Auf den Spuren von Irlands legendärer Piratenkönigin

Irland feiert 100 Jahre Unabhängigkeit – und widmet seiner berühmtesten Rebellin Grace O’Malley einen Touristenpfad.

Grace O'Malleys Heldentaten auf den stürmischen Meeren vor Westirland machten sie zu einer irischen Legende.

Foto von Karl-heinz Raach, Laif, Redux
Von Ronan O’Connell
Veröffentlicht am 27. Mai 2021, 14:47 MESZ

Vor fast fünf Jahrhunderten flehte ein 11-jähriges irisches Mädchen seinen Vater an. Sie wollte dem unerschrockenen Seefahrer nacheifern und bat darum, an Bord seines Schiffes an seiner nächsten Expedition teilnehmen zu dürfen. Ihre Bitte wurde abgelehnt. Die Begründung: Ihr langes rotes Haar würde sich in den Tauen des Schiffes verfangen.

Als der Kapitän seine Tochter das nächste Mal sah, war sie fast kahlgeschoren. Das dreiste Mädchen hatte sich ihre eigenen Locken abgeschnitten und war drauf und dran, einen neuen Weg für irische Frauen zu ebnen. Es waren die ersten kühnen Schritte einer künftigen Piratenkönigin.

Ihr Name war Grace O'Malley. Doch der gälische Spitzname, der lange über Irlands raue Meere schallte, lautete Granuaile (gesprochen: Gron-ya-wail), oder „Kahle Grace“. Die wildeste Frau der irischen Geschichte feilschte mit Königin Elisabeth I., rebellierte gegen die englische Armee und befehligte jahrzehntelang Schiffe, die die Meere vor Irland plünderten – selbst als sie hochschwanger war.

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Jetzt soll diese außergewöhnliche Piratengeschichte ein breiteres Publikum erreichen. Der Mayo County Council und Failte Ireland – die nationale Tourismusbehörde des Landes – haben einen Granuaile-Wanderweg konzipiert. Laut Anna Connor, der Beauftragten für Tourismusentwicklung des Councils, werden Wegweiser die Besucher durch die majestätische Landschaft der Grafschaft Mayo zu den Orten führen, die Granuaile auf die eine oder andere Weise prägte.

Mit einer Fläche von 5.588 Quadratkilometern ist Mayo die drittgrößte der 26 Grafschaften in der Republik Irland. Sie liegt an der Westküste Irlands und ist bekannt für ihre heiligen Berge, ruhigen Strände, lachsreichen Flüsse, Viehkoppeln und malerischen Fischerdörfer. Die einheimische gälische Sprache ist in den traditionellen Gemeinden noch häufig zu hören.

Granuaile ist eine der Heldinnen von Mayo. Ihre Geschichte ist aktuell besonders relevant, da Irland hundert Jahre Unabhängigkeit von Großbritannien feiert, mit geplanten Gedenkveranstaltungen im Jahr 2021. Connor sagt, dass der Granuaile-Wanderweg eine Frau feiern wird, die „eine der letzten irischen Anführerinnen war, die sich gegen die englische Herrschaft in Irland wehrte“.

Der Pfad wird die malerische Stadt Westport umfassen, wo Granuaile 1530 geboren wurde; die Strände von Clew Bay, wo ihre Schiffe ankerten; ihre Schlösser auf den bergigen Inseln Clare und Achill; und Clare Island Abbey, wo sie nach 73 ereignisreichen Lebensjahren begraben wurde.

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    Die Clew Bay, die in einer Zeichnung von 1841 zu sehen ist, führt zum Küstenort Westport in der Grafschaft Mayo.

    Foto von Universal History Archive, Getty Images

    Eine blumengeschmückte Brücke überspannt den Carrowbeg River in Westport.

    Foto von Susanne Neumann, Getty Images

    Joe McDermott, ein Historiker und Berater für geführte Wanderungen in Mayo, freut sich über den geplanten Wanderweg. Er schlug vor, dass der Weg auch die Murrisk Abbey einschließen sollte. Dieses Kloster aus dem 15. Jahrhundert wurde von den O'Malleys am Fuße des Croagh Patrick erbaut, einem 762 Meter hohen Berg, der die Clew Bay überblickt und lange Zeit ein katholischer Wallfahrtsort war.

