Flucht aus dem Kriegsgebiet: Die letzten Zootiere von Aleppo

Extreme Maßnahmen waren nötig, um die letzten Überlebenden des Zoos aus einer der gefährlichsten Krisenregionen der Welt zu retten.

Von Sharon Guynup
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:47 MEZ

Dieser Artikel erschien erstmals am 05. Oktober 2017 in englischer Sprache.

Die Rettung der letzten Zootiere von Aleppo

Amir Khalil und sein Rettungsteam suchten den Horizont nach dem Konvoi ab, während sie in der 38 °C heißen Julihitze unruhig an der türkischen Grenze warteten. Ihre Nervosität hielt an, bis er endlich ankam – mitsamt den abgemagerten, traumatisierten Opfern des sechsjährigen syrischen Bürgerkriegs. 

Diesmal aber ging es um vierbeinige Flüchtlinge: drei Löwen, zwei Tiger, zwei Kragenbären und zwei Tüpfelhyänen hatten irgendwie in Magic World überlebt, einem großen Themenpark, der am Rande von Aleppo nach dem Vorbild von Disneyland errichtet worden war. 

Seit dem Beginn des Bürgerkriegs 2011 hatten in dieser Stadt einige der schlimmsten Kämpfe des Kriegs getobt. In einer vierjährigen Offensive wurde Aleppo durch unerbittliche Luftangriffe in Schutt und Asche gelegt. Auch chemische Waffen sollen dabei zum Einsatz gekommen sein.

BELIEBT

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    Eine gewagte Rettungsmission der Tierschutzorganisation Vier Pfoten rettet die 13 letzten Tiere aus Magic World, einem Themenpark und Zoo in Aleppo, der durch den sechsjährigen Bürgerkrieg in Syrien stark in Mitleidenschaft gezogen war.
    Foto von Vier Pfoten

    Magic World befindet sich in einem Gebiet, das von sunnitischen Rebellen mit Verbindungen zu al-Qaida kontrolliert wird, die das Areal als Basis nutzten. Es wurde wiederholt unter Beschuss genommen und Anfang des Jahres von russischen Truppen überfallen. 

    Als der Krieg ausbrach, befanden sich laut dem Zoobesitzer Azzam Massassati „vielleicht 300 Tiere“ in Magic World. Seither sind viele von ihnen bei den Bombardierungen oder im Kreuzfeuer gestorben. Einige wurden krank oder verhungerten. Andere wurden womöglich auf dem Schwarzmarkt verkauft. 

    Khalil, ein ägyptischer Veterinärchirurg, ersann den Plan zur Rettung der 13 letzten Überlebenden von Magic World. Seit 23 Jahren führt er hochriskante Missionen für die in Österreich ansässige Tierschutzorganisation Vier Pfoten durch und rettet Tiere aus Katastrophen- und Kriegsgebieten. 

    Der Tierarzt Amir Khalil von Vier Pfoten International organisierte die Rettung aus Magic World. Er leitete außerdem einige andere Evakuierungen verhungernder Tiere aus vernachlässigten Zoos im Gazastreifen, in palästinischen Gebieten und dem irakischen Mossul.
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Für die Rettung benötigte es Monate an schwierigen Planungen und diplomatischen Bemühungen, die Hilfe von Botschaftern, Regierungsvertretern, internationalen Organisationen, Militärberatern, Kämpfer, internationalen Sicherheitsfirmen und vielen anderen, die anonym in Syrien vermitteln. Es war „im Grunde eine Militäroperation für Tiere“, sagt Sybelle Foxcroft, eine Tierschützerin der gemeinnützigen Organisation Cee4life, die Khalil als Beraterin für das Team engagiert hat.

    Der Krieg hat Syrien in Zonen zerfallen lassen, die von vielen verfeindeten Gruppierungen kontrolliert werden: die Regierungstruppen des Präsidenten Bashar al-Assad, die syrischen Kurden und diverse gegnerische islamische Fraktionen. Interventionen von Russen, Amerikanern, Türken und den Hisbollah-Islamisten des Libanon haben den Konflikt weiter verkompliziert.

