Meine Reise zum tiefsten Punkt der Erde

Meine Reise zum tiefsten Punkt der Erde - Jahrelang hatte James Cameron davon geträumt, auf den Boden des Marianengrabens zu tauchen, zum tiefsten Punkt der Erde. Eigens dafür entwarf er das Unterwasserfahrzeug „DeepSea Challenger“.

Von James Cameron
Foto von Mark Thiessen

Jahrelang hatte er davon geträumt, auf den Boden des Marianengrabens zu tauchen, zum tiefsten Punkt der Erde . Eigens dafür entwarf der Entdecker und Filmemacher James Cameron das futuristische Unterwasserfahrzeug „DeepSea Challenger“. Sieben Jahre dauerten Planung, Konstruktion und Erprobung. Schließlich war nur noch eine Frage offen: Würde das Fahrzeug dem gewaltigen Druck in 11000 Metern Tiefe standhalten? Cameron hatte nur eine Möglichkeit, das herauszufinden: Er musste hinab.

Tiefste Stelle im Meer: Der lange Weg zum Mariannengraben

6. MÄRZ 2012, 5:15 UHR 11° 22’ NORD, 142° 35’ OST (WESTPAZIFIK, WESTSÜDWEST VON GUAM)
Es ist die Stunde vor der Morgendämmerung, das Meer ist pechschwarz. Mein Tauchboot „DeepSea Challenger“ hebt und senkt sich mit den Pazifikwellen, die über mich hinwegrollen. Wir sind alle seit Mitternacht auf den Beinen. Nach ein paar Stunden unruhigen Schlafs hatten wir begonnen, alles für den Tauchgang vorzubereiten und zu überprüfen. Die ganze Mannschaft steht unter Adrenalin. So schlecht war das Wetter bei früheren Testfahrten auf dieser Expedition noch nie. Über meine Außenkameras sehe ich zwei Taucher vor meinem winzigen Cockpit. Sie werden wie Korken herumgeschleudert, während sie sich bemühen, das Tauchboot für den Abstieg zu präparieren.

Mein Steuerstand ist eine Stahlkugel mit 109 Zentimetern Durchmesser. Ich sitze darin wie ein Walnusskern in der Schale: Die Knie angezogen, mein Kopf durch die Rundung der Außenwand abwärts gedrückt. In dieser Position muss ich die nächsten acht Stunden verharren. Meine nackten Füße ruhen auf der 180 Kilo schweren Luke, die von außen verriegelt wurde. Ich bin beinahe bis zur Bewegungslosigkeit eingekeilt. Die Leute fragen mich oft, ob ich in dem Tauchboot keine klaustrophobischen Anfälle bekomme. Doch ich fühle mich bequem eingekuschelt. Vier Monitore füllen mein Gesichtsfeld aus. Drei zeigen Bilder der Außenkameras, der vierte ist ein Touchscreen, über den ich die Instrumente bediene.

Das neongrün gestrichene Tauchboot hängt senkrecht in den Wellen wie ein Torpedo, der zum Erdmittelpunkt zielt. Ich drehe die 3­D­ Kamera am Ende ihres 1,80 Meter langen Auslegers so, dass sie an der Außenseite der „DeepSea Challenger“ aufwärtsschaut. Die Taucher nehmen ihre Positionen ein, um den luftgefüllten Sack zu lösen, der das Fahrzeug noch an der Oberfläche hält.

Jahrelang habe ich mir diesen Augenblick vorgestellt, und ich will nicht behaupten, dass ich in den letzten Wochen nicht manchmal Angst gehabt hätte, wenn ich daran dachte, was alles schiefgehen könnte. Aber jetzt bin ich ruhig. Das Tauchboot umhüllt mich, ich bin ein Teil von ihm, es ist ein Teil von mir, eine Erweiterung meiner Ideen und Träume. Als Mitkonstrukteur bin ich mit all seinen Funktionen und Eigenarten bestens vertraut. Nach der wochenlangen Pilotenausbildung kann ich alle Steuerelemente und Schalter bedienen, ohne darüber nachzudenken. Jetzt ist in mir keine Furcht mehr, sondern nur noch die Entschlossenheit, das zu tun, wofür ich hier bin. Und eine kindliche Freude auf alles, was vor mir liegt.

