Tief unten
Ziege quetscht sich durch den Schließmuskel. Ächzend und schnaufend verdreht Marion "Ziege" Smith seinen Hals, sein weißer Kopf schrammt über Fels. Das Loch ist kaum größer als der Durchmesser eines Basketballkorbs.
Ziege quetscht sich durch den Schließmuskel. Ächzend und schnaufend verdreht Marion "Ziege" Smith seinen Hals, sein weißer Kopf schrammt über Fels. Das Loch ist kaum größer als der Durchmesser eines Basketballkorbs. Wer hier durch will, muss seinen Körper verbiegen wie ein Yogi: die Arme sind wie beim Kopfsprung vorzustrecken, die Hüften wie ein Korkenzieher zu verdrehen, die Beine krampfhaft zusammenzupressen. Der "Schließmuskel" liegt am Ende eines darmgleich gewundenen Tunnels. "Ziege" schlängelt sich als Letzter aus unserem sechsköpfigen Team hindurch - mit der Wendigkeit des Veteranen und mit einer endlosen Schimpftirade.
Ein Höhlenforscher muss Enge aushalten können. Hier kommt John Benson nur durch, wenn er den Helm abnimmt. Er atmet aus, macht seinen Körper so flach wie möglich und schiebt sich ein paar Zentimeter voran. Einatmen, ausatmen - und weiter.
"Nur dass du Bescheid weißt", warnt mich Kristen Bobo und passt auf, dass sie mich nicht mit ihrer Stirnlampe blendet: "Je besser Marion eine Höhle gefällt, desto mehr flucht er." Bobo ist selber eine ausgezeichnete Höhlenforscherin. Die 38-Jährige wirkt zierlich wie ein Kind, ist aber stark wie ein Bergarbeiter. Ihre großen Rehaugen täuschen, ihr Wille ist unnachgiebig wie ein Winkeleisen. Durch den "Schließmuskel" gleitet sie wie eine Schlange. "Ziege" plumpst auf den Boden und verkündet trocken: "Wer runterkommt, muss auch wieder rauf." Als ob wir nicht wüssten, dass wir mehrere hundert Meter tief unter den Bergen Tennessees sind und auf dem Weg an die Oberfläche wieder durch diese Engstelle müssen.
Eigentlich ist Smith Historiker. Der großgewachsene, hagere Mann ist trotz seiner 62 Jahre sehr gelenkig. Seine Haut ist so weiß, dass man glauben könnte, er habe sein ganzes Leben unter der Erde verbracht. Was nicht ganz falsch ist. Seit 1966 erforscht er Höhlen. Er allein hat mehr als 80 Kilometer zuvor unerforschter Gangsysteme erkundet - vorwiegend auf Händen und Knien. Smith war in mehr Höhlen als jeder andere Mensch in Amerika. Wir machen unterhalb des Felsenöhrs eine Pause und schalten die Stirnlampen aus, um die Batterien zu schonen. Die Dunkelheit ist beinahe greifbar. Oben auf der Erde gibt es selbst mitten in der Nacht immer etwas Licht - den Mond, die Sterne, den Schimmer aus der Küche im Spalt unter der Schlafzimmertür. Die Augen passen sich an. Nicht so im Bauch der Erde. Hier gibt es keinen Lichtquant, an den das Auge sich anpassen könnte, und wenn man noch so lange versucht, seine Finger einen Zentimeter vor dem Gesicht zu sehen. Wir stecken in einem erst kürzlich entdeckten Abschnitt der Jaguar-Höhle. Labyrinthisch winden sich ihre Tunnel durch den Kalkstein unterhalb der bewaldeten Hügel von Tennessee. Zusammen mit Alabama und Georgia gehört der Bundesstaat im Süden der USA zum sogenannten TAG-System. Es liegt am Ende eines Kalksteingürtels, der vor mehreren hundert Millionen Jahren entstand, als die Region noch vom Meer bedeckt war. In Kalkgestein gibt es meistens Höhlen, denn Wasser löst den Kalk. Die Jahrmillionen währende Korrosion hat den Felsuntergrund durchlöchert wie einen Schweizer Käse und eine eigene unterirdische Welt geschaffen.