    Die meisten dieser vorgeschlagenen Sehenswürdigkeiten auf dem Weg sind seit Weihnachten aufgrund eines Lockdowns geschlossen, werden aber diesen Monat wieder geöffnet. Wenn der Wanderweg fertiggestellt ist, was laut Connor noch mehr als zwei Jahre dauern könnte, werden Touristen mindestens zwei Tage brauchen, um jede Stätte auf dieser Route richtig zu erkunden.

    Granuaile herrschte über Irlands Westküste

    Auf dem Wanderweg erfahren Besucher nicht nur etwas über Granuaile, sondern auch über ihren Vater, Owen O'Malley. Er war der Anführer des O'Malley-Clans – einer mächtigen Dynastie, die mehrere Jahrhunderte lang die Meere vor Mayo beherrschte, so die irische Autorin Anne Chambers, die führende Expertin für Granuaile.

    Im 16. Jahrhundert war Irland unter etwa 40 gälischen Clans aufgeteilt. Diese Dynastien erhoben Besitzansprüche auf Teile der Nation und stritten sich oft um Territorium und Reichtum, erklärt Chambers. Einige dieser Gruppen akzeptierten die Autorität der Engländer, die 1541 die volle Kontrolle über Irland übernommen hatten. Andere Clans, wie die O'Malleys, rebellierten gegen diese fremde Besatzung. Einen Clan zu regieren, war also nicht nur gefährlich, sondern auch politisch komplex.

    Im Jahr 1593 sicherte Grace O'Malley die Freilassung gefangener Verwandter bei ihrer Audienz mit Königin Elisabeth.

    Foto von VTR, Alamy Stock Photo

    Doch als Owen O'Malley in den 1560ern starb, war es nicht sein ältester Sohn, der ihm als Clanführer folgte. Stattdessen stieg Granuaile zum Clansoberhaupt auf. Mit dem seemännischen Wissen und den militärischen Taktiken, die sie von ihrem Vater gelernt hatte, kommandierte sie zwei Galeeren, 20 Schiffe und mehr als 200 Männer auf dem stürmischen Atlantik bei Mayo.

    Granuaile kommandierte jedoch nicht aus der Ferne. Sie sandte ihre Befehle nicht aus dem Komfort ihrer prächtigen Schlösser. Vielmehr brüllte sie sie vom Deck eines Schiffes; ihre Stimme erhob sich über das Krachen der Wellen und ihre Augen waren auf ihre Männer gerichtet. Selbst als sie schwanger war, stand sie ihnen zur Seite. Die Geschichte besagt, dass Granuaile im Jahr 1567 gerade auf See entbunden hatte, als ihr Schiff von algerischen Piraten angegriffen wurde. Sie trommelte ihre Männer zusammen und schlug ihre Feinde in die Flucht.

    Nach und nach baute der O'Malley-Clan unter Granuailes Führung großen Reichtum durch Handel, Fischerei und Piraterie auf, so Chambers. „Ihre Führung auf See unterscheidet Grace O'Malley von jeder anderen weiblichen Führungsfigur in der Geschichte“, sagt Chambers. „Die Seefahrt galt und gilt bis zu einem gewissen Grad immer noch als eine männliche Domäne. Es erforderte immenses Geschick und Mut, seinen Lebensunterhalt auf den Meeren entlang der gefährlichen irischen Küste zu verdienen.“

    Die O'Malleys plünderten englische Schiffe, die es wagten, in der Nähe von Mayo vorbeizufahren. Diese Überfälle brachten Granuaile bald ins Visier der Engländer. Im Jahr 1577 wurde sie für zwei Jahre inhaftiert. Diese Zeit hinter Gittern ließ Granuailes Feuer jedoch nicht erlöschen. Chambers sagt, dass die Irin nach ihrer Freilassung ihre Armee mehrfach in blutigen Rebellionen gegen englische Generäle anführte, die versuchten, das Gebiet ihrer Familie an sich zu reißen.

    Die vielen Inseln der Clew Bay bieten zahllose Verstecke und sind damit ein idealer Ort für Piraten.

    Foto von Karl-heinz Raach, Laif, Redux

    Als ein solcher Rivale einen ihrer Söhne tötete, einen anderen entführte und ihre Flotte zerstörte, setzte Granuaile sowohl auf Aggression als auch auf Diplomatie. Zuerst beschlagnahmte sie ein englisches Schiff. Als nächstes stellte sie die unwahrscheinlichste aller Bitten: Im Jahr 1593 bat Granuaile um eine Audienz bei Englands Königin Elisabeth I.

