Im Schattenreich der Jaguare

Die majestätische Raubkatze wird in vielen Kulturen Mittel- und Südamerikas verehrt. Sie ist nur noch selten zu sehen, doch als spirituelles Symbol allgegenwärtig.

Von Chip Brown
bilder von Steve Winter
Veröffentlicht am 24. Nov. 2017, 09:38 MEZ
Jaguar in Brasilien
Ein zehn Monate alter Jaguar, aufgenommen von einer Kamerafalle im Pantanal in Brasilien. Das größte tropische Feuchtgebiet der Welt ist einer der letzten sicheren Rückzugsorte für die einzigen Großkatzen Amerikas. Die Jungen lernen früh, auf Bäume zu klettern, um natürlichen Feinden aus dem Weg zu gehen.
Foto von Steve Winter

Meine eine Eintrittskarte in die Welt der Jaguare wird in einem kleinen Plastikbecher serviert: ein braunes, sirupartiges Gebräu aus Blättern von Chacruna-Strauch und Ayahuasca-Ranken. Es heißt la medicina, und die Schüler von Juan Flores haben es zwei Tage lang gekocht. Zu Beginn der Zeremonie weiht der Meister den Trank. Er pafft eine Mapacho, eine Zigarette aus Bauerntabak, und bläst den Rauch über das Gebräu. Anschließend füllt er es in Becher. Jeder von uns erhält nur eine kleine Dosis.

Wir sind 28 Personen aus den USA, Kanada, Spanien, Frankreich, Argentinien und Peru, die sich hier am Ufer des Shanay-Timpishaka (heute als Boiling River bezeichnet) versammelt haben, einem abgelegenen Außenposten im peruanischen Amazonasgebiet. Wir alle sind auf der Suche: Manche hoffen auf Heilung von schweren Krankheiten. Andere suchen nach Orientierung. Und wieder andere – ich eingeschlossen – wollen einfach eine Ahnung von einer anderen, nie gesehenen Welt bekommen. Wir sitzen auf Matten auf dem Boden einer Maloca, eines offenen, mit Blättern gedeckten Pavillons. An der Decke hängen zwei Glühlampen. Zwischen den Dachsparren schwirren Fledermäuse. Schweigend wird die „Medizin“ ausgeteilt. Neben uns stehen Kotzeimer, denn vom Genuss des berüchtigten Amazonasgetränks Ayahuasca kann einem leicht übel werden. Ich denke daran, was der Schamane