Einmalige Pilgerreise in Japan: In 88 Etappen zur Erleuchtung
Japans berühmteste Pilgerroute führt auf den Spuren eines Mönchs zu Tempeln, nebelverhangenen Bergen und uralten Traditionen.
Ritsurin garten, Shikoku, Japan.
Man versucht sich ehrfürchtig am Eingangstor des Tempels. Man reinigt Hände und Mund am plätschernden Brunnen. Nach dem Läuten der Glocke kann man in der Haupthalle einen Zettel mit einem Wunsch hinterlassen, dann eine Kerze und drei Räucherstäbchen anzünden. Man wirft Münzen in den Opferstock und rezitiert Gebetsformeln. Der Pilgerausweis erhält einen Stempel und einen kalligrafierten Eintrag. Schließlich durchschreitet man das Tor und verbeugt sich erneut. Man folgt den roten Markierungen zum nächsten heiligen Tempel. Diese Prozedur kann man weitere 87 Mal wiederholen – wenn man möchte.
Der Pilgerweg: Flexibilität und Tradition
Auf dem Shikoku Henro, einer der längsten Pilgerrouten Japans, gibt es zahlreiche kleine Rituale, aber kaum feste Regeln. Besucher müssen die Pilgerreise nicht zu Fuß zurücklegen: Viele Japaner bevorzugen inzwischen Autos und Busse, gerade für längere Etappen, andere fahren mit dem Zug oder dem Fahrrad. Den Weg zu den 88 heiligen Orten kann man, wie vorgesehen, im Uhrzeigersinn zurücklegen – aber auch umgekehrt. Anders als früher teilen viele Einheimische den knapp 1200 Kilometer langen Rundweg heute auch in mehrere Teilstrecken auf, die sie nach und nach, bisweilen über Jahre ablaufen. Sie tragen dabei die traditionelle Pilgerkleidung mit dem weißen Baumwolloberteil, dem kegelförmigen Hut aus Segge, dem Pilgerstab und der Wagesa, einer Schärpe – oder aber westliche Outdoorausrüstung, so wie die meisten Teilnehmer unserer Kleingruppentour, mit der ich im September letzten Jahres zu einigen Tempeln gewandert bin.
Spuren des Mönchs Kobo Daishi
„Buddhismus ist vielmehr eine Lebensweise denn eine Religion mit festen Vorschriften“, erklärt David Moreton, der an der Tokushima University über die Geschichte des Shikoku Henro forscht. „Es geht um das Zeigen von Respekt.“ Der Shikoku-Pilgerweg entstand vor mehr als 1200 Jahren und führt durch alle vier Präfekturen von Shikoku, der kleinsten der vier Hauptinseln Japans. Einem Flickenteppich gleich, verbindet der Weg beschauliche Familienfarmen, viel befahrene Autobahnen und von Automaten gesäumte Vorstadtstraßen. Zugleich bietet er weite Ausblicke auf die Küste und berückende Landschaften, die wirken, als stammten sie direkt aus den Farbholzschnitten des Schnittmeisters Utagawa Hiroshige am Ende der Edo-Zeit.
Wir starteten wie die meisten Pilger am Ryozenji-Tempel (1, übersetzt etwa „Tempel des Bittbeginns“) in der Präfektur Tokushima im Nordosten. Neben einem von Karpfen bevölkerten Teich erklärte uns Jun Hashiba, Guide des in Kyoto ansässigen Reiseveranstalters Oku Japan, dass der Pilgerweg den Spuren des verehrten Mönchs, Gelehrten und Künstlers Kobo Daishi (Kūkai) folge, der sich diesen Weg im 8. Jahrhundert selbst erwandert haben soll. Kūkai gründete die japanweit bekannte Sekte des Shingon-Buddhismus. Laut Hashiba werde derjenige die wahren Antworten erhalten, der sich auf den Weg macht. Also los.
Gastfreundschaft und Begegnungen auf dem Weg
Der gut sechs Kilometer lange Abschnitt zwischen Tempel 20 und Tempel 21 ist gesäumt von Zypressen, Zedern und Bambus, so hoch wie Kathedralen. Am Wegesrand begleiten uns kleine, mit zinnoberroten Schürzen bekleidete Steinstatuen, Jizo genannt, die Schutzgottheiten der Kinder und der Reisenden. Der Tairyuji-Tempel (21, „Tempel des Großen Drachen“), der in Teilen aus dem 12. Jahrhundert stammt, lässt erahnen, warum viele Religionen ihre Altäre bevorzugt auf Bergen errichten. Kūkai schrieb, er sei eine Million Mal auf den Gipfel gestiegen und habe Gebetsformeln rezitiert. Sein Kerngedanke: Alles sei Teil eines kosmischen Ganzen und jeder Mensch könne schon im Diesseits zur Erleuchtung gelangen.
„Ich habe viel Segen erhalten“, sagt mir Kizumi, eine Frau, die ich im Anrakuji-Tempel (6, „Tempel der ewigen Freude“) treffe. Sie überreicht mir ein blassgrünes Freundschaftsarmband aus Kordel. Tatsächlich berichten die Pilger entlang des Weges immer wieder von der Freundlichkeit der Einheimischen und ihren Geschenken. Die Gastfreundschaft entspringt einer jahrhundertealten Tradition namens Osettai: Die Menschen von Shikoku betrachten die Pilger so, als wären sie mit Kūkai persönlich unterwegs. „Normalerweise schenken sie Mandarinen oder Süßigkeiten“, erzählt eine der Pilgerinnen. „Aber einmal hielt eine Frau ihr Auto an und sprang heraus, um mir 300 Yen zu überreichen.“
Unweit des ersten Tempels hatte unsere Gruppe bereits Ranshu Yano getroffen, einen Meister der traditionellen Indigofärberei. Bei der Kunst des Ai-Zome wird ein natürlicher Farbstoff aus den Blättern des japanischen Indigos gewonnen. Yano lud uns in sein Atelier ein und erlaubte uns, einen Blick auf den aufwendigen Fermentationsprozess zu werfen. In einem großen Bottich wurde ein blauer Sud ohne Unterlass untersucht, gerührt und fermentiert. „Das ist ein Lebewesen“, sagte Yano und hob seine blau gefärbten Hände empor. „Ich muss es fühlen.“ Aus seinen fertigen Stoffen werden später exquisite Kimonos.
Eines der größten Geschenke des Henro-Pilgerweges ist der Kontakt mit Menschen, die sich einer Tradition verschrieben haben, die anderswo längst aufgegeben wurde. „Ich bin mittendrin“, sagt ein Pilger, „zwischen Vergangenheit und Zukunft.“
Cover National Geographic 11/24
Lesen Sie die gesamte Reportage im im National Geographic Magazin 11/24. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!