleben der alten Kulturen in der einstigen UdSSR. An den Ufern des Baikalsees, einem der heiligsten Orte in Sibirien, erlebe ich Schamanismus als Akt der Selbstbestimmung – eine Zeremonie von Burjaten für Burjaten.

Burjaten sind ein mongolisches Volk, seine Mitglieder Buddhisten oder Christen. Vor etwa 300 Jahren wurden sie vom russischen Reich geschluckt. In der sowjetischen Ära schrumpfte ihre Bevölkerung, ihre Kultur wurde erstickt. Heute stellen die Burjaten gerade mal ein Drittel der Bevölkerung Burjatiens. Nur durch eine Bodenwelle vom Baikalsee getrennt, unter einer Wolkendecke, die man beinahe mit Händen greifen kann, haben sich drei Schamanen in grüner, violetter und blauer Robe versammelt, um von den Geistern eine gute Ernte zu erbitten. Und Einheit für ihr Volk. Sie spritzen Milch und Wodka in ein kleines Feuer und murmeln Gebetsformeln.

Schamanismus als Nationalgefühl

Neben mir steht Petr Aschunow, ein zappeliger Mann mit Pferdeschwanz, Schamane – und Anthropologe. Für ihn ist Schamanismus auch ein politisches Statement: ein Versuch der Wiedererweckung burjatischen Nationalgefühls. «Moskau fürchtet authentische Schamanen wie uns», sagt Aschunow. «Muslime kann man kontrollieren, Buddhisten ebenso, auch organisierte Gruppen wie Tengeri. Echte Schamanen aber werden sich der Kontrolle entziehen.» Er schüttet ein paar Tropfen des lokalen Schnapses tarasun – ein destilliertes Gebräu aus fermentierter Milch – als Opfer auf den Boden, ehe er selber einen Schluck nimmt.

Als ich vom Baikalsee abreise, denke ich daran, was mir Oleg Dorschijew gesagt hat. Im schamanistischen Denken stellt das Universum eine Einheit dar – ein gigantisches Netz, in dem wir Menschen mit der Umwelt, aber auch miteinander und mit den Ahnen verbunden sind. «Für uns», sagte er, «sind unsere Götter vor allem unsere Großväter und Großmütter, unsere Schutzengel. Es gibt sie wirklich. Wir lieben sie. Diese Beziehungsenergie schwindet nie.»

Diese Vorstellung hat mich bewegt, genauso wie die Wertschätzung des Individuums, der tiefe Respekt vor der Natur, der Bezug zur Vergangenheit. Keine Frage, in seiner schlimmsten Form ist Schamanismus Quacksalberei, sogar gefährlich, wenn er eine notwendige ärztliche Therapie verhindert. Auf der anderen Seite stehen aber auch Berichte über existenzielle Wandlungen und wundersame Heilungen.

2007 brachten der Amerikaner Rupert Isaac­son und seine Frau Kristin ihren fünf Jahre alten autistischen Sohn Rowan zu einem Schamanen vom Volk der Tsaatan in die Mongolei. Isaacson sagt selber, er könne nicht beweisen, dass der Schamane seinem Sohn geholfen hat. Er könne nur erzählen, was sich geändert habe: Vor der Reise habe Rowan in die Hose gemacht, ständig Wutanfälle gehabt und sei unfähig gewesen, Freundschaften zu schließen. «Als wir zurückkamen, waren diese Symptome verschwunden.» Nachzulesen in dem Buch „Der Pferdejunge“.

Mein persönliches Fazit am Ende dieser langen Erkundungsreise? So weit, zum Schamanismus überzutreten, bin ich nicht. Aber den Wolfsknochen, den Nergui mir geschenkt hat, trage ich noch bei mir. Man weiß ja nie.

(NG, Heft 2 / 2013, Seite(n) 98 bis 119)

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