    Um die Tiere von Aleppo aus etwa 150 Kilometer weit durch ein Kriegsgebiet bis zur Grenzstadt Ar-Raʿi und über die Grenze in die Türkei zu transportieren, mussten Syrer am Boden über die Unterstützung diverser Fraktionen und lokaler Warlords verhandeln. Sie mussten alternative Routen planen und die sich stetig wandelnde militärische Situation beobachten. 

    Vieles konnte dabei schiefgehen. Der Konvoi könnte an einem Dutzend Checkpoints angehalten und von mit Kalaschnikows bewaffneten Wachtruppen zurückgeschickt werden. Die Fahrzeuge könnten von syrischen, russischen, amerikanischen oder türkischen Kampfflugzeugen bombardiert werden. Scharfschützen an der Straße könnten das Feuer auf sie eröffnen. Die Menschen oder Tiere könnten entführt werden. Es ging das Gerücht um, dass Hayat Tahrir Al-sham, eine syrisch-sunnitische Dschihadistengruppe, 200.000 Dollar verlangen würde, um den Konvoi die Grenze überqueren zu lassen.

    Sayeed ist einer von fünf Löwen, die aus Magic World gerettet wurden, wo einst rund 300 Tiere lebten. Die erste Rettungsmission im Juli evakuierte Löwen, Tiger, Bären und Hyänen. Eine Woche später wurden bei einem zweiten Einsatz zwei weitere Löwen und zwei Haushunde gerettet.
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Selbst eine ereignislose Reise wäre langsam. Durch den Krieg sind die Straßen zu zerfurchten Kiesbetten geworden, von denen viele mit Minen versehen sind. 

    Der Plan sah vor, von Aleppo aus nordwestlich nach Afrin zu reisen, einem Checkpoint, der in die von Kurden gehaltene Zone führt. Der Konvoi würde dort einen Personalwechsel durchführen – das neue Team würde von den Kurden Einlass gewährt bekommen – und nach Nordosten zur türkischen Grenze fahren. Nach einer medizinischen Beurteilung und einem kurzen Halt in der Türkei würden die Tiere per Flugzeug in ihre dauerhaften neuen Zufluchtsstätten im Jordan gebracht.  

    DER START

    Am 20. Juli brachen erbitterte Kämpfe zwischen den rivalisierenden Sunnitenfraktionen Ahrar al-Sham und Hayat Tahrir Al-sham in dem Gebiet um Magic World herum aus. Die Kontrolle verlagerte sich und neue Checkpoints entstanden. Die Mission wurde verschoben, um eine sichere Passage zu gewährleisten. Das Team verfolgte online in Echtzeit Bombardements, Feuergefechte und andere militärische Aktionen. Das waren entscheidende, unabhängige Informationen, sagte Yavor Gechev, ein Mitglied des Rettungsteams von Vier Pfoten, „weil man nie irgendwem vertrauen konnte“.  

    Als sich die Situation weiter verschlechterte, beschloss Khalil, die Mission am nächsten Tag zu starten. Er hoffte auf einen ruhigen Tag, da es Freitag war, ein heiliger Tag im Islam.

    Viele der Tiere, darunter auch der Tiger Sultan, waren am Verhungern, dehydriert oder litten an schweren Krankheiten, als sie in ihrem neuen Zuhause im Jordan ankamen.
    Foto von Steve Winter

    Der Zoowärter Omar Khalifa hatte zusammen mit vier anderen Helfern die Nacht durchgearbeitet, um die Tiere auf einen Sattelzug zu verladen. Es war eine gefährliche und anstrengende Aufgabe ohne Beruhigungsmittel für die Tiere und ohne schweres Gerät, um die 400 Kilogramm schweren Transportkäfige aus Metall zu bewegen. 