Fressen und gefressen werden in der Tiefsee
In den Tiefen des Meeres gibt es ein komplexes Netzwerk aus Jägern und Beute. Forscher des Monterey Bay Aquarium Research Institute werteten Videoaufnahmen aus mehreren Jahrzehnten aus und gewannen überraschende neue Erkenntnisse über die Jäger-Beute-Beziehungen der Tiefsee.

Also los. Ich hole tief Luft und drücke auf die Mikrofontaste. «Okay, fertig zum Abstieg. Leinen los, Leinen los, Leinen los!»

Einer der beiden Taucher zieht an einer Schnur und löst den Schwimmer. Das Tauchboot sinkt wie ein Stein. Schon nach wenigen Sekunden sind die Taucher nur noch winzige Gestalten weit oben an der wogenden Oberfläche. Sie verschwinden und verblassen, dann herrscht nur noch Dunkelheit. Ein Blick auf die Instrumente: Ich sinke mit rund 150 Metern pro Minute. Ein Leben lang habe ich davon ge- träumt, aber nun, nach sieben Jahren Entwicklungsarbeit und anstrengenden Monaten des Baus, nach einer stress- und emotionsreichen Reise bin ich auf dem Weg zum Challengertief, der tiefsten Stelle in den Ozeanen der Erde.

05:50 UHR, TIEFE: 3810 METER, SINKGESCHWINDIGKEIT: 1,8 METER/SEKUNDE

Nach nur 35 Minuten bin ich schon tiefer als die „Titanic“. Und viermal so schnell wie die russischen „Mir“-Tauchboote, mit deren Hilfe wir 1995 das berühmte Wrack gefilmt haben. Zu jener Zeit erschien mir die „Titanic“ als höchst extremes Ziel, und zu ihr auf den Meeresgrund zu tauchen war ebenso exotisch wie eine Reise zum Mond. Heute durchquere ich diese Tiefe mit einem fröhlichen Winken, als würde ich aus meiner Garage heraus am Briefkasten vorbeifahren. Eine Viertelstunde später habe ich die Marke von 4760 Metern passiert – der Tiefe, in der das deutsche Schlachtschiff „Bismarck“ liegt.

Als ich dieses Wrack 2002 erkundete, implodierte unmittelbar vor der Außenhaut der „Mir“ die Lampe einer Flutlichtleuchte mit der Wucht einer Granate. Es war das erste Mal, dass ich im tiefen Wasser eine Implosion erlebte. Sollte der Rumpf der „DeepSea Challenger“ brechen, würde ich nichts spüren. Licht aus. Ende.

Aber das wird nicht geschehen. Drei Jahre haben wir gebraucht, um diese kleine Stahlkapsel zu planen, zu bauen und auszurüsten. Ich vertraue unseren Ingenieuren, die das alles zusammengesetzt haben.

Die Außentemperatur beträgt jetzt 1,7 Grad, an der Meeresoberfläche waren es noch knapp 30 Grad. In meiner Kugel kühlt es schnell ab, überall bilden sich Tropfen von Kondenswasser. Meine nackten Füße, die ich gegen die stählerne Luke presse, sind eiskalt. In der Enge dauert es mehrere Minuten, bis ich Wollsocken und Über- schuhe angezogen habe. Mit einer Wollmütze schütze ich meinen Hinterkopf vor dem kalten, feuchten Stahl. Und auch, okay, um mehr wie ein Entdecker auszusehen. Dass ich abwärtsgleite, kann ich nur daraus schließen, dass Plankton im Licht des Tauchbootes scheinbar aufwärts an mir vorbeirast wie Schneeflocken nachts an einem Autofenster.

