Kraken: Die Macht der Acht

Oktopoden können ihre Farbe wechseln, mit den Saugnäpfen schmecken – und einige mit ihrem Gift sogar Menschen töten. Eine Begegnung mit den Meistern der Tarnung.

Von Olivia Judson
bilder von David Liittschwager
Veröffentlicht am 13. März 2018, 18:12 MEZ

Wer das Leben der Oktopusse ergründen will, muss hinabsteigen in ihr Reich. Lassen Sie uns also tauchen gehen. In Indonesien, vor der Küste der Insel Lembeh, können wir uns einfach auf den Meeresboden setzen. Hier unten, in sieben Meter Tiefe, ist das Wasser warm, und wir haben genug Licht. Der feine, grauschwarze Sand ringsherum bildet einen wellenförmigen Boden. Während wir uns umschauen, entdecken Sie das robuste, stachelige Gehäuse einer Meeresschnecke. Neugierig drehen Sie sie um – und sehen eine Reihe Saugnäpfe und ein Paar Augen.

Ein Tintenfisch. Ein Oktopus, genauer gesagt Amphioctopus marginatus, auch Kokosnusskrake genannt. Er hat die Angewohnheit, sich in weggeworfenen Kokosnussschalen zu verstecken (manchmal hebt er sie sogar vom Boden auf und trägt sie mit sich herum – man weiß ja nie …). Aber auch mit anderen Gehäusen gibt er sich zufrieden; Hauptsache, groß genug.

Mit einigen seiner Saugnäpfe hält der Krake die zwei Hälften einer Muschel fest. Während Sie ihn beobachten, lässt er sie fallen und stemmt sich ein wenig hoch. Offenbar peilt er die Lage, bevor er sich entschließt, aus dem Gehäuse zu klettern. Sein Körper hat die Größe Ihres Daumens, seine Arme sind vielleicht dreimal so lang. Als er auf den Sand kriecht, nimmt er dessen dunkelgrauen Farbton an. Ein paar seiner Arme schlängeln sich über den Sand, die anderen umgreifen das Gehäuse. Mit einem einzigen Ruck dreht er es um und fließt wieder hinein.

Dieses Weibchen gehört zu einer Art, die wissenschaftlich noch beschrieben werden muss. Es hütet seine Eier ...
Dieses Weibchen gehört zu einer Art, die wissenschaftlich noch beschrieben werden muss. Es hütet seine Eier (o.). Kurz nachdem die Kleinen geschlüpft sind, wird es sterben. Bei den meisten Kraken pflanzen sich die Weibchen nur einmal im Leben fort. Die Jungtiere sind daher von Anfang an auf sich allein gestellt.
Fotografiert im Caldwell Labor, Uc Berkeley

Als Sie gerade davonschwimmen wollen, um ihn nicht weiter zu stören, registrieren Sie eine feine Bewegung. Mit einem Wasserstrahl hat das Tier unter dem Rand seiner Behausung Sand weggespült. Sie gehen mit Ihrer Taucherbrille so nah wie möglich heran – und blicken einander einen Moment lang in die Augen.

Oktopusse, auch Kraken genannt, gehören neben Sepien und Kalmaren zu den Tintenfischen. Von allen Tieren, die keine Wirbelsäule besitzen (Invertebrata oder Wirbellose) wie Schnecken, Quallen oder Seesternen, scheinen Oktopusse dem Menschen am ähnlichsten zu sein. Sie können unseren Blick erwidern; manchmal wirkt es, als musterten sie uns. Das unterscheidet sie von manch anderem Bewohner hier unten im Meer: Die meisten Fische erwecken nicht den Eindruck, als schauten sie uns an. Aber es liegt auch an der Geschicklichkeit der Oktopusse. Mit Hunderten Saugnäpfen an jedem ihrer acht Arme können sie Gegenstände handhaben – zum Beispiel Muscheln öffnen, das Filtersystem eines Aquariums auseinandernehmen oder Deckel von Gläsern abschrauben. Bei aller Intelligenz gelingt das selbst manchen Säugetieren nicht, zum Beispiel weil sie aufgrund ihres Körperbaus nicht dazu in der Lage sind. Gleichzeitig wirken Kraken geheimnisvoll, als kämen sie von einem anderen Planeten. Da wären zunächst einmal ihre drei Herzen – ein Hauptherz und zwei Kiemenherzen – und das blaue Blut. Dessen Farbe verdanken Kraken dem Kupfer, das statt Eisen in ihrem Blut für den Transport von Sauerstoff zuständig ist und das sich in Verbindung mit diesem bläulich färbt. Wenn sie sich bedroht fühlen, verspritzen sie eine Tintenwolke und fliehen in die entgegengesetzte Richtung. Sie haben kein Knochenskelett; bis auf die Augen, den in der Körpermitte versteckten Schnabel, mit dem sie ihre Beute töten, und eine Knorpelschicht über ihrem Gehirn ist alles an ihnen weich. So passen sie durch enge Spalten und können durch diese verschwinden wie Houdini. Jeder einzelne Saugnapf kann sich isoliert bewegen und verfügt über Geschmacksrezeptoren – das ist ungefähr so, als hätten Sie Hunderte Zungen auf der Haut. Die Haut von Kraken wiederum enthält Zellen, die Licht registrieren. Und das ist noch lange nicht alles – aber lassen Sie uns erst ins Museum gehen.