    Die von Rebellen gehaltene Green Zone und Magic World selbst stellten die größte Gefahr dar. „Die ersten 25 Meilen aus Aleppo raus sind wirklich hochriskant“, sagte Khalil. Das Team hatte gehört, dass lokale Rebellen die Tiere konfiszieren wollten, um heroische Propaganda darüber zu verbreiten, dass sie sie vor Schmugglern gerettet hatten. „Diese Information hat uns dabei geholfen, ‚Anti-Pläne‘ zu schmieden. Plan B und C und D“, sagte er. Die zwei Notfallpläne boten alternative Routen, bei denen 34 Leute in drei Zonen stationiert waren – und ein leerer Konvoi wurde als Lockvogel in eine andere Richtung losgeschickt. 

    Der eigentliche Konvoi brach beim ersten Tageslicht am 21. Juli auf. Ein Aufklärungsfahrzeug fuhr voraus und ein Schutzfahrzeug blieb beim Konvoi.

    Ein Team aus Tierärzten, Sicherheitsexperten, Regierungsvertretern und Anwälten aus acht Ländern war nötig, um die Rettungsoperation zu planen und durchzuführen. In der Türkei bereitet sich ein Team am Flughafen von Istanbul auf das Entladen der Tiere vor, um sie in ein Flugzeug nach Jordan zu verladen.
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Bei Afrin weigerten sich kurdische Offiziere, die Fahrzeuge passieren lassen, sofern die türkische Regierung nicht 250 ihrer verwundeten Soldaten zur medizinischen Behandlung ins Land ließ. Das Team weigerte sich zu verhandeln: Hier ging es um Tiere. Die Offiziere gaben nach, und neun Stunden später erreichten die Tiere die entmilitarisierte Zone, wo schon ein türkischer Laster wartete.  

    Khalils Team operierte mit der Geschwindigkeit einer Boxencrew, überall wurden Anweisungen auf Arabisch, Englisch, Türkisch und Deutsch gerufen. Die Soldaten der Freien Syrischen Armee warfen ihre Gewehre über die Schulter und packten mit an, während die türkischen Regierungsvertreter alles beobachteten. 

    „Wir hatten eine Stunde, um die neun Käfige von dem einen LKW auf den anderen zu verladen“, sagte Khalil. Die oberste Sicherheitsfreigabe war nötig gewesen, damit die Türken ihre Grenzen selbst für diesen kurzen Zeitraum öffnen konnten. Als die Käfige verladen waren, lagen sich alle, selbst Syrer und Türken – eingeschworene Feinde –, in den Armen und posierten für Schnappschüsse. 

    An der syrisch-türkischen Grenze gibt Khalil den Tieren Wasser. Alle waren nach der 150 Kilometer langen Reise zur Grenze erschöpft. Der Weg führte sie durch ein aktives Kriegsgebiet mit der stetigen Gefahr einer Bombardierung, Entführung oder Scharfschützenfeuer.  
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Das Tor auf der türkischen Seite der Grenze glitt auf und der LKW stieß zu drei anderen Fahrzeugen, die die Crew, Nahrung, Wasser, Medizin und ein medizinisches Labor transportierten. Es dauerte 24 Stunden, um die 1.200 Kilometer entfernte Tierrehabilitationsstation in Karacabey im Nordosten des Landes zu erreichen, die von der türkischen Regierung betrieben wird. Es war der dritte Tag ohne Schlaf für die Retter.

    Und eine zweite Operation stand ihnen noch bevor. Der erste Konvoi hatte nur neun Käfige transportiert: Zwei weitere Löwen und zwei Hunde – Huskys – warteten noch immer in Magic World.

    SIE SAGTEN, ES SEI „UNMÖGLICH“

    Nachdem Libyens ehemaliger Präsident Muammar al-Gaddafi 2011 gestorben war, fütterte Amir Khalil etwa 700 verhungernde Tiere im Zoo von Tripolis, bis die Regierung diese Aufgabe wieder übernehmen konnte. 2016 evakuierte er 15 Überlebende aus den Käfigen des Khan Younis Zoos im Gazastreifen, in dem die Kadaver zahlreicher Tiere lagen, die auf natürlichem Weg mumifiziert waren. Im März 2017 holte er einen Löwen und einen Bären aus dem Zoo im irakischen Mossul, der sich in einem Stadtteil befand, den er als „Horrorfilm“ beschrieb. Als Vier Pfoten diese Rettungsaktion verkündete, wurde ihre Facebookseite mit Appellen geflutet, nach Aleppo zu gehen. 

