Im Bauch von Vietnam

In der Son-Doong-Höhle in Vietnam würde sogar ein Wolkenkratzer Platz finden.

Von Mark Jenkins
Foto von Carsten Peter

«Achte auf die Dinosaurier, wenn du die „Hundepfote“ hinter dir gelassen hast»,sagt die Stimme aus der Finsternis. Sie gehört Jonathan Sims – das erkenne ich an seinem britischen, militärisch-knappen Akzent. Aber wovon redet er? Ich drehe mich um, schließlich sehe ich ihn im Schein meiner Stirnlampe. Grauer Backenbart, abgenutzter Helm. Er hockt an der Höhlenwand. «Geh schon vor», knurrt er. «Muss mal kurz meinen Knöchel schonen.»

Wir haben uns am Seil über den donnernden unterirdischen Fluss Rao Thuong gehangelt und sind eine sechs Meter hohe Kalksteinformation mit messerscharfen Kanten hinaufgeklettert. Nun stehen wir auf einer Sandbank. Ich gehe allein weiter, an den Fußspuren von Forschern entlang, die im Frühjahr 2009 hier eine Passage erkundeten. Sie waren die ersten, die eine Ex­pedition in die Hang Son Doong („Bergfluss­höhle“) in diesem abgelegenen Teil Zentralvietnams unternahmen. Die Höhle liegt im Nationalpark Phong Nha-Ke Bang nahe der Grenze zu Laos und ist Teil eines Systems von ungefähr 150 Hohlräumen im Truong-Son-Gebirgszug. Viele sind noch unerforscht.

Sims war schon bei der ersten Erkundung dabei. Damals drangen die Speläologen vier Kilometer weit vor, bis zu einer 60 Meter hohen Wand aus lehmigem Kalzit, die sie Große Vietnamesische Mauer nannten. Dahinter konnten sie einen Hohlraum und schwaches Licht erken­nen – aber was sich dort verbarg, blieb zunächst ein Geheimnis. Jetzt, ein Jahr später, sind sie zurück: sieben britische Höhlenforscher, einige Wissenschaftler und Träger. Sie wollen versu­chen, die Wand zu überwinden, dann den Gang vermessen und bis ans Ende der Höhle Son Doong vorstoßen.

Begleitet werden sie von Carsten Peter, einem expeditionserfahrenen deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC-Fotografen. «Als erster Mensch in ein solches Höhlensystem vorzudringen, das ist ein Leckerbissen für Abenteurer», sagt er. Vor mir verschwinden die Fußspuren in ei­nem Berg aus hausgroßen Felsblöcken, die von der Decke heruntergebrochen sind. Ich lege den Kopf in den Nacken, aber der dünne Strahl meiner Stirnlampe verliert sich in der Dunkel­heit. Es ist, als leuchte man in einer sternenlosen Nacht zum Himmel hinauf. Jemand hat mir erzählt, dass dieser Hohlraum groß genug sei, um einen Jumbojet darin zu parken. Mag ja sein, aber ich erkenne nichts.

Ich schalte die Stirnlampe aus, um die Dun­kelheit auf mich wirken zu lassen. Nachdem sich meine Augen angepasst haben, sehe ich zu meiner Überraschung ein schwaches, geister­haftes Licht. Vorsichtig suche ich mir einen Weg durch das Geröll, vor Aufregung schon bald im Laufschritt. Unter meinen Füßen poltern die Steine, die Wände werfen das Echo zurück. Ich klettere einen steilen Hang hinauf, gehe um eine Biegung – und bleibe wie angewurzelt stehen.

Vor mir ergießt sich ein riesiges Bündel von Sonnenstrahlen in die Höhle. Das Loch in der Decke ist unfassbar groß, fast hundert Meter im Durchmesser. Zum ersten Mal erkenne ich die ganzen Ausmaße der Hang Son Doong. Sie übersteigt jedes Begriffsvermögen. Der Gang ist etwa 90 Meter breit, die Decke mehr als 250 Meter hoch. Hier hätte ein ganzer Straßenblock mit riesigen Wolkenkratzern Platz. «Einen verwunschenen Ort wie diesen», sagt Carsten Peter, «findet man nur ganz selten.»