BELIEBT

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    Octopus pallidus, der gedrungene, eher kurzarmige Blasse Krake, lebt vor der Südostküste Australiens. Er ernährt sich ...
    Octopus pallidus, der gedrungene, eher kurzarmige Blasse Krake, lebt vor der Südostküste Australiens. Er ernährt sich von Schalentieren.

    Im Londoner Natural History Museum treffen wir uns mit Jakob Vinther. Der Däne ist Experte für fossile Wirbellose an der Universität von Bristol in Großbritannien. Auf einem Tisch in einem kleinen, fensterlosen Büro liegt vor uns eine blasse, feinkörnige Steinplatte. Vinther zeigt auf den Abdruck eines Tintenfischs. Groß ist er nicht: Im Leben dürfte das Tier vielleicht 25 Zentimeter lang gewesen sein. Man kann den Mantel erkennen – den sackartigen Körper, der einst seine Kiemen, Herzen und anderen lebenswichtigen Organe beherbergte. Die Arme hängen locker angeordnet herunter, jeder mit Reihen von Kreisen versehen. „Diese kleinen runden Gebilde, das sind die Saugnäpfe“, sagt Vinther, „und das da ist der Tintenbeutel. Genauer gesagt ist es Pigment – chemisch erhaltenes Melanin.“

    Tintenfischfossile sind selten; Weichtiere hinterlassen im Allgemeinen keine Spuren. Dieses Fossil ist etwa 90 Millionen Jahre alt und damit eines der ältesten bekannten Exemplare. Als dieser Tintenfisch lebte, hatten die Dinosaurier noch 25 Millionen Jahre vor sich. „Er kommt aus einer Region im Libanon, wo man alle möglichen fantastisch erhaltenen Weichkörpertiere findet“, sagt Vinther. Alle wurden vor langer Zeit in feinem, kreidigem Schlamm am Boden eines längst verschwundenen Meeres begraben.

    Photographed at Florida Keys Marine Life

    So wie Menschen zur zoologischen Klasse der Säugetiere gehören, zählen Tintenfische zu den Cephalopoden. Das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt „Kopffüßer“, was sich auf ihre merkwürdige Anatomie bezieht: Die Arme sind direkt mit einer Seite des Kopfes verbunden, während sich der „Rumpf“ – der sackartige Mantel – auf der anderen Seite befindet. Cephalopoden wiederum gehören zum Stamm der Weichtiere oder Mollusken, dem auch Schnecken (sowohl Nacktschnecken als auch solche mit Gehäuse) und Muscheln zugeordnet werden.

    Cephalopoden entwickelten sich vor mehr als 500 Millionen Jahren – lange bevor Fische entstanden – aus einem kleinen Tier mit einer Schale, die wie ein Hexenhut aussah. Die schalentragenden Kopffüßer gehörten zu den ersten und zu den gefährlichsten Räubern in den urzeitlichen Ozeanen. Manche von ihnen scheinen gewaltig gewesen zu sein: Die Schale eines lange ausgestorbenen Endoceras giganteum war womöglich mehr als sechs Meter lang. Heute gibt es über 750 bekannte Cephalopodenarten. Neben den ungefähr 300 Krakenarten mit acht Armen gehören dazu eine Vielzahl von Kalmaren und Sepien mit jeweils zehn Armen sowie einige Nautiliden – seltsame Tiere, die rund 90 Tentakel haben (die Anzahl variiert von Art zu Art) und in Schalen leben.