    Khalil recherchierte. Sybelle Foxcroft brachte in Erfahrung, dass die überlebenden Tiere in Magic World in schlimmer Verfassung waren und dass der Zoowärter Khalifa nur unregelmäßig dort war. Wann immer Kämpfe ausbrachen, waren die Tiere ohne Nahrung und Wasser in ihren rostigen, dreckigen Gehegen gefangen, inmitten von Waffenfeuer und Explosionen. 

    Im Rehabilitationszentrum in der Türkei erlitt der Tiger Sultan einen Herzstillstand, als er für seine tierärztliche Untersuchung in Betäubung lag. Das Team konnte ihn wiederbeleben.
    Foto von Jasmine Duthie, Vier Pfoten

    Khalil kontaktierte internationale Sicherheitsfirmen und fragte um Rat. Sie sagten ihm, dass es unmöglich sei, die Tiere zu retten. „Sie bezeichneten diese von Rebellen kontrollierte Gegend zwischen Aleppo und der türkischen Grenzen als ‚No-go‘-Area“, sagte er.

    Aber Khalil ist kein Mann, der einfach aufgibt. Er wurde zu einem diplomatischen Wirbelsturm und kontaktierte Menschen aus aller Welt, die diese komplexe und riskante Rettung möglich machen konnten. Zwei Tierschutzzentren im Jordan begannen sofort damit, neue Gehege zu bauen. Dann steuerte Eric Mangolis finanzielle Unterstützung bei. Der Journalist hatte aus mehreren Kriegen berichtet und betreibt eine Tierschutzstiftung. Er sagt, er sei entsetzt gewesen von dem Gedanken „dieser armen, erbärmlichen Tiere, die inmitten des grausigen Krieges in Syrien gefangen sind.“ 

    Bevor Vier Pfoten die Tiere durch die Checkpoints der Green Zone transportieren konnte, brauchte der lokale Mufti – der Verwalter, der dem Sharia-Gericht der Region vorsteht –, einen Eigentumsnachweis. Er verlangte eine Videoaufzeichnung des Zoobesitzers Massassati, in der er sagte, dass er die Tiere an Vier Pfoten verschenkt hätte, damit diese zur medizinischen Behandlung ins Ausland gebracht werden konnten. 

    Eine Löwin wird in der Türkei medizinisch behandelt. Die Untersuchungen zeigten, dass eine andere Löwin trächtig war, dass das Hyänenmännchen blind ist und dass die weibliche Hyäne an einer Nierenerkrankung im fortgeschrittenen Stadium litt.
    Foto von Ali Atmaca, Anadolu Agency, Getty Images

    DIE TIERE VERSCHWINDEN 

    Massassati spricht mit Stolz über Aalim al-Sahar bzw. Magic World – er benannte die Anlage in Anspielung auf die Magie der Natur um. Diese Entscheidung war kontrovers, da das Konzept der Magie dem islamischen Glauben entgegensteht. 

    Es dauerte acht Jahre, um Magic World zu erbauen. Der Park hatte 50 Fahrgeschäfte, Restaurants, ein Aquarium – und einen Zoo mit 70 Nilkrokodilen, zehn Tigern, Lamas, Geparden, Affen, Hirschen, Vögeln, Schildkröten, Schlangen, Leoparden, Löwen und vielen anderen Tierarten. 

    Anfang 2017 waren von den 300 Tieren noch etwa 50 übrig. 