BELIEBT

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    06:33 UHR, TIEFE: 7070 METER, ABWÄRTS MIT 1,4 METER/SEKUNDE

    Gerade habe ich die größte Einsatztiefe der chinesischen „Jialong“ passiert, des am tiefsten operierenden bemannten Tauchboots der Welt. Kurz vorher habe ich bereits die größte Tauchtiefe der russischen „Mir“, der französischen „Nautile“ und der japanischen „Shinkai 6500“ hinter mir gelassen. Ich tauche tiefer hinab als jedes andere bislang von einem Piloten gesteuerte Unterwasserfahrzeug. Alle diese anderen Tauchboote waren immerhin Produkte staatlich finanzierter Forschungsprogramme. Unser kleiner grüner Torpedo ist ein privates Projekt, er wurde in einem Vorort von Sydney in Australien zusammengesetzt, in einer kommerziellen Werkstatt, zwischen einem Sanitärgroßhandel und einer Holzhandlung. Die meisten in unserem Team hatten nie zuvor an einem Tauchboot gearbeitet. Sie kommen aus Kanada, China, den USA, Frankreich und Australien. Sie alle teilen einen Traum, die Überzeugung, etwas Unmögliches möglich machen zu können. Heute werden wir sehen, ob wir es geschafft haben.

    Die tiefste Stelle im Meer ist noch längst nicht erreicht

    06:46 UHR, TIEFE: 8230 METER, ABWÄRTS MIT 1,3 METER/SEKUNDE

    Jetzt bin ich tiefer als bei meinem Solo-Rekordtauchgang, den ich vor drei Wochen im Neubritannien-Graben vor Papua-Neuguinea absolviert habe. Und immer noch habe ich 2740 Meter Wasser unter mir. Mehr als zweieinhalb Kilometer. Die Zeit scheint langsamer zu vergehen. Ich habe alle Punkte auf meiner Checkliste abgearbeitet, jetzt bleibt mir während des langen, lautlosen Sturzes durch die Dunkelheit nichts anderes zu tun, als nachzudenken und die immer größeren Zahlen auf dem Tiefenmesser zu beobachten. Das Einzige, was ich höre, ist das gelegentliche Zischen des Sauerstoffventils. Ich blicke auf meine Füße auf der Luke und muss daran denken, welch gewaltige Kraft dagegen drückt. Hätte das Tauchboot ein Leck, das Wasser würde hereinschießen wie ein Laserstrahl und alles in seiner Bahn zerschneiden – mich eingeschlossen. Was da wohl passieren würde? Würde es wehtun? Und ist die Frage überhaupt von Bedeutung, wenn man nur noch eine oder zwei Sekunden zu leben hat?

    07:43 UHR, TIEFE: 10850 METER, ABWÄRTS MIT 0,26 METER/SEKUNDE

    Wieder ist eine Stunde vergangen. Auf den letzten 2740 Metern ist das Tauchboot immer langsamer geworden. Ich habe ein wenig Ballast abgeworfen, stählerne Kugellager, die den Auftrieb des Tauchbootes regeln und von einem Elektromagneten festgehalten wurden. Jetzt habe ich einen schwebenden Neutralzustand, weder schwer noch leicht. Ich sinke nur noch mithilfe der Strahldüsen. Der Tiefenmesser zeigt, dass 46 Meter unter mir der Boden ist. Die Kameras laufen, die Scheinwerfer sind abwärts gerichtet. Ich packe mit vor Anspannung weißen Fingerknöcheln die Steuerung der Strahldüsen und starre auf die schwarzen Monitore.

    30 Meter ... 27 ... 24 ... allmählich müsste ich etwas sehen können ... 21 ... 18 ... Endlich nehme ich ein gespenstisches Leuchten wahr: das vom Meeresgrund zurückgeworfene Licht. Der Ozeanboden sieht glatt aus wie eine Eierschale – keine Strukturen, an denen man die Entfernung abschätzen könnte. Mit den senkrechten Düsen gebe ich vorsichtig Bremsschub. Fünf Sekunden später trifft der Wasserstrahl den Boden, und das Nichts unter mir bildet kleine Rippel, wie Falten in einer Seidengardine.

