Nepals wahre Schätze

Eine Reise für die Sinne: Abseits des Himalaja zu buddhistischen Tempeln und in die verborgene Welt der Nashörner.

Von Carrie Miller
Veröffentlicht am 9. Apr. 2018, 14:00 MESZ
Shanti Stupa
Ort des Friedens: der Shanti Stupa im Süden Nepals.
Foto von Colour Box, saiko3p

Buddha schaut mich von hoch oben an. Künstler haben seine Augen auf die goldene Spitze des Stupas in Bodnath gemalt, einem Vorort von Nepals Hauptstadt Kathmandu. Das heilige Bauwerk ist eine der größten buddhistischen Anlagen der Welt. Ein Ort der inneren Einkehr mitten in einem Strudel, im Irrsinn der Weltlichkeit.

Unmittelbar vor Bodnaths Toren pulsiert das Straßenleben Kathmandus. Es ist so verrückt und kakofonisch, wie ich es von meinem ersten Aufenthalt vor fast 20 Jahren noch in Erinnerung habe: ein drängendes Meer aus einer Million Menschen.

Doch am Stupa in Bodnath öffnet sich eine andere Welt: Dutzende Gebetsflaggen flattern fröhlich im Wind, während Pilger den 35 Meter hohen Schrein aus dem 5. Jahrhundert langsam im Uhrzeigersinn umrunden. Ich sitze auf der obersten der drei Plattformen, die wie riesige Treppenstufen zur weiß getünchten Kuppel heraufführen und sehe den Gläubigen zu. Meine Kehle ist wie ausgedörrt vom Staub und den Abgasen der Zweitaktmotoren. Als ich den Blick etwas weiter hebe, sehe ich in der Ferne den schneebedeckten Himalaja. Rosafarben steigt er aus dem Dunst. 

Bei meinem ersten Besuch war auch ich eine Gipfelpilgerin, eine rastlose 28-Jährige. Nun bin ich zurückgekommen, um die andere Seite Nepals kennenzulernen, die von der großartigen Bergwelt oft in den Schatten gestellt wird: die Vielfalt der Menschen – insgesamt 124 Ethnien leben in Nepal – sowie den Rhythmus und die Ruhe von Orten wie Bodnath. 

Am nachfolgenden Tag mache ich mich auf den Weg zum Kloster Neydo Tashi Choeling, gut 20 Kilometer südwestlich von Kathmandu. Das Gebäude mit dem goldenen Dach liegt auf einem Hügel voller Pinien, in denen bunte Gebetsflaggen hängen. Hier leben 150 buddhistische Mönche zwischen fünf und 27 Jahren. Manche suchen Ruhe, andere möchten den Buddhismus studieren. Ihre Gäste werden ermuntert, an den morgendlichen und abendlichen Pujas, den buddhistischen Gebetszeremonien, teilzunehmen. 

“Unsere Lebensqualität ist mit dem Tourismus deutlich angestiegen.”

Saket Shrouti, Reiseführer aus Nepal

Frühmorgens steige ich zum Kloster hinauf, vor Kälte fröstelnd. Ich nehme zwischen den anderen Besuchern Platz, die auf Kissen an der hinteren Wand hocken. Einige blicken staunend auf den turmhohen goldenen Buddha, andere richten den Blick auf die Reihen von Mönchen in safrangelben und roten Gewändern. Als die Zeremonie beginnt, fühle ich mich fast erschlagen vom Lärm. Die Mönche geben einen kontinuierlichen Singsang von sich, begleitet von dröhnenden Basstrommeln, quäkenden Hörnern und dem Scheppern von Zimbeln. Doch nach einer Weile spüre ich einen Rhythmus, der mich in ruhige, friedliche Stimmung versetzt. Es ist, als hätten die Mönche mir eine Tür geöffnet. Ob ich durch sie hindurchgehe, bleibt mir überlassen. 

Nepal zählt zu den ärmsten Länder der Welt. Klöster bieten hier nicht nur kostenlose Verpflegung, sondern auch die Chance auf Bildung. Daher leben viele Kinder in Anlagen wie Neydo Tashi Choeling oder im Nonnenkloster Arya Tara weiter im Tal. Manche Kinder werden von ihren Eltern dorthin geschickt; andere beschließen selbst, hier ihre Zukunft zu suchen. 