    Der Löwe Sayeed trinkt im Rettungszentrum in der Türkei. Die Hitze stellte eine weitere Herausforderung bei der Evakuierung dar. Die Pfleger mussten nicht nur sicherstellen, dass die Tiere genug zu trinken hatten, sondern spritzten sie auch mit einem Schlauch ab, um zu verhindern, dass sie auf der Fahrt von Aleppo in die Türkei überhitzten.
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Im April kontaktierten Khalil und Foxcroft Massassati, der Jahre zuvor aus Syrien in die USA geflohen war. Sie erzählten ihm, dass die zwei Tiger schlimm erkrankt waren und dass ein Leopard eine Wunde hatte, in der sich schon Maden tummelten. Ein Bär war ebenfalls krank. Der Gesundheitszustand aller Tiere war prekär. 

    Aber Massassati sträubte sich aus unbekannten Gründen gegen die Anfrage von Vier Pfoten, die Tiere in Sicherheit zu bringen. Er sagte, dass er dem Zoowärter Khalifa genug Geld hinterlassen hätte, um die Tiere 15 Jahre lang zu versorgen, aber dass der Mann alles von Wert in Magic World verkauft hätte, inklusive bedrohter Tiere. Auf der Liste standen auch „zwei Jaguare, vor etwa zwei Jahren in den Irak [verkauft]“ und ein seltener weißer Tiger, der Anfang des Jahres verkauft worden war. „Er hat ihn für fast 40.000 Dollar an einen meiner Freunde im Libanon verkauft. Der Typ hat mich angerufen. Er sagte: Ich hab deinen weißen Tiger. Hast du das Geld bekommen?“ Laut Massassati hat er nichts davon erhalten. 

    Khalifa gab zu, die Tiere ins Ausland verkauft zu haben. Alle wurden ohne die Genehmigungen verschifft, die laut dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen nötig wären, welches den Handel mit Wildtieren reguliert. Er sagte, er hätte es getan, um Geld für die Fütterung der anderen Tiere zu erhalten.

    Die Löwin Dana wurde gerade rechtzeitig evakuiert. In der Nacht, als sie im jordanischen Schutzzentrum Al Ma‘wa ankam, gebar sie ein Junges. Einige Wochen später starb das Jungtier, vermutlich durch die schlechte Ernährung der Mutter in Syrien.
    Foto von Salah Malkawi, Getty Images

    Wochen vergingen und Massassati hielt Vier Pfoten weiter hin. Die Organisation bat einen lokalen Tierarzt aus Aleppo, sich die Tiere anzusehen. Der Tierarzt, der zu seinem Schutz ungenannt bleiben muss, schickte Bilder von einem Bären in einem Käfig voller Granatsplitter, von einem lustlosen Tiger, der im Staub lag, und einem gebrechlichen Hirsch. 

    Im Juni waren die zwei kränklichen Tiger und der Hirsch tot. Der Tierarzt und andere syrische Quellen berichteten, dass die zwei anderen Tiger und die Affen verschwunden waren. 

    Selbst die Rebellen von Hayat Tahrir al-Sham hatten Verständnis für das Leid der Tiere und boten an, sie aus der Green Zone zu eskortieren, sobald Vier Pfoten die Besitzrechte hatte. Khalils Rettungsteam war bereit. Es hing alles an Massassati. 

    Nur noch 16 Tiere waren übrig.

    Khalil untersucht Lucy, einen Husky, im Rettungszentrum in der Türkei. Das Team war entschlossen, kein Tier zurückzulassen, darunter auch die zwei Haushunde in Magic World.
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Mitte Juni flog Khalil nach Louisiana, um Massassati von Angesicht zu Angesicht klarzumachen, dass auch die letzten Tiere verkauft werden oder sterben würden, wenn er sie nicht an Vier Pfoten vermachte. Massassati gab nach und Khalil kehrte mit der unterschriebenen Erklärung und der Videobotschaft zurück, welche die letzten gefangenen Tiere von Magic World befreien würden.

    Bis der Zoowärter Khalifa und sein Team den Sattelzug am 21. Juli verladen hatten, waren drei weitere Leoparden verschwunden und nur 13 Tiere verblieben. 