    Ich bin mir nicht sicher, ob der Grund wirklich fest ist. Ganz kurz nehme ich eine Hand von der Schubsteuerung und richte den Scheinwerfer seitlich auf die Landschaft. Das Wasser ist durchsichtig wie Gin. Ich kann sehr weit blicken und sehe: nichts. Der Boden ist völlig einförmig, ohne jede Struktur, ohne Dimension oder Richtung. Ich habe den Meeresboden schon bei mehr als 80 Tiefseetauchgängen gesehen. Aber so etwas noch nicht. Nie.

    07:46 UHR, TIEFE: 10898,5 METER, 0 METER/SEKUNDE

    Ich manövriere das Boot abwärts und schließe die Lücke zum Boden. Die Auslegerkamera zeigt mir, wie der Kiel zehn Zentimeter tief einsinkt und dann zum Stillstand kommt. Ich bin unten. Zweieinhalb Stunden hat der Abstieg gedauert. Eine Wolke aus Schlick, so fein, wie ich ihn noch nie gesehen habe, steigt in seidigen Girlanden auf wie Zigarettenrauch und hängt fast bewegungslos in der Schwebe. Dann höre ich eine Stimme aus der Welt elf Kilometer über mir: «„DeepSea Challenger“, hier ist die Oberfläche. Verbindungsprüfung.» Die Stimme ist leise, aber klar. Unter Berücksichtigung der Gegebenheiten hatten wir vermutet, dass Sprachkommunikation hier unten vielleicht nicht möglich sein könnte.

    Ich blicke auf den Tiefenmesser und drücke die Mikrofontaste. «Oberfläche, hier „DeepSea Challenger“. Ich bin am Boden. Tiefe: 10898,5 Meter ... Lebenserhaltungssysteme laufen, alles sieht gut aus.» Erst jetzt wird mir klar, dass ich mir etwas für die Geschichtsbücher hätte aus- denken müssen, etwas wie «... ein kleiner Schritt für einen Menschen». Aber wenigstens habe ich meine Wollmütze.

    Lange Sekunden verstreichen, während meine Durchsage vom Grund der Welt mit Schallgeschwindigkeit nach oben steigt. Dann kommt die Antwort. «Verstanden.» Der Ex-Marinesoldat am Sprechgerät ist noch nüchterner als ich. Militärische Ausbildung. Aber ich kann mir ausmalen, wie sie da oben auf dem Schiff jetzt grinsen und klatschen. Ich weiß, dass Suzy, meine Frau, zutiefst erleichtert vor dem Datenbildschirm sitzen wird. Ich spüre die Welle des Stolzes auf die gemeinsame Leistung. Die meisten von denen, die an dem Tauchboot mitgebaut haben, sitzen jetzt oben im Kontrollraum und können wohl kaum glauben, was ihnen da gelungen ist. Das Tauchboot ist das stahlgewordene Zeugnis ihrer Phantasie, ihres Wissens und ihres Willens. Durchdrungen vom Geist der Gemeinsamkeit. In einem gewissen Sinn sind sie alle mit mir hier unten.

    10898,5 Meter. Was soll’s, auf Partys werde ich auf 11000 Meter aufrunden. Die nächsten Worte, die ich höre, habe ich nicht erwartet. «Gratuliere, Schatz», sagt Suzy und schickt mir ihre Liebe zum einsamsten Ort auf Erden. Als ich ihre Stimme höre, vermischen sich meine beiden Welten, die da oben und die hier unten, auf eine seltsame, aber wunderbare Weise. Suzy war während der gesamten Expedition an meiner Seite. Sie hat ihre Angst verborgen und mich immer in allem unterstützt. Ich weiß, was sie durchgemacht haben muss.

