Türkische Oase: Am Strand der Schildkröten

Im Schatten der Bettenburgen am Golf von Antalya versteckt sich eine kleine Oase: Çıralı. Seine Ursprünglichkeit verdankt das Dorf einer bedrohten Tierart.

Von Johanna Schuhmann
Veröffentlicht am 17. Dez. 2020, 16:02 MEZ
Der Strand von Çıralı ist weitgehend unberührt geblieben – dank der Bemühungen um den Schildkröten-Schutz

Der Strand von Çıralı ist weitgehend unberührt geblieben – dank der Bemühungen um den Schildkröten-Schutz

Foto von Simon Dannhauer, Stock.adobe.com

„Einfach dem roten Licht folgen, du kannst es nicht verfehlen“, ruft Serpil, als sie mir auf dem Weg zum Strand begegnet. Und schickt ein gut gelauntes „Guten Morgen!“ hinterher. Es ist gerade mal fünf Uhr und so dunkel, dass ich kaum sehe, wohin ich meine Fü.e setze. Der Grund, warum ich hier, in einem kleinen Ort 80 Kilometer südlich von Antalya, so früh herumstapfe, befindet sich im Moment noch gut geschützt in einem Ei, vergraben im Sand: Der Strand von Çıralı ist eine Brutstätte der Caretta Caretta, einer vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröte. Die Tiere kommen nachts an Land und legen ihre Eier in den Sand, wo sie von der Wärme der Sonne ausgebrütet werden. Nach etwa 50 Tagen schlüpfen die Schildkrötenbabys, um ihre ersten Schritte in Richtung Meer zu machen. Und dabei darf ich heute zusehen. Vor ein paar Tagen bin ich in der Türkei angekommen. Der Weg vom Flughafen führt an den All-inclusive-Bettenburgen von Antalya und Kemer vorbei. Doch sobald man auf die einzige Zufahrtstraße abbiegt und über enge Serpentinen durch den Wald hinunter an die Küste fährt, fühlt man sich wie in einer anderen Welt. Çıralı mit seinen lediglich 500 festen Einwohnern gilt als Vorreiter des Ökotourismus in der Türkei. Das Publikum besteht aus Familien mit Kindern, Outdoor-Fans, ein paar Rucksacktouristen. Man hört Deutsch und Russisch, doch auch viele Türken, die den großen Städten für ein paar Tage entfliehen wollen, kommen hierher. Es gibt familiär geführte Restaurants, ein paar Geldautomaten und Minimärkte, die das Nötigste verkaufen. (Postkarten gehören nicht dazu. Als ich danach frage, schüttelt der Verkäufer bedauernd den Kopf: „I know, Deutsch People always want postcards, but in Çıralı: no!“)

Ökotourismus an der türkischen Riviera

Große Hotels? Fehlanzeige. Die Unterkünfte sind überschaubare Pensionen, meist Bungalows in großen Gärten, in denen Bioobst und -gemüse wächst – neben dem Tourismus die zweite Einnahmensquelle vieler Familien. Nicht wenige Reisende, so erzählt man mir im Dorf, planen nur ein paar Tage hier ein und bleiben doch den Rest ihres Urlaubs. Ich kann es sofort verstehen. Während anderswo an der türkischen Riviera ein Meer aus Liegestühlen wartet, Jetskis und Bananenboote durchs Wasser düsen, findet hier selbst in der Hochsaison jeder ein ruhiges Plätzchen. Über drei Kilometer erstreckt sich der Strand mit glasklarem Wasser bis zum Nachbarort Olympos, malerisch eingerahmt von hohen Bergen. Es sind die Schildkröten, die dafür sorgen, dass er so naturbelassen bleibt. Einen Schirm darf man nur vorne am Wasser, wo der Sand in Kiesel übergeht, in den Boden stecken. Sandburgen bauen ist zum Schutz der Eier verboten, ebenso wie der nächtliche Aufenthalt am Strand: Licht und Lärm könnten die Tiere davon abhalten, an Land zu kommen, und den frisch geschlüpften Nachwuchs in die Irre führen.

Schildkröten schützen

Lange wurde die Caretta, wie sie hier kurz und liebevoll genannt wird, wegen ihres Fleisches und der Eier gejagt. Doch auch die Verschmutzung der Meere und das Verschwinden ungestörter Brutstätten haben dazu geführt, dass sie heute vom Aussterben bedroht ist und unter Artenschutz steht. Nicht nur in der Türkei, sondern auch auf der griechischen Insel Zakynthos oder in Costa Rica werden deshalb nachts Strände gesperrt und die Eier bewacht. In .Çıralı haben die Einheimischen dafür eigens einen Verein gegründet, der vom WWF unterstützt wird. Es gibt zwei hauptamtlich Beschäftigte und eine Schar von Helfern, bestehend aus Freiwilligen aus der ganzen Welt sowie wechselnden einheimischen Hotelbesitzern. Eine davon ist Serpil Kılı., die das Öko-Resort Akdeniz Bahçesi führt, in dem ich mich für eine Woche eingemietet habe. „Wir wollten unser Hotel von Anfang an im Einklang mit der Natur betreiben, deshalb ist der Einsatz für die Tiere und den Strand nur logisch“, sagt sie. Und fügt lächelnd hinzu: „Außerdem zieht die Caretta natürlich auch Gäste an.“

