Tuareg: Die wilden Kerle der Sahara

Die politischen Turbulenzen im Norden Afrikas weiten sich aus. Nach langer Unterdrückung erkämpfen sich Volksgruppen wie die Tuareg ihre Rechte und fordern einen eigenen Staat.

Von Peter Gwin
Foto von Brent Stirton

Der Rebellenführer hatte sein Gesicht zum größten Teil unter einem dunklen Turban verborgen. Er ging uns voran über den Sand. An manchen Stellen war der Boden schwarz von explodierten Granaten und übersät mit Trümmern.

«Treten Sie genau in meine Fußabdrücke», warnte er uns. Die nigrische Armee hatte das Gelände, auf dem sich einst eine Schule der Tuareg befand, vermint. Die Aufständischen hatten einen Teil der Sprengkörper beseitigt, andere verbargen sich noch im Sand.

Am späten Nachmittag dieses Herbsttages war die Temperatur auf unter 40 Grad gesunken. Die beigefarbenen Dünen nahmen einen rosa Farbton an, die Schatten der steilen Bergrücken im Südwesten begannen den Talboden zu füllen. Tazerzaït heißt diese einsame Senke in der Region, in der das Aïr-Massiv in das Sandmeer der Sahara übergeht. Hier hatten die Rebellen in ihrem seit zwei Jahren andauernden Aufstand gegen die Regierung des Staats Niger ihren bis dahin größten Sieg errungen.

Es waren Tuareg, und sie kämpften für ihre Rechte. Sie stammen von jenen Nomaden ab, die über mehrere Jahrhunderte den Karawanenhandel durch diese einsame Region Nordafrikas kontrollierten: Gold, Gewürze und Sklaven wurden hier mit großem Gewinn transportiert. Seit einiger Zeit kämpften die Tuareg unter dem Banner des Mouvement des Nigeriens pour la Justice (MNJ, „Bewegung der Nigrer für die Gerechtigkeit“). Zeitweise waren sie vom libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi unterstützt worden, der 2011 auf der Flucht vor seinen Landsleuten getötet wurde.

Kurz vor meiner Reise in diese Region hatten die Rebellen in Tazerzaït 72 Regierungssoldaten gefangen genommen. Mit den Geiseln als Druckmittel hatten sie ihre Forderung nach Beteiligung der Tuareg am Gewinn mit einem neuerdings besonders wertvollen Handelsgut erneuert: Uran, das auf ihrem Land abgebaut wird. Als Zeichen ihres guten Willens hatten sie alle Gefangenen bereits wieder freigelassen – bis auf einen, «einen Kriegsverbrecher», wie mir der Anführer sagte.

Im Weitergehen erzählte er, dass die Tuareg die Schule in Tazerzaït gebaut hatten, weil der Ort nahe einer Wasserstelle liegt. Hier sollten die Familien ihre Kinder auch dann besuchen können, wenn sie mit den Herden unterwegs sind. Bis dahin hatten Einheimische, die ihren Kindern eine Schulbildung ermöglichen wollten, sie in weit entfernte Dörfer schicken müssen.

«Unsere Kinder brauchen die Schule», sagte der Kommandant. «Mein Vater kannte nur das Leben in der Wüste . Er wusste, wie man die Salzkarawane nach Bilma bringt, wie man Weideland findet, wie man in den Schluchten die Antilope und im Gebirge die wilden Schafe jagt. Das alles kann ich auch noch. Aber das Leben in der Wüste geht zu Ende.»

Wir kamen zum Gipfel einer kleinen Klippe. Hier standen drei aus Lehmziegeln erbaute Klassenräume. Die Wände waren von Einschusslöchern übersät, die Dächer fortgerissen. Auf den Tafeln hatten nigrische Soldaten Grafitti hinterlassen – Obszönitäten auf Französisch und Kritzeleien von Tuareg beim Sex mit Tieren.

Vier Rebellen hatten den mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus einer Höhle in den Bergen, wo sie ihn festhielten, heruntergebracht. Sein Körper war zusammengesunken, sein Blick unstet. Die Ärmel seines Tarnhemdes waren abgeschnitten, die Stiefel aufgeschnürt. Er behauptete, er sei 27, aber sein rundes Gesicht und sein bockiges Verhalten ließen ihn jünger wirken.