    An die Arbeit. Wir haben fünf Stunden am Boden eingeplant, und es gibt eine Menge zu tun. Ich drehe das Tauchboot und sehe mich mithilfe der Kameras in der Welt um, in der ich gelandet bin. Der Boden ist in allen Richtungen flach und strukturlos. Wie ein fremder Planet. Ich werfe die Hydraulik an, öffne ferngesteuert die Außentür zur Abteilung mit den Messgeräten und nehme mit dem Roboterarm eine erste Sedimentprobe. Sollte ich in den nächsten Minuten zum Abbrechen gezwungen sein, kann ich den Wissenschaftlern wenigstens ein bisschen Schlamm mitbringen.

    Taucht ab in eines der unberührtesten Korallenriffe der Welt
    Das Tubbataha-Riff der Philippinen ist eines der ursprünglichsten Korallenriffe der Welt – und eines der artenreichsten.

    Es war ja schließlich nie unser Ziel, einfach nur ein Tauchboot zu bauen, das einen neuen Tiefenrekord aufstellt. Mir war es wichtig, dass es auch wissenschaftlichen Zwecken dient. Die letzten unerforschten Flecken unseres Planeten zu besuchen, ohne Daten aufzuzeichnen und Proben zu sammeln, wäre sinnlos.

    Als die Sedimentprobe an Bord ist, nehme ich mir im Auftrag der Schweizer Firma, die unser Partner ist, einen Augenblick Zeit für eine Nahaufnahme der speziell angefertigten Tiefseeuhr.

    Sie ist außen an dem Roboterarm befestigt und tickt noch, obwohl ein Druck von 1147 Kilo je Quadratzentimeter auf ihr lastet. Im Jahr 1960 waren Leutnant Don Walsh und Jacques Piccard mit ihrem Tauchboot „Trieste“ als erste Menschen in diese Tiefe hinabgetaucht. Auch sie hatten eine Schweizer Spezialuhr dabei, und auch die hatte dem Druck standgehalten.

    Aber nicht alles funktioniert so gut. Wenige Augenblicke nachdem ich die Uhr fotografiert habe, sehe ich gelbe Öltröpfchen an meiner Kamera vorüberschwimmen. Das Hydrauliksystem hat ein Leck. Einige Minuten später funktioniert der Arm nicht mehr, die Schleuse zur Gerätekammer auch nicht. Ich kann keine weiteren Proben mehr nehmen, die Kameras arbeiten aber noch. Ich setze meine Erkundung fort.

    Tief, tiefer, am tiefsten

    09:10 UHR, TIEFE: 10897 METER, SEITLICH MIT 0,26 METER/SEKUNDE

    Mit kurzen Stößen der Strahldüsen bewege ich mich in nördlicher Richtung über eine endlose Ebene mit flachen Vertiefungen. Der Boden sieht aus wie ein riesiger, mit Neuschnee bedeckter Parkplatz. Ich kann nichts Lebendiges darauf entdecken. Hin und wieder treiben Flohkrebse, winzig wie Schneeflocken, vorüber. Bald müsste ich auf die „Wand“ des Tiefseegrabens stoßen, aber wie ich von unseren Sonardiagrammen weiß, ist sie eigentlich keine Wand, sondern eine sanft ansteigende Böschung. Ich hoffe, dass ich dort ein paar Felsen entdecke, die aus dem Schlamm ragen und vielleicht irgendwelchen Lebensformen als Heimat dienen.