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Doch nicht nur die Menschen beschützen die Schildkröten, sondern auch umgekehrt. .Çıralı gehört offiziell zum Nationalpark Beydağları, der sich über knapp 35 Hektar bis ins Hinterland erstreckt. Das ist der Grund dafür, warum der Ort bisher von großen Hotelprojekten und Massentourismus wie in Antalya verschont geblieben ist. Aber: Den Status eines Nationalparks behält die Bucht nur, solange die Zahl der Nester am Strand nicht unter 60 pro Jahr fällt. In den letzten Jahren schwankten die Zahlen stark – mal waren es 140, mal nur knapp über 60. Serpil und ihre Kollegen tun alles, um den Status quo zu erhalten:Sie patrouillieren in der Dunkelheit am Strand und vertreiben Nachtschwärmer. Im ersten Licht des Tages suchen sie nach Spuren, die verraten, wo die Weibchen ihre Eier in den Sand gelegt haben. Diese werden gezählt – in einem Nest können bis zu 100 sein –, das Datum notiert, ein Drahtkorb auf die Stelle gesetzt und diese von nun an regelmäßig kontrolliert. „Wenn wir sehen, dass einige Babys aus einem Nest geschlüpft sind, warten wir noch vier bis fünf Tage ab“, sagt Serpil. „Dann helfen wir ein wenig nach. Wir öffnen die Eier, die noch übrig sind, und unterstützen die kleinen Schildkröten dabei, aus dem Sand zu krabbeln.“

Die Caretta Caretta kehrt zur Eiablage an den Ort ihrer eigenen Geburt zurück – je mehr Babys schlüpfen und ihren Weg zum Meer finden, desto mehr Muttertiere werden irgendwann selbst nach Çıralı kommen und ihre Eier ablegen. Als ich die rote Lampe erreiche, die den heutigen Ort des Geschehens markiert, dämmert es langsam. Serpil erklärt den Zuschauern die Regeln: keine Fotos mit Blitz, den Tieren bitte nicht zu nahe kommen und sie auf gar keinen Fall berühren. Einer ihrer Kollegen zieht Gummihandschuhe an und beginnt vorsichtig zu graben, um die Eier zu finden. Dann geht es plötzlich ganz schnell: Kleine Beinchen, flatternd wie Flügel, werden sichtbar, dann der Kopf. Und schließlich wühlt sich das erste Schildkrötenbaby, gerade so groß wie meine Handfläche, aus dem Sand und macht seine ersten tapsigen Schritte, begleitet von einem Raunen, verzückten „Aaahs“ und „Ooohs“. Der Moment, wenn ein Lebewesen das Licht der Welt erblickt – er verliert auch hier, umgeben von zahlreichen Handykameras, nicht an Faszination.

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    Ausgewachsen kann die Unechte Karettschildkröte bis zu 200 Kilo schwer werden, doch ihr Nachwuchs ist winzig und verletzlich. Erreichen die Tiere das Wasser nicht vor Sonnenaufgang, drohen der Hitzetod und hungrige Vögel, aber auch rücksichtslose Urlauber. Deshalb sammelt Serpil die kleinen Schildkröten jetzt nach wenigen Metern wieder ein. Die Einheimischen möchten die Menschen, die nach Çıralı kommen, für ihre Arbeit und die Natur sensibilisieren, erklärt sie mir später. „Aber leider gibt es immer wieder Menschen, die die Tiere gefährden.“ Wenn am Strand schon frühmorgens reges Treiben herrscht, werden die Babys an einen sicheren Ort gebracht, wo sie den Tag verbringen.

    Strand, Schildkröten und ewige Flammen

    Ich dagegen bleibe sitzen. Und werde Zeuge eines spektakulären Sonnenaufgangs über dem Meer, vor dem sich die dunkle Silhouette eines Gulets – eines traditionellen türkischen Segelboots mit zwei Masten – vorbeischiebt. Dann springe ich ins Wasser. Die Dämmerung mit ihrem weichen Licht, wenn die Hitze des Tages noch auf sich warten lässt (oder langsam den Rückzug antritt), ist hier die schönste Zeit zum Baden.