Es war spät geworden, und die Rebellen waren nervös, weil sie sich an einer so exponierten Stelle aufhielten. Die nigrische Armee hatte nach ihrer Niederlage gegen die Tuareg Hubschrauber angeschafft, und kürzlich waren die Rebellen durch einen Luftangriff überrascht worden. Mehrere Männer, auch einer ihrer Anführer, waren dabei ums Leben gekommen. Mit zusammengekniffenen Augen starrten sie zum Horizont, auf das Knattern von Rotorblättern lauschend. «Hubschrauber kaufen sie, um gegen uns zu kämpfen, aber Schulen oder Brunnen bauen sie nicht», klagte der Kommandant, während er uns zum Rand des Schulgeländes führte. Dort, wo Steine im Sand drei Gräber kennzeichneten, blieben wir stehen.

«Hier sind drei alte Männer begraben», sagte der Rebellenführer. Er zeigte auf eines der Gräber. «Als die Armee angriff, hat sich dieser Mann geweigert zu fliehen. Er war blind. Die beiden anderen wollten ihn nicht alleinlassen.» Die Armee habe den Männern vorgeworfen, sie hätten geholfen, Landminen zu verlegen. «Nachts wurden sie gefoltert. Wir hatten uns da oben in den Bergen versteckt», sagte er. «Wir konnten die alten Männer schreien hören.» Seine Stimme wurde leise. «Er hier» – er zeigte auf das mittlere Grab – «war mein Vater.»

Um in diesen abgelegenen Winkel der größten Wüste der Welt zu gelangen, muss man eine gewaltige, urtümliche Landschaft durchqueren. Die Gegend ist geprägt von Salzpfannen, von Dünenfeldern, die den Wogen des Ozeans gleichen, und von Riffen aus glasartigem Marmor und Obsidian, die aus dem Sand ragen wie die Gebeine ausgestorbener Meerungeheuer.

Generationen von Tuareg-Kriegern haben dieses Gebiet beherrscht, Tribut von den Kaufleuten auf den Karawanenstraßen erhoben und die sesshaften Stämme am Fluss Niger überfallen, um deren Herden und Sklaven zu rauben. Oft bestahlen sie sogar die Karawanen, zu deren Schutz man sie angeheuert hatte, oder sie griffen überraschend die eigenen Verbündeten an.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen ihre Gebiete dann in den Staaten Niger, Mali, Algerien und Libyen auf. Deren Regierungen ignorierten in der Regel ihre jeweilige Tuareg-Minderheit und ließen die Nomaden mit ihren Kamel- und Ziegenherden in der Wüste allein. Weil aber in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger Regen fiel, wurde es für die Tuareg schwierig, ausreichend große Herden für die Versorgung ihrer Leute am Leben zu halten. «Die Tiere sind alles für die Tuareg», erklärte mir einer der älteren Männer. «Sie trinken ihre Milch, essen ihr Fleisch, nutzen ihre Häute. Sterben die Tiere, sterben auch die Tuareg.»

Als ihre Herden immer kleiner wurden, begannen viele der Tuareg im Niger, ihrer Regierung unangenehme Fragen zu stellen: «Warum beteiligt man uns nicht an dem Reichtum aus den Uranvorkommen? Immerhin wird dieses sehr einträgliche Erz schon seit Jahrzehnten auf unserem Weideland abgebaut.»

Erstmals erhob sich eine Tuareg-Miliz deswegen schon in den neunziger Jahren gegen die nigrische Armee. Dann gab es ein Friedensabkommen, das aber kaum eine Änderung brachte. Im Gegenteil, es wurde schlimmer: Im Jahr 2007 handelte die Regierung Verträge mit Frankreich aus, durch die Niger zum zweitgrößten Uranförderland der Welt werden sollte. Ausländischen Unternehmen wurde gestattet, in der Wüste auch nach anderen Bodenschätzen zu suchen. Währenddessen wurde die Bevölkerung immer ärmer, und die Regierung lehnte es ab, die Infrastruktur in den Tuareg-Gebieten zu verbessern, Schulen und Straßen zu bauen. Deshalb rebellierten die Nomaden erneut.

Zur gleichen Zeit machten sich Drogenschmuggler und ein nordafrikanischer Ableger der Terrororganisation al-Qaida in der Region breit. Die Tuareg wurden von der Regierung beschuldigt, sie seien in deren Machenschaften verwickelt. Und weil es in den westlichen Medien kaum unabhängige Informationen gab, wollte ich mir selber ein Bild machen.

(NG, Heft 06 / 2012, Seite(n) 86 bis 103)

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