    Bisher habe ich die Umgebung ausschließlich mithilfe der hochauflösenden Kameras gesehen. Jetzt fällt mir ein, was ich mir vor dem Tauchgang vorgenommen habe, und entschließe mich, das Tauchboot wieder auf Grund zu setzen. Ich bin schließlich nicht an den tiefsten Ort der Erde gekommen, um ihn dann nicht mit eigenen Augen zu sehen. Es dauert etwas, bis ich die Ausrüstungsgegenstände beiseite geräumt habe und mich in eine Position zwängen kann, die mir den direkten Blick aus dem Fenster ermöglicht. Dann lasse ich ein paar Minuten die Stille dieses seltsamen Ortes auf mich wirken, der so weit von allen Erfahrungen der Menschen entfernt ist. Nur ein einziges Mal zuvor waren menschliche Augen in dieser Tiefe. Aber Walsh und Piccard tauchten 37 Kilometer westlich von hier in einem anderen Teil des Challengertiefs, die heute Witjastief genannt wird. Dies hier hat vor mir noch niemand gesehen.

    Überall sonst, wo ich den Tiefseeboden bisher besucht habe, war er kreuz und quer von den Spuren der Würmer, Seegurken und anderer Tiere durchzogen, selbst am Grund des 8230 Meter tiefen Neubritannien-Grabens. Hier dagegen gibt es keine sichtbare Spur von Leben. Der Boden ist unberührt, wer weiß, wie lange schon. Mir ist natürlich klar, dass er nicht leblos ist – in der Sedimentprobe werden wir mit ziemlicher Sicherheit neue Arten von Mikroorganismen entdecken. Trotzdem erfüllt mich das Gefühl, dass ich bis hinter die Grenzen des Lebendigen hinabgetaucht bin. Zugleich mit diesem Gefühl stellt sich Ehrfurcht ein, eine Ahnung, welches Privileg es ist, hier zu sein, zu Gast in einer urtümlichen Welt.

    Manche Wissenschaftler aus unserem Team vermuten, dass das Leben vor rund vier Milliarden Jahren tatsächlich in solch finsteren, hadesähnlichen Tiefen entstanden ist. Wo eine Platte der Erdkruste langsam unter eine andere gezogen wurde. Dabei könnten verschiedene im Gestein eingeschlossene Lösungen frei geworden sein und sich vermischt haben, was spezielle chemische Reaktionen erzeugte. Irgendwann könnte darin der Funke des Lebens gezündet haben. Eine Vermutung nur, wie gesagt, denn wie und wo auf unserer Welt das Leben entstand, kann bis heute niemand erklären.

    Ich werde demütig angesichts der vielen Dinge, die wir nicht kennen, hier unten ebenso wie in der Dunkelheit des Weltraums. Wie winzig ist das Licht, mit dem ich hier für wenige Minuten umherleuchte, welch gewaltige Aufgaben bei der Erkundung der Welt liegen noch vor uns.

    10:25 UHR, TIEFE: 10877 METER, SEITWÄRTS MIT 0,26 METER/SEKUNDE

    Ich habe die Nordwand gefunden und steige langsam an der sanft gewellten Böschung in die Höhe. Ich bin jetzt rund 1,5 Kilometer von der Landestelle entfernt. Bisher sehe ich nirgendwo frei liegendes Gestein. Zwei mögliche Hinweise auf Leben habe ich gefunden und fotografiert: Auf dem Boden lag ein gelatineartiger Klumpen, nicht größer als eine Kinderfaust; eine vielleicht 1,50 Meter lange Rinne könnte die Heimat eines unterirdisch lebenden Wurms sein. Geleeklumpen und Rinne sind mysteriös und mit nichts zu vergleichen, was ich als Taucher je zuvor gesehen habe. Doch ich habe gute Fotos – sollen die Wissenschaftler darüber rätseln. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit hier unten.

    Einige Batterien lassen stark nach, der Kompass funktioniert nicht richtig, das Sonar ist stumm. Zwei der drei Steuerbord-Schubdüsen habe ich verloren, das Tauchboot lässt sich kaum noch steuern. Der extreme Druck fordert seinen Tribut. Ich beeile mich, denn ich hoffe, es noch zu ein paar steileren Klippen zu schaffen, wie ich sie im Neubritannien-Graben gesehen habe. Dort lebt eine ganze andere Gemeinschaft von Tieren als am Boden des Grabens.