Die Sonnenstrahlen fallen auch auf einen Kalzitturm, der vom Höhlenboden aus mehr als 60 Meter hoch aufragt. Farne, Palmen und andere Dschungelpflanzen überwuchern ihn. Stalaktiten säumen den Rand des gewaltigen Oberlichts, wie versteinerte Eiszapfen. Ranken baumeln von der Erdoberfläche Hunderte Meter weit herunter. Segler schießen im Gleitflug durch die gleißende Lichtsäule. So könnte die Welt vor Millionen Jahren aus­gesehen haben.

Jonathan Sims taucht neben mir auf. Zwischen uns und der sonnenbeschienenen Passage voraus erhebt sich ein Stalagmit, den Sims wegen seiner Gestalt Hundepfote nannte. «Als ich das erste Mal mit einem anderen Höhlenforscher hier war, hat­ten wir jeder einen vierjährigen Sohn und waren daher Experten für urzeitliche Tiere», sagt er. «Wir fühlten uns an Arthur Conan Doyles Ro­man „Die vergessene Welt“ erinnert. Als mein Begleiter rauskletterte, um das Gelände zu erkun­den, rief ich ihm scherzhaft hinterher, ja bloß auf die Dinosaurier achtzugeben.» Deshalb also sein Rat, hinter der „Hundepfote“ gut aufzupassen.

Unsere Expeditionsleiter sind Howard und Deb Limbert. Sie waren die ersten Speläologen, die nach dem Vietnamkrieg wieder in diesem Land tätig wurden. Damals waren die Höhlen schon legendär, aber noch unerforscht. 1941 plante Ho Chi Minh seinen Aufstand gegen die Japaner und Franzosen in der Höhle Pac Bo nördlich von Hanoi. Während des Vietnam­kriegs suchten Tausende darin Schutz vor den Bombenangriffen der Amerikaner. Die Limberts, erfahrene Höhlenforscher aus Yorkshire in Nordengland, nahmen Kontakt mit der Naturwissenschaftlichen Universität in Ha­noi auf und holten stapelweise Genehmigungen ein. 1990 brachen sie zur ersten Expedition auf. Bei 13 Unternehmungen haben sie seither nicht nur eine der längsten Flusshöhlen der Welt (die 19 Kilometer lange Hang Khe Ry nahe der Hang Son Doong) entdeckt, sondern die Vietnamesen auch bei der Einrichtung des Nationalparks Phong Nha-Ke Bang unterstützt. Eine Viertel­million vietnamesischer und ausländischer Tou­risten reisen jedes Jahr dorthin, vor allem, um die Schauhöhle Phong Nha zu besuchen.

Ohne die Hilfe der Einheimischen hätten die Limberts die Höhlen im dichten Dschungel wohl kaum gefunden. «Herr Khanh war von Anfang an dabei», sagt Howard Limbert und deutet mit einem Kopfnicken auf einen dünnen Mann, der neben einem Lagerfeuer eine Zigarette raucht. Wir sind jetzt gleich hinter dem Eingang von Hang En, einem anderthalb Kilo­meter langen Portal in die Unterwelt. Ho Khanh stammt aus einem nahe gelegenen Dorf. Nachdem sein Vater im Vietnamkrieg ge­tötet worden war, musste er allein für sich sorgen. Jahrelang lebte der Junge als Jäger in der gesamten Grenzregion zu Laos und flüchtete sich in Höhlen, wenn es regnete oder wieder Bomben hagelte. «Wir haben drei Expeditionen gebraucht, um die Hang Son Doong zu finden», sagt Howard Limbert. «Khanh hatte den Eingang als Kind entdeckt, wusste aber nicht mehr, wo. Erst im vergangenen Jahr waren wir endlich erfolgreich.»