    ATEMPAUSE IN DER TÜRKEI

    Schwere Kämpfe in der Nähe von Magic World verzögerten die Rettung der zwei Löwen und der zwei Huskys. Die Zeit drängte mehr denn je, denn der syrische Tierarzt hatte entdeckt, dass einer der Löwen – ein Weibchen namens Dana – trächtig war. 

    Die Tiere wurden von der Türkei aus in den Jordan geflogen – aber einige ihrer Käfige waren zu hoch. Das Team musste sich beeilen und die Räder entfernen, damit sie in den Frachtraum des Flugzeuges passten.
    Foto von Steve Winter

    Khalifa und der Konvoi verließen Magic World im Nachmittag des 28. Juni, einem weiteren heißen Freitag. Am Checkpoint in Afrin wurden sie von kurdischen Soldaten angehalten, die drohten, Khalifa zu verhaften und zu töten. Sie behaupteten, dass sein toter Bruder für eine Fraktion gekämpft hatte, die mit al-Qaida in Verbindung stand.  

    Vier Pfoten musste stundenlang verhandeln, um Khalifas Freilassung und seine Rückkehr nach Aleppo zu arrangieren. Die Nacht brach herein, was die Gefahr auf den Straßen erhöhte – und der Konvoi war noch immer weit von der Grenze entfernt. Gegen 19 Uhr, der Schließzeit der Grenze bei ar-Raʿi, bat Khalil die Grenzpolizei zu warten und konnte sie tatsächlich irgendwie überreden. Der LKW kam um 21:15 Uhr schließlich an. Das Team verlud die Tiere zügig auf ein türkisches Fahrzeug und machte sich auf den Weg nach Karacabey.

    Als sie ankamen, waren alle 13 Tiere dehydriert und extrem unterernährt. Ihre abgemagerten Körper waren von Zecken und Narben übersäht und mit verfilztem Fell bedeckt. Viele hatten offene Geschwüre. Die Tiere erhielten Bluttests, Augen- und Ultraschalluntersuchungen, Impfungen und wurden auf Parasiten untersucht. Danas Ultraschall zeigte, dass sie zwei Jungen in sich trug. Die Geburt könnte jederzeit einsetzen.

    Sultan, ein extrem abgemagerter, ein Jahr alter Tiger, befand sich in einem kritischen Zustand. Als die Tierärzte ihn betäubten, um Tests durchzuführen, erlitt er einen Herzstillstand. Die Ärzte reagierten sofort: Sie injizierten ihm ein Mittel, um die Betäubung aufzuheben, sowie Adrenalin, um sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Er erhielt eine Herzdruckmassage und künstliche Beatmung. Seine Atmung setzte wieder ein. 

    Ein Löwe erkundet sein neues Gehege in Al Ma‘wa im Jordan. Genau wie Menschen leiden auch Tiere durch den ständigen Stress in einem Kriegsgebiet an psychologischen Traumata. Daher kann es einige Zeit dauern, bis sie sich an ihre neue Umgebung gewöhnt haben.
    Foto von Ahu Savan An. Vier Pfoten

    Die Augen der männlichen Hyäne waren durch Katarakte getrübt, das Weibchen hatte eine schlimme Lebererkrankung. Die drei Löwen und der andere Tiger waren abgemagert, aber den Umständen entsprechend einigermaßen gesund. Die Zähne der Bären waren schwer beschädigt – ein Resultat der schlechten Ernährung und des Herumbeißens auf den Käfigstangen aus Angst oder Langeweile. 

    Laut Khalil leiden Tiere in Kriegsgebieten ebenso wie Menschen an psychologischen Traumata durch die Umgebung voller Tod und Zerstörung und den Stress der Explosionen und des Waffenfeuers. „Einige werden diese Verletzungen noch mit sich herumtragen, wenn ihre physischen Wunden schon seit Jahren verheilt sind“, sagte er. 