Im TAG-System kennt man bisher mehr als 14 000 Höhlen: 9200 in Tennessee, 4800 in Alabama, 600 in Georgia. Eine Schar rastloser Höhlengänger hat sich zum Ziel gesetzt, jede einzelne zu erkunden.
Die Jaguar-Höhle begehen Menschen schon seit prähistorischen Zeiten. Doch immer noch werden unbekannte Gänge und Röhren entdeckt. Wir knipsen unsere Lampen wieder an und setzen die Erkundung fort - kriechend, kletternd, ziehend und schiebend -, bis wir plötzlich in eine große Kaverne schauen. Smith pflegt zu sagen, dass Höhlen entweder abfallen, aufsteigen oder enden ("they drop, pop or stop"). Hier geht es aufwärts.
Selbst mit dem Fernlicht unserer Stirnlampen können wir die Höhlenwände um uns herum kaum erkennen. Die Kammer hat die Ausmaße einer kleinen, aber sehr hohen Turnhalle. "Seht mal da oben rechts", sagt Bobo. Wir richten unsere Lampen auf eine nasse Felswand und entdecken ein Seil, das aus der Dunkelheit herabhängt. Einer nach dem anderen klettern wir daran hoch.
Im Scheitel der gewölbten Kammer überqueren wir auf einem schmalen Felsband den unsichtbaren, sieben Stockwerke tiefen Abgrund, dem wir gerade entstiegen sind, und gelangen in einen weiteren Tunnel. Er ist so hoch, dass wir aufrecht 400 Meter gehen können. Dann ist der Durchgang mit Geröll versperrt; ein Deckeneinsturz. Weiter als bis hierher ist noch kein Mensch vorgedrungen. Unser Team glaubt, dass der Gang hinter dem Einsturz weiterführt. Wir wollen in das unsichtbare Unbekannte vorstoßen und teilen uns in zwei Gruppen auf. Als Kartierer und Gräber. Smith und Bobo werden noch einmal den Gang hinter uns erkunden. Ich melde mich zum Graben.
Als ich an der Reihe bin, lege ich mich auf den Bauch und krieche so tief es geht unter die Einsturzstelle. Platt auf dem Boden. Die Decke drückt mir aufs Genick, die Wände quetschen mir die Rippen. Hektisch hacke ich mit einer Schaufel in den Schutt vor mir. Wie ein wildgewordener Dachs grabe ich, während um mich herum Erdbrocken herabfallen. Ich fülle mehrere Schiebewannen und stoße sie mit froschartigen Beinbewegungen unter mir durch nach hinten, wo die anderen sie ausleeren. Bald wird das Loch zu eng. Ich verzichte auf die Wanne und schiebe das Geröll mit bloßen Händen an meinem Körper vorbei.
Nach einer halben Stunde bin ich vielleicht anderthalb Meter vorangekommen. Meine Arme schmerzen. Ich bin durchgeschwitzt. Gerade will ich zurückkriechen, da bricht meine Schaufel nach vorne durch. Ich vergrößere das Loch und stecke den Kopf hinein: Vor mir liegt ein niedriger, dreieckiger Kriechgang. Vom Adrenalin befeuert, versuche ich mich in diese Passage zu ziehen. Und bleibe mit dem Brustkorb stecken.
Bis jetzt habe ich mich nur aufs Graben konzentriert, um das fürchterliche Gefühl der Klaustrophobie fernzuhalten. Nun zapple ich wie eine Ratte im Rachen einer Schlange. Mir wird übel vor Angst. Wild trete ich um mich, aber es nützt nichts. Ich merke, dass ich mich mit dem losen Geröll selber eingegraben habe.
Ich versuche meine Panik in den Griff zu bekommen, doch ich kann nur an die Millionen Tonnen Gestein über mir denken. Ich habe gehört, dass Höhlen selten einstürzen. Nun, diese ist eingestürzt. Ich muss meine Schnappatmung unter Kontrolle bringen. Das Hyperventilieren dehnt die Lungen aus, was die Situation nur noch verschlimmert. Genau das passiert jetzt. Ich winde mich in einem Panikanfall und stoße mir die Stirnlampe vom Kopf. Alles um mich herum wird schwarz.
(NG, Heft 7 / 2009)