    Doch auch abseits von Strand und Schildkröten hat die lykkische Küste einiges zu bieten. Am Ende der Bucht von Çıralı leuchtet Chimeira („ewige Flamme“), die, gespeist von Erdgas, an verschiedenen Stellen aus dem Fels züngelt. In der Antike sollen die Feuer weit übers Meer geleuchtet und Seefahrern den Weg gewiesen haben. Auch heute noch entfaltet der Ort nach Anbruch der Dunkelheit seine ganze Magie. Hier war der Sage nach die Chimäre zu Hause, ein Ungeheuer der griechischen Mythologie mit Löwenkopf, Ziegenkörper und einer Schlange als Schwanz. Die Einheimischen nennen das beliebte Ausflugsziel weit weniger poetisch yanartaş („brennender Stein“), und während ich noch über die Geschichte des mythischen Ortes sinniere, spießt eine türkische Großfamilie neben mir fröhlich Marshmallows auf, um sie über den Flammen zu rösten.

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    Ein weiterer Ausflug in die Vergangenheit führt mich in die antike Handelsstadt Phaselis, etwa eine halbe Stunde Autofahrt entfernt. Gegründet um 690 v. Chr., wurde Phaselis innerhalb kürzester Zeit zum Haupthafen der Küste. Gut erhalten sind Aquädukte, das Theater und ein Badehaus. Dazwischen herumzuspazieren, ist selbst an heißen Tagen ein Vergnügen: Die Ruinen liegen verstreut in einem duftenden Pinienwald entlang zweier idyllischer Buchten. Phaselis ist auch ein beliebter Badeort, vor allem wegen seiner Schattenplätze unter tief hängenden Zweigen – bei 37 Grad im August ein wahrer Segen.

    Das gilt auch für den Besuch in einem der Flussrestaurants in Ulupınar auf halbem Weg zwischen Phaselis und Çıralı, wo ich auf der Rückfahrt anhalte. Ich entscheide mich für das Selale, doch das Konzept ist überall ähnlich: Niedrige Tische stehen auf Plattformen direkt im Wasser des Flusses, der sich hier seinen Weg hinab an die Küste bahnt. Nach dem späten Mittagessen, bestehend aus verschiedenen meze (Vorspeisen), köfte (Hackfleischbällchen), Forelle und Efes-Bier, fällt mir das Aufstehen aus den gemütlichen Polstern schwer. Und das liegt nicht nur an den angenehm frischen Temperaturen. Als ich am Abend auf der Terrasse meines Bungalows sitze, kommt Serpil wieder vorbei. Sie ist auf dem Weg zum Strand, in der Hand einen großen Eimer. „Die Babys“, sagt sie und hebt kurz den Deckel an. Ich erhasche einen Blick auf etwa ein Dutzend kleiner Carettas, die übereinanderkrabbeln. Dann verschwindet Serpil in der Dunkelheit, um die Schildkrötenbabys in ihr Leben zu entlassen – ganz ohne Publikum.

    ANREISE

    Der nächstgelegene Flughafen ist Antalya. Von dort aus sind es etwa 1,5 Stunden Autofahrt nach Çıralı. Zur Erkundung der Umgebung empfiehlt sich ein Mietwagen.

    REISEZEIT

    Die Saison dauert von April bis Oktober, wobei es im Juli und August bis zu 40 Grad heiß sein kann. Angenehmer sind Frühjahr und Herbst.

    ÜBERNACHTEN

    Akdeniz Bahçesi: Das Öko-Resort ist eine Oase in zweiter Reihe vom Strand mit gemütlichen Steinhäuschen und Bungalows zwischen Obstbäumen. Die Zutaten fürs Frühstück stammen aus dem hauseigenen Biogarten, auf Wunsch wird auch Abendessen serviert. Zum Erkunden des Ortes gibt es Leihfahrräder. Ab 70 Euro, akdenizbahcesi.com

    ESSEN & TRINKEN

    Flussrestaurants: Die außergewöhnlichen Restaurants von Ulupınar sind perfekt für einen Abstecher an heißen Tagen. Tipp: Das Selale punktet mit leckerer türkischer Küche und schnellem Service. selalerestoran.com

    SEHENSWERTES

    Schildkröten: Am besten fragt man vor Ort in der Unterkunft nach, wann und wo Nester geöffnet werden. Infos gibt es auch auf facebook.com/BaskaCiraliyok.

    Chimeira: Die Flammen befinden sich am hinteren Ende der Bucht von Çıralı, vom Parkplatz sind es etwa 30 Minuten Aufstieg über flache Stufen bis zur ersten Flamme. Eintritt ca. 2 Euro p. P.

    Phaselis: Die antike Stadt liegt knapp 30 Kilometer nördlich von Çıralı. Man kann durch die Stätten spazieren und baden. Verpflegung mitbringen, es gibt nur einen kleinen Kiosk. Eintritt ca. 4 Euro p. P.

    CORONA-INFO

    Die Einreise in die Türkei ist möglich (genaue Bedingungen unter auswaertiges-amt.de), für die Provinz Antalya besteht keine Reisewarnung mehr. Eine Maskenpflicht gilt vor Ort für Märkte, Supermärkte und öffentliche Verkehrsmittel.

     

    Dieser Artikel erschien in der Herbst-Ausgabe 2020 des NATIONAL GEOGRAPHIC TRAVELERS. Auch die aktuelle Ausgabe steckt wieder voller Reise-Inspirationen. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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