    Die heute lebenden Kraken sind ein bunt gemischter Haufen. Der Pazifische Riesenkrake (Enteroctopus dofleini) heißt nicht ohne Grund so. Jeder Arm eines großen Exemplars kann zwei Meter lang werden, das ganze Tier mehr als hundert Kilo wiegen. Andere wie der Pygmäenkrake (Octopus wolfi, auch Sternsaugnapf-Zwergkrake) sind winzig und wiegen ungefähr 30 Gramm. Manche Oktopusse haben einen kleinen Beutel, aber ungeheuer lange Arme; andere sind ausgewogener proportioniert. Die meisten turnen auf Korallen herum oder tummeln sich im Schlamm oder Sand und schwimmen nur, wenn sie es müssen, etwa wenn sie vor einem Räuber fliehen. Ein paar wenige haben Gefallen daran gefunden, mit der Strömung zu schwimmen. Von den Tropen bis zu den Polen, vom Korallenriff bis zum Sandwatt, von der Gezeitenpfütze bis zum Tiefseegraben: Überall kann man Kraken finden. Wenn man sie denn entdeckt.

    Um zu verstehen, was damit gemeint ist, sollten wir am besten noch einmal nach Lembeh zurückkehren. Es ist ein sonniger Morgen, und diesmal schwimmen wir über ein flaches Riff. Plötzlich gibt uns der Tauchführer ein Handzeichen – er hat einen Oktopus entdeckt. Einen großen. Wo? Sie schauen angestrengt in die Richtung, in die er zeigt. Nichts. Oder doch? Das Stück dunkle, samtige Koralle gleich da drüben. Das ist gar keine Koralle, sondern ein Großer Blauer Krake, Octopus cyanea. Er staunlich, dass man ihn so leicht übersehen kann: Er ist immerhin so groß wie ein Speiseteller.

    This algae octopus, 
Abdopus aculeatus, has just inked. Octopuses release ink when they feel threatened; the ...
    This algae octopus, Abdopus aculeatus, has just inked. Octopuses release ink when they feel threatened; the ink swirls into a dark cloud that distracts predators. The adaptation is ancient: Ink sacs are present in fossils of octopus ancestors that are more than 300 million years old.
    Photographed at Dive Gizo, Solomon Islands

    Tintenfische und Sepien, die in flachem Wasser leben und tagsüber jagen, sind Meister der Tarnung. Auf den ersten Blick keine außergewöhnliche Fähigkeit. Schauen Sie sich um. Der orangefarbene Schwamm dort ist ein auf der Lauer liegender Fühlerfisch. Er wartet, bis unachtsame Beute vorbeikommt. Oder das Blatt, das gerade über den Sand treibt: ein Fisch, der sich als Blatt tarnt. Und jenes Blatt dort hinten, das über den Sand wuselt? Ein Krebs hat es mitgenommen und sich in den Panzer gesteckt. Die kleine Anemone da: eine Meeresschnecke, die wie eine Anemone aussieht. Und überall stehen Sandflecken auf und spazieren umher – dann sind es kleine Krabben mit sandfarbener Schale – oder schwimmen, wenn es gut getarnte Plattfische sind, davon.

    Im Vergleich zu all diesen Tieren tarnen sich Oktopusse und Sepien (und in geringerem Maß auch Kalmare) noch viel raffinierter: Sie können ihr Äußeres spontan an die Situation anpassen. Mal sehen sie aus wie eine Koralle, im nächsten Moment wie ein Algenbüschel und gleich darauf wieder wie ein Haufen Sand. Wie gelingt ihnen das?

    Um mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, wenden Kraken drei Strategien an. Die erste: Sie wechseln ihre Farbe mithilfe eines Systems von Pigmenten und Reflektoren. Die Pigmente – meist Gelb-, Braun- und Rottöne – lagern in Tausenden winzigen Beuteln in der obersten Hautschicht. Wenn die Beutel geschlossen sind, sehen sie aus wie kleine Pünktchen. Um das Pigment zum Vorschein zu bringen, kontrahiert ein Tintenfisch die Muskeln rund um den Beutel, sodass der sich öffnet und die Farbe sichtbar wird. Je nachdem welche Beutel sich zur gleichen Zeit öffnen oder schließen, kann er von einem Augenblick auf den anderen Muster erzeugen, etwa breite und schmale Streifen oder Punkte. Von den reflektierenden Zellen gibt es zwei verschiedene Arten. Die erste wirft das ankommende Licht zurück, sodass die Haut in weißem Licht weiß erscheint, in rotem Licht rot und so weiter. Die zweite Art schillert wie eine Seifenblase, die aus verschiedenen Winkeln betrachtet unterschiedliche Farben aufweist. Reflektoren und Pigmentorgane zusammen ermöglichen es einem Kraken, eine enorme Palette an Farben und Mustern hervorzubringen.