    Khalil rechnete damit, die Gesundheitszertifikate und Genehmigungen der türkischen Regierung, mit denen er die Tiere in den Jordan transportieren konnte, schnell zu erhalten. Die Hyänen und Huskys würden ins New Hope Center vor Amman kommen, das von der Princess Alia Foundation erbaut worden war. Die Löwen, Tiger und Bären würden an das Schutzgebiet Al Ma‘wa im Norden der bewaldeten Hügel des Jordans gehen. Al Ma‘wa ist das größte Tierrehabilitationszentrum im Mittleren Osten und wurde 2015 gemeinsam von Vier Pfoten und der Stiftung der Prinzessin Alia gegründet. Die Tiger würden letztendlich in die Niederlande transportiert. Das dortige Felida Big Cat Centre ist auf traumatisierte Tiere spezialisiert, die intensive medizinische Betreuung benötigen.

    ABFLUG

    Drei Wochen nach der ersten Rettung hatten die türkischen Behörden noch immer keine Genehmigungen für die Ausführung der Tiere ausgestellt, die in den kleinen Transportkäfigen verbleiben mussten. 

    Schließlich kamen die Papiere doch noch, und der Fotograf Steve Winter und ich flogen nach Istanbul, um die Tiere von dort aus in den Jordan zu begleiten. Am späten Nachmittag des 10. August trafen wir uns mit dem Team an einem Frachtterminal am Flughafen von Istanbul. Khalil kletterte auf die Käfige und übergoss die Tiere an diesen heißen Tag mit Wasser aus großen Kannen, um sie abzukühlen. Dann wurde jeder Käfig per Gabelstapler in eine riesige Ladezone gebracht, in der es vor Menschen nur so wimmelte – eine Kakophonie aus klirrendem Metall, Maschinen und Menschen, die über den Lärm hinweg herumschrien. 

    Das Gehege der Kragenbären in Magic World war voller Granatsplitter, und die Zähne der Tiere waren durch die schlechte Ernährung und das Angstbeißen an den Käfigstangen in einem schlimmen Zustand. Als sie in Al Ma‘wa ankamen, begannen sie sofort damit, ihre neue Umgebung zu erkunden.
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Die Löwen brüllten. Die Bären liefen unablässig in ihren Käfigen herum – ein Zeichen für psychologische Schäden, die durch den Krieg verursacht wurden. Sultan sackte in seinem Käfig zusammen. Khalil verabreichte ihm eine Kortison-Injektion, um ihn durch den Flug zu bringen. Die männliche Hyäne zitterte mit jedem Geräusch von Metall auf Metall mehr. Auch sie erhielt Kortison sowie Zuckerwasser und Nahrung, um ihren Blutzuckerwert zu stabilisieren. Ihr Zittern legte sich.

    Die Tiere sollten um 20:30 mit einem kommerziellen Flug der Royal Jordanian Airlines das Land verlassen. Die Käfige sollten gerade zum Verladen auf die Rollbahn gebracht werden, als das Team darüber informiert wurde, dass sie etwa 25 Zentimeter zu hoch für den Frachtraum des Flugzeuges waren. Eine fieberhafte Suche tat ein elektrisches Schleifwerkzeug auf. Das stärkste Mitglied des Teams fräste die Räder der Käfige an und hämmerte sie dann ab. Zuschauer applaudierten mit jedem Rad, das zu Boden fiel. Der Pilot wartete mit der voll besetzten Maschine bis Mitternacht. 

    Wir landeten kurz nach 3 Uhr morgens in Amman. Im Frachtbereich warteten die Käfige schon auf ihre Verladung auf zwei Sattelzüge.