    Viele Piraten hatten London vor ihr besucht. Die meisten hatten kurze Aufenthalte, die damit endeten, dass sie am Wapping Dock aufgeknüpft wurden. Ihre erhängten Leichen ließ man tagelang über der Themse im Wind schwingen. Doch Königin Elisabeth war von Granuaile fasziniert und gewährte ihr die seltenste aller Audienzen im Londoner Greenwich Palace.

    Als Granuaile die Königin konfrontierte, war sie nicht eingeschüchtert, schrieb Chambers in ihrem Buch. Sie war gekommen, um ihre Prinzipien zu vertreten – mit einem Messer im Gewand. Sie sah sich selbst nicht als der Monarchie unterlegen. Schließlich waren das Herrscher, die an Grenzen gebunden waren, während sie eine Herrscherin der offenen See war, deren Reichtum und Macht durch Wagemut und Tatkraft verdient wurde, nicht durch Blutsverwandtschaft. Die Monarchen waren es, die von ihr beeindruckt sein sollten.

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    Granuaile verließ dieses königliche Treffen nicht mit einer Verbeugung, sondern mit Beute: Sie hatte die Freilassung gefangener Verwandter erreicht und die offizielle Erlaubnis erhalten, ihre kühne Seefahrt fortzusetzen.

    Im Gegenzug stimmte Granuaile zu, ihre Rebellion gegen die Engländer zu beenden. Ihr letztes Jahrzehnt auf Erden war dementsprechend weniger ereignisreich und sie starb eines natürlichen Todes auf dem Rockfleet Castle in Mayo. Dieses vierstöckige Schloss aus dem 16. Jahrhundert, das am Rande der Clew Bay in der Nähe des hübschen Städtchens Newport liegt, ist noch gut erhalten und wird Teil des Granuaile-Tourismuspfads werden.

    Granuailes englische Gegner bezeichneten sie als „notorische Verräterin“ und „Mutter von Rebellen“. Aber für viele Iren war sie eine Legende, noch bevor sie starb. Heute, mehr als 400 Jahre nach ihrem Tod, werden irische Mädchen noch immer von ihrer Geschichte begeistert und inspiriert.

    Schafe grasen in der Landschaft der Grafschaft Mayo, wo ein Grace O'Malley-Touristenpfad konzipiert wird.

    Foto von Lisandrotrarbach, Getty Images

    Eine fast vergessene Geschichte

    In einem Land, in dem das Patriarchat lange Zeit vorherrschte, war Granuaile laut Chambers eine Schlüsselfigur für die weibliche Selbstermächtigung. „In einer Zeit immenser sozialer und politischer Umwälzungen und Veränderungen durchbrach Grace O'Malley die Grenzen der Geschlechterungerechtigkeit und der Voreingenommenheit. Sie schrieb die Regeln neu und wurde so eine der ersten dokumentierten Feministinnen der Welt“, sagt Chambers.

    Erst nach ihrem Tod siegte der Chauvinismus schließlich über Granuaile. Chambers sagt, dass die Piratin bis vor 40 Jahren weitgehend aus der irischen Mainstream-Geschichte verbannt wurde. Das lag zum Teil an der Überbetonung der männlichen Protagonisten in Irland. Ein weiterer wichtiger Faktor war, dass Granuaile nicht in das „patriotische, unbefleckte, pflichtbewusste Bild der gälischen Frau passte, das von späteren Generationen irischer Historiker propagiert wurde“.

    Tatsächlich wäre Granuaile vielleicht immer noch ein Geheimtipp, wenn es Chambers nicht gäbe. Ihre 1979 erschienene Biografie über O'Malley, „Granuaile: Ireland's Pirate Queen“, gilt weithin als das Werk, das diese Geschichte wiederbelebt hat. Granuaile ist heute Teil des Geschichtslehrplans an Irlands öffentlichen Schulen und war Gegenstand von Büchern, Artikeln, Dokumentarfilmen und Theaterstücken.

    Und in den kommenden Jahren werden Touristen aus aller Welt einem Granuaile-Weg durch Mayo folgen können. Während sie die phänomenale Landschaft dieser Grafschaft bewundern, werden sie eine unerhörte Geschichte erfahren: die Geschichte eines kühnen Mädchens, das sich Geschlechterrollen, mörderischen Feinden und einer invasiven Kolonialmacht widersetzte, um das Erbe ihrer Familie zu schützen und einen Weg für irische Frauen zu bereiten.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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