    Zweitens verfügen Kraken über spezielle Muskeln, mit denen sie auch die Oberfläche ihrer Haut verändern – war diese eben noch glatt, kann sie plötzlich uneben und stachelig werden. Manche Arten sind extrem wandlungsfähig. Der Abdopus aculeatus schafft es, für eine bestimmte Zeit wie Seetang auszusehen. Der Haarige Oktopus – eine Art, die wissenschaftlich noch beschrieben werden muss – hat sogar ein permanent büschelartiges Aussehen entwickelt und ist nur schwer von Rotalgen zu unterscheiden.

    Bleibt noch das dritte Element erfolgreicher Tarnung: Oktopusse können ihre Körperhaltung so verändern, dass sie in ihrer jeweiligen Umgebung kaum auffallen. Manche Arten rollen sich wie ein Korallenstück zusammen und kriechen mit nur zwei Armen langsam über den Meeresboden.

    Wie konnten die Oktopusse im Laufe von vielen Millionen Jahren ihre Tarnung derart perfektionieren? Die Antwort ist einfach: Sie haben es der Evolution zu verdanken. Etliche Tierarten – Aale, Delfine, Fangschreckenkrebse, Kormorane, viele Fische, sogar andere Kraken – ernähren sich liebend gern von ihrem Fleisch, weil die Tiere keine Knochen haben und in einem Stück verschlungen werden können. Für Mark Norman, Cephalopodenexperte am Museum Victoria in Melbourne, sind sie schlicht „frei herumlaufende filets mignons“. Unter solchen Bedingungen hatten diejenigen Geschöpfe, die sich am besten zu tarnen wussten, die größten Chancen, ihren Fressfeinden zu entkommen und Nachwuchs in die Welt zu setzen.

    Die Evolution hat den Kraken aber noch ein weiteres Erbe hinterlassen: ein hochentwickeltes Nervensystem. Eine typische Schlammschnecke hat nur 10000 Neuronen; Hummer haben um die 100000; Springspinnen vielleicht 600000, Honigbienen und Kakerlaken, die nach den Cephalopoden als die neuronenreichsten wirbellosen Tiere des Planeten gelten, ungefähr eine Million. Mit seinen 500 Millionen Neuronen spielt also bereits der Gewöhnliche Krake (Octopus vulgaris) in einer ganz anderen Liga. Geht es rein nach der Anzahl der Nervenzellen, ist er besser ausgestattet als eine Maus (80 Millionen) oder eine Ratte (200 Millionen) und liegt fast gleichauf mit einer Katze (um die 700 Millionen). Doch während bei Wirbeltieren die meisten Neuronen im Kopf sitzen, befinden sich bei einem Kraken zwei Drittel aller Neuronen in den Armen (siehe Seite 84). Ein Nervensystem verbraucht aber auch eine Menge Energie; nur wenn der Nutzen die Nachteile überwiegt, wird es sich überhaupt zu einer solchen Größe entwickeln.

    Wahrscheinlich haben mehrere Faktoren dazu beigetragen, dass die Weichtiere ein derart komplexes Nervensystem herausbilden konnten. Für den Biologen Peter Godrey-Smith, der an der City University of New York und der University of Sydney in Australien arbeitet, spielt ihr Körper dabei die Hauptrolle. Mit zunehmender Komplexität des Körpers reife auch das Nervensystem immer weiter aus – und der Körper eines Kraken hat eine außergewöhnliche Komplexität erreicht. Da sie keine Knochen haben, verfügen Oktopusse über eine immense Bewegungsfreiheit; anders als beim Menschen, dessen Schulter-, Ellbogen- oder Handgelenke die Mobilität einschränken, lässt sich jeder Arm an jedem Punkt in jede Richtung bewegen. Außerdem kann jeder einzelne unabhängig von den anderen agieren. Die Tiere nutzen das für die Jagd: Alle Arme werden gleichzeitig über den Sand ausgestreckt, jeder erkundet für sich die Umgebung, tastet den Boden ab, stöbert in Löchern. Wenn dann ein Arm eine Krabbe aufscheucht, können zwei andere nach ihr greifen und sie fangen – ein eindrucksvolles Schauspiel. Auch die zahlreichen Saugnäpfe, die sie einzeln bewegen können, erfordern hoch entwickelte Steuerungsmechanismen, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, ihre Haut zu verändern. Gleichzeitig haben Kraken die Fähigkeit herausgebildet, eine gewaltige Menge Sinneseindrücke zu verarbeiten: Die Saugnäpfe tasten und schmecken, zwei Gleichgewichtsorgane am Kopf – die Statozysten – registrieren die Schwerkraft, und die Augen sammeln noch viele weitere Informationen.