    HEIMWEG

    Wir fuhren bis New Hope etwa eine Stunde. Dort wartete Prinzessin Alia Al Hussein bereits auf uns, um uns zu begrüßen. „Es ist ein altes biblisches Sprichwort, dass der Jordan ein Land für Leute von anderen Orten ist, und es hat sich durch die Geschichte hinweg bewahrheitet“, sagte sie strahlend. „Das scheint dieser Tage auch auf andere Arten zuzutreffen.“

    Zehn Männer hievten die schweren, räderlosen Hyänenkäfige in das neue Gehege. Das Männchen lief dreimal am Rand um das komplette Gehege, das Weibchen ließ sich in einen großen Wassertrog fallen. Die beiden wurden schnell unzertrennlich. Die Hunde des Zentrums begrüßten die Huskys mit viel Schnüffelei, Gebell und Schwanzwedeln. 

    Cassie, die weibliche Hyäne, betritt ihr neues Gehe in New Hope, einem anderen Schutzgebiet im Jordan, welches die beiden Hyänen und die zwei Huskys aufgenommen hat.
    Foto von Ahu Savan An, Vier Pfoten

    Prinzessin Alia begleitete uns im Anschluss – inklusive Militäreskorte – auf dem Weg nach Al Ma‘wa. Der Komplex befindet sich auf einem von Olivenbäumen bewachsenen Hügel. Der Bewuchs bietet eine schattige Zuflucht vor der brennenden Wüstensonne. 

    Jedes der Tiere reagierte auf seine Befreiung anders. Einer der Bären betrat sein neues Gehege, verschlang eine Mahlzeit aus Obst und Gemüse und begann dann damit, an den Olivenbäumen zu kauen. Eines der Löwenmännchen erkundete seinen neuen Hinterhof vorsichtig. Ein anderes rannte in großen Kreisen darin herum. Ein Weibchen – vermutlich seine Gefährtin – wurde in ein angrenzendes Gebäude entlassen, damit sich die beiden wieder kennenlernen konnten. Zudem brauchten die Wunden des Weibchens noch Zeit zum Verheilen. Ihre eine Seite bot einen furchtbaren, scheckigen Anblick. An manchen Stellen fehlte Fell, an anderen hatte sie offene Wunden, die vermutlich von Granatsplittern, Infektionen oder Parasiten stammen, sagte Diana Bernas, die Cheftierpflegerin von Al Ma‘wa. 

    Sultan der Tiger lag schlapp herum, nicht gewillt – oder nicht in der Lage –, sich zu bewegen. Dana, die trächtige Löwin, trottete in ihren Betonunterschlupf und rollte sich völlig erschöpft auf dem Stroh ein. 

    Bis zum Abend hatte sich Sultan nach draußen begeben und schlief im Schatten. Die Tigerin lief zu ihrem neuen Wasserbecken, ließ sich hineinsinken und schloss die Augen. Als sie zu uns herüberkam, machte sie schnaubende Geräusche – ein Tiger-Hallo – und legte sich hin, um sich zu putzen. 

    Als die Pfleger am nächsten Morgen nach Dana sahen, lag ein kleines, fast weißes Löwenjunges an sie geschmiegt. Sie hatte mit der Geburt bis zu ihrer Ankunft an einem ruhigen, sicheren Ort gewartet. Die Pfleger bekamen das zweite Junge nie zu Gesicht. 

    Die kleine Überlebende, Hajar, hielt einen Monat durch, bevor sie zum letzten Kriegsopfer von Magic World wurde. Sie hatte ein geschwächtes Immunsystem und unterentwickelte Organe – vermutlich ein Resultat der schlechten Ernährung ihrer Mutter in Syrien.

    Als endlich das letzte Tier in Al-Ma‘wa ausgeladen wurde, sah Khalil erschöpft aus. Die tiefen Ringe unter seinen Augen ließen den Stress der Planung dieser monatelangen Operation erahnen, die sich von fünf Tagen auf vier zermürbende Wochen ausgedehnt hatte. 

    Khalil nennt diese 13 Tiere „Tierbotschafter“. Für sie, so sagte er, „legten die Menschen ihre Waffen nieder“. Eine kleine, engagierte Gruppe war in der Lage, inmitten all dieser Kämpfe ein paar wilde Tiere in Not zu transportieren. 

    „Diese Tiere können in all der Dunkelheit ein Licht der Hoffnung entzünden.“ 

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