Dhekyid Dolma hat sich mit zwölf Jahren entschieden, nach Arya Tara zu kommen. Die heute 22-jährige Nonne möchte Thangka-Lehrerin werden; Thangka ist eine buddhistische Malerei auf Baumwolle oder Seide, die für ihre leuchtenden Farben und raffinierten Muster bekannt ist. „Ich wollte unbedingt Nonne werden“, erklärt sie mir. „Nichts anderes tun als einfach leben und denken.“ 

Bevor die Sonne erste Strahlen durch den Morgendunst sendet, bin ich wieder auf den Beinen und erklimme die Pfade hinter meiner Unterkunft. Ich treffe auf eine Frau, die mit der Hand den Mais zerreibt. Sie steht auf, legt die Handflächen zum traditionellen Gruß aneinander und verbeugt sich leicht. Ich erwidere ihren Gruß „Namaste“, was so viel bedeutet wie: Ich verneige mich vor dir. 

Ihre Tochter kommt aus dem Haus, ein Baby auf der Hüfte, und verschwindet wieder. Als sie erneut auftaucht, bringt sie eine Tasse Tee für mich, zu dritt stehen wir nun in der kühlen Morgenluft. Die Tasse wärmt mir die Finger, wir lächeln und tauschen uns mit Händen und Füßen aus. Um uns herum picken die Hühner. Wieder gestärkt, bedanke ich mich für ihre Gastfreundschaft und sage „Namaste“, bevor ich weiter dem gewundenen Pfad folge. 

Nepal gehört zu den glückverheißenden Orten, die einem Zeit lassen, einfach nur zu sein. Wo man mit dem Strom schwimmen muss. Anfangs wehrt mein Verstand sich dagegen, doch dann beginne ich loszulassen. 

In diesem Zwischenzustand befinde ich mich, als ich den Chitwan-Nationalpark im Süden des Landes erreiche, eine der vier Unesco-Welterbestätten Nepals. In diesem früheren Jagdgrund der Königsfamilie gibt es Panzernashörner, Bengal-Tiger, Leoparden, Rotwild, Krokodile und 550 verschiedene Vogelarten. Die nepalesische Regierung hat schon vor Jahrzehnten die Armee mit der Bewachung des Parks beauftragt; in den vergangenen vier Jahren wurde nur von einem einzigen Fall von Wilderei berichtet.

„Unsere Lebensqualität ist mit dem Tourismus deutlich angestiegen“, erzählt Saket Shrouti, mein 27-jähriger Reiseführer. „Früher fanden die Menschen im Wald Nahrung und Schutz, sie waren von ihm abhängig. Als der Park geschaffen wurde, wurden ihnen viele Beschränkungen auferlegt. Aber dann kamen die Touristen, und jetzt gibt es hier Straßen und Elektrizität. Ärzte können uns erreichen. 

Chitwan: die Natur grün und verschwenderisch, glühende Sonnenuntergänge, das Rauschen des Windes, der durch mehrere Meter hohes Elefantengras streicht. Ich reise im Boot auf dem Fluss Rapti. Reiher fliegen über uns hinweg, am Ufer grasen Schweinshirsche am Ufer. Plötzlich tippt mir Shrouti auf die Schulter: Am Ufer zeigt sich eine massige Gestalt, im Morgendunst kaum sichtbar, ich kann gerade ihre fransigen Ohren erkennen. Ein Panzernashorn! Es hält in seiner Futtersuche inne und heftet den Blick auf uns. Dank der Maßnahmen gegen die Wilderei leben in Chitwan mehr als 600 dieser Kolosse. „Es ist ihr Reich, sie sind die Könige“, flüstert Shrouti mir zu. Ich empfinde das Gleiche wie auf den sonnenwarmen Stufen von Bodnath, bei den Frauen in Kurintar und während der Puja- Zeremonie im Neydo Tashi Choeling: inneren Frieden. 

Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 1/2018 des National Geographic Traveler. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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