An der Oberfläche stehen der Bambus und andere Pflanzen so dicht, dass fast kein Durch­kommen ist. Darunter muss man sich diesen Teil Vietnams wie einen einzigen gigantischen Block aus Kalkstein vorstellen. Als der indische Subkontinent vor 40 bis 50 Millionen Jahren mit dem eurasischen Kontinent zusammenstieß, wurde diese gesamte Region aufgefaltet. Die Höhle Son Doong entstand vor fünf bis zwei Millionen Jahren, als Wasser in Risse im Kalk­stein eindrang und allmählich einen riesigen Tunnel auswusch. An manchen Stellen stürzte die Oberfläche ein, wodurch gewaltige Decken­einbrüche entstanden.

Die deutsche Höhlenforscherin und Biologin Anette Becher hat in der Höhle Asseln, Fische und Tausendfüßer gefunden. Sie sind weiß, wie viele Tiere, die in der Dunkelheit leben. Dai Inh Vu, ein Botaniker von der vietnamesischen Akademie für Wissenschaft und Technik, be­stimmte überdies die Pflanzen unter den „Ober­lichtern“. Dabei fand er im Wesentlichen die gleiche Vegetation wie im Wald darüber. Bei unserer Expedition geht es um Erkun­dung und Vermessung. Wenn Forscher wie die Limberts eine Höhle von der Größe der Hang Son Doong entdecken, ist das so, als würde jemand einen neuen Mount Everest finden. Als die beiden Speläologen die enormen Hohlräume zum ersten Mal sahen, waren sie überzeugt, die größte Höhle der Welt entdeckt zu haben. Vermutlich haben sie recht.

Es gibt längere Höhlen – den Rekord hält mit insgesamt 590 Kilometern das System der Mam­moth Caves im US-Bundesstaat Kentucky. Es gibt tiefere Höhlen – die Krubera im georgischen Westkaukasus reicht 2191 Meter weit in die Erde (siehe März-Heft 2006). Was die riesigen Gänge betrifft, kann aber kaum eine andere Höhle mithalten.

Bis die Limberts die Hang Son Doong erkun­deten, galt der zwei Kilometer lange, bis zu 150 Meter breite Gang in der Deer Cave auf Borneo als längste Höhlenpassage der Welt. Messungen mit Lasergeräten in der Hang Son Doong erga­ben nun, dass diese Höhle mehr als vier Kilo­meter lang ist und vor allem aus nur einer durchgehenden Passage besteht: bis zu 90 Meter breit und stellenweise beinahe 200 Meter hoch. «Diese Welt zu erkunden», sagt Carsten Peter, «ist eine unglaubliche Erfahrung. Allein schon das Gefühl, im größten Höhlengang der Welt zu sein, macht jede Anstrengung wett.» Nach fünf Tagen sind wir erst bis zur Mitte der Höhle vorgedrungen. Jetzt wird es gefährlich. Hinter dem „Hundepfoten“-Stalagmit müssen wir über die Geröllhalde klettern. Ein falscher Tritt, und wir stürzen 30 Meter in die Tiefe.

Seine Pracht und Löcher wie im Edamerkäse gaben dem nächsten Deckeneinbruch den Namen „Garten Edam“. Er ist noch größer als das erste Loch. Auch hier liegt unter der Öffnung ein gewaltiger Steinhaufen, auf dem ein Dickicht aus 30 Meter hohen Bäumen wächst. Unsere Zeit und Vorräte gehen allmählich zur Neige. Howard Limbert beschließt, ein Team zur „Großen Vietnamesischen Mauer“ vorauszuschicken. Es soll klären, ob man die Barriere überwinden kann.

Die Wand erhebt sich mehr als anderthalb Kilometer entfernt am Ende eines v-förmigen Gangs, auf dessen Grund das Wasser einen hal­ben Meter hoch steht. Zu beiden Seiten ragen zwölf Meter hohe Lehmwände auf. Sie sind so klebrig wie Erdnussbutter. In dem Graben stol­pert man mehr, als dass man gehen könnte. Bald sind wir von Schlamm bedeckt. Die Höhlenforscher nennen diesen Durch­gang Passchendaele. So heißt ein belgisches Dorf, dessen Umgebung im Ersten Weltkrieg Schauplatz der Dritten Flandernschlacht war. Allein die Alliierten verloren dort im Jahr 1917 rund 310000 Mann – bei einem Geländegewinn von gerade mal acht Kilometern.