    Galerie: Bizarre Welt der Tiefsee

    Plötzlich bricht das Tauchboot nach rechts aus. Ich schaue auf die Anzeigen für die Schubdüsen. Nun hat auch die letzte auf der Steuerbordseite ihren Geist aufgegeben. Allein mit den Backborddüsen kann ich nur noch im Kreis fahren. Ich kann keine Proben mehr nehmen, ich kann keine anderen Stellen erkunden, es gibt keinen vernünftigen Grund mehr, noch länger hier zu bleiben. Anstatt fünf Stunden, wie geplant, war ich nur knapp drei Stunden am Boden, aber es hilft nichts. Widerstrebend melde ich mich an der Oberfläche und sage dem Team, dass ich mich auf den Aufstieg vorbereite.

    10:30 UHR, TIEFE: 10877 METER, AUFWÄRTS MIT 3 METER/SEKUNDE

    Der Moment, in dem ich den Schalter umlege und die Aufstiegsgewichte abwerfe, lässt mir jedes Mal das Herz stocken. Wenn die Gewichte nicht fallen, komme ich nicht wieder hoch, Punkt. Ich habe Jahre darauf verwendet, den Abwurfmechanismus zu konstruieren, und die Ingenieure haben ihn nicht nur gebaut, sondern auch gründlich erprobt. Immer und immer wieder. Er ist das zuverlässigste System des ganzen Tauchbootes. Aber jedes Mal wenn ich nach dem Schalter greife, stelle ich mir die Frage: Klappt’s? Ich spinne den Gedanken nicht weiter, sondern lege den Schalter um. Klick.

    Ich höre das vertraute Rumpeln, mit dem die beiden 243-Kilo-Gewichte aus ihren Schienen gleiten und auf den Meeresboden fallen. Das Tauchboot macht einen Satz nach oben, und sofort verschwindet der Boden in seiner ewigen Dunkelheit. Während die Geschwindigkeit zunimmt, wird das hineingetriebene Sediment aus der Nische gespült, in der die wissenschaftlichen Geräte angebracht sind und deren Schleuse ich nicht wieder schließen konnte.

    Ich spüre, wie das Tauchboot ruckelt und bockt, während es nach oben schießt. Ich steige pro Sekunde drei Meter, schneller als das Fahrzeug jemals war. In weniger als neunzig Minuten werde ich wieder an der Oberfläche sein. Ich stelle mir bildlich vor, wie der Druck allmählich nachlässt – es ist, als ob eine Riesenschlange mein Tauchboot nicht zerquetschen konnte und jetzt ihre Umschlingung langsam lockert. Als die Zahlen auf dem Tiefenmesser immer kleiner werden, durchströmt mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich bin auf dem Weg zurück aus der Finsternis, hinauf in die Welt von Sonnenlicht und frischer Luft, und kann es kaum erwarten, Suzy in meine Arme zu schließen.

    Erste Ergebnisse: Mittlerweile liegen auch schon wissenschaftliche Befunde vor. Die Fotos und Proben aus dem Marianengraben sowie von zwölf weiteren Tauchgängen des Bootes sowie von Tauchrobotern brachten eine Fülle von Lebensformen ans Licht. Allein aus dem Challengertief holte man 20000 verschiedene Arten von Mikroorganismen. Unter den gefangenen Tieren waren Asseln und sechs Arten Flohkrebse, einige davon bisher unbekannt. Bemerkenswert: Einer der Flohkrebse produziert einen Wirkstoff, der zur Therapie der Alzheimer-Krankheit getestet wird. Die Forscher erhoffen sich zudem neue Erkenntnisse über die Anpassung von Lebewesen an hohen Druck und über den Ursprung des Lebens. Und noch eine Überraschung: Die Neuberechnung der maximalen Tauchtiefe ergab, dass die „DeepSea Challenger“ tatsächlich 10908 Meter erreicht und – unter Berücksichtigung der Fehlertoleranz – den Rekord der „Trieste“ (10912 Meter) egalisiert hat.

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