    The speckles on this Capricorn night octopus, 
Callistoctopus alpheus, are cells full of pigment. If the ...
    The speckles on this Capricorn night octopus, Callistoctopus alpheus, are cells full of pigment. If the animal were to open them all, it would appear red with white polka dots.
    Photographed at Queensland Sustainable Sealife, Austrália

    Oktopusse leben auf Riffen, schwimmen um sie herum und durch sie hindurch – sie müssen sich dafür gut bewegen und orientieren können. Kein Panzer schützt ihren Körper; deshalb sind sie gezwungen, die ganze Zeit nach Räubern Ausschau zu halten, sich zu tarnen und notfalls zügig das nächste Versteck zu finden. Und schließlich jagen sie schnell und mit großem Geschick. Ihr Nahrungsspektrum ist breit: Von Austern über Krabben bis hin zu Fischen fangen und fressen sie alle möglichen Arten von Tieren.

    Wenn Kraken ein derart hoch entwickeltes Nervensystem haben, können wir dann also wirklich sagen, sie seien klug? Die Antwort hängt auch davon ab, nach welchen Kriterien wir sie beurteilen. Kennzeichen von Intelligenz bei Vögeln und Säugetieren – etwa die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen – lassen sich nicht immer ohne Weiteres auf einen Kraken übertragen: Er braucht kein Werkzeug, um in Felsspalten hineinzugreifen oder Austern aufzubrechen – sein Körper ist ja gerade dafür gemacht.

    Dennoch haben bereits Experimente in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gezeigt, dass der Gewöhnliche Krake Aufgaben, die Lernfähigkeit und Gedächtnisleistung erforderlich machen – zwei Eigenschaften, die wir mit Intelligenz assoziieren –, gut bewältigen kann. Ein bestimmter Teil des Tintenfischhirns, der vertikale Hirnlappen, widmet sich sogar genau diesen Aufgaben. Allerdings ist der Gewöhnliche Krake auch bei Weitem die am besten bekannte Tintenfischart. Der Aufbau des Gehirns kann je nach Art durchaus variieren, und da bisher nur einige wenige erforscht wurden, weiß niemand, ob sie alle gleichermaßen begabt sind. Der Krakenforscher Roy Caldwell von der University of California in Berkeley sagt: „Manche, die ich im Labor untersucht habe, wirkten dumm wie Brot.“ Welche denn zum Beispiel? „Octopus bocki, ein winzig kleiner Krake.“ Und warum wirkt er nicht besonders intelligent? „Er macht einfach nicht viel.“ Ob dumm oder intelligent – Tatsache ist, dass Kraken ganz und gar erstaunlich sind.

    Wir wollen noch ein letztes Mal vor Lembeh tauchen gehen. Im Licht der Abenddämmerung entdecken wir unter Wasser einen felsigen Abhang. Wir knien uns hin, um besser sehen zu können. Direkt vor uns laicht ein Paar kleiner Fische. Ein Aal liegt aufgerollt in einer Höhle. Ein großer Einsiedlerkrebs kommt in seiner geborgten Schale vorbeigestapft. Und ganz in der Nähe, auf einem Stein, sitzt ein kleiner Abdopus aculeatus.

    Während wir ihn beobachten, beginnt er, sich zu bewegen. Kurz scheint er sich treiben zu lassen. Im nächsten Augenblick gleitet er dahin. Dann fängt er an, über die Steine zu krabbeln – schwer zu sagen, ob er sich dabei mit den vorderen Armen vorwärtszieht oder mit den hinteren Armen abdrückt. Auf seinem Weg den Abhang hinunter entdeckt einer seiner Arme ein kleines Loch, und Arm für Arm verschwindet der Krake darin. Weg ist er. Nein – nicht ganz. Die Spitze eines Arms kommt noch einmal hervor, tastet die Umgebung des Lochs ab, packt ein paar kleine Steine und zieht sie über den Eingang. So, alles verriegelt – jetzt kann die Nacht kommen.

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