Eine steile Lehmwand mehr als doppelt so hoch wie das Brandenburger Tor zu erklettern, das erfordert eine gute Technik und bleibt dennoch höchst riskant. Dafür kommen nur wenige in Frage. Howard Limbert wählt Gareth „Sweeny“ Sewell und Howard Clarke für den Vortrupp aus. Die beiden haben in den vergan­genen 20 Jahren gemeinsam einige der schwie­rigsten Höhlen Englands erkundet. Clarke handelt mit Rindersperma, Sewell ist Jurist. Irgendwie hat er es geschafft, seine Frau vom Verkauf ihres Autos zu überzeugen, damit er seine Höhlenexpeditionen finanzieren kann.

Am ersten Tag steht Clarke am Fuß der Wand und sichert, während Sewell sich konzentriert hinaufarbeitet. Er bohrt Loch um Loch für An­ker, in die man ein Seil einhängen kann. Aber nur wenige halten vernünftig. Zwölf Stunden lang quasseln die Männer in ihrer von Kraftausdrücken durchsetzten York­shire-Mundart vor sich hin. «Das ist doch alles Scheiße mit diesem Schlamm», sagt Sewell irgendwann. Über die Gefahren ihrer Aufgabe verliert keiner ein Wort. Sollte auch nur eine der 15 Zentimeter langen Anker herausbrechen, würde der Forscher in den Tod stürzen.

Am zweiten Tag klettert Sewell wieder nach oben. Bald schon hallt das Surren seines Bohrers durch die Dunkelheit. Sewell ist inzwischen so weit nach oben vorgedrungen, das wir nur den Schein seiner Stirnlampe sehen. Um zwei Uhr nachmittags, nach 20 Stunden Plackerei, ver­schwindet er aus unserem Blickfeld. Wenige Minuten später hören wir ihn jubeln. Oben angekommen, können auch wir buch­stäblich das Licht am Ende des Tunnels sehen. Die anderen Expeditionsteilnehmer erzählen uns später, dass sie unser Gejohle noch mehr als einen Kilometer entfernt hören konnten. Mes­sungen von der Krone der Mauer aus ergeben später, dass die Höhle hier fast 200 Meter hoch ist – wie ein 40-stöckiges Hochhaus.

Zu dritt setzen wir die Erkundung fort. Wir sind die ersten Menschen, die je hier unterwegs waren. Als wir schon zum nahen Ausgang stre­ben, bleibt Clarke plötzlich stehen. «Seht mal!», ruft er und kniet sich neben einem ausgetrock­neten Teich hin. «Das sind Höhlenperlen.» Höhlenperlen bilden sich, wenn Wassertrop­fen ständig von der Decke in eine Vertiefung fallen und sich Kalzitkristalle zum Beispiel um einen Kern aus Sedimentpartikeln legen. Jeder neue Tropfen bewegt dieses Körnchen – so ent­steht im Laufe von Jahrtausenden eine massive Kalzitkugel. Meist sind solche Meisterwerke der Natur nicht größer als eine Murmel. Hier haben sie die Größe von Tennisbällen.

20 Minuten später klettern wir ins Freie. Es regnet. Mit Macheten bahnen wir uns einen Weg durch den Wald, bis wir den Horizont sehen und sicher sein können, dass dies nicht nur ein wei­terer Deckeneinbruch ist. Wir haben das Ende der Hang Son Doong entdeckt! Sewell und Clarke sind viel zu bescheiden, um es laut auszusprechen: Den beiden glücklichen Speläologen ist soeben die erste Durch­querung der vermutlich größten Höhle der Welt gelungen.«Es war», sagt Carsten Peter, «eine phantas­tische Expedition. Ein Abenteuer, nach dem Höhlenforscher sich die Finger lecken.»

(NG, Heft 04 / 2011, Seite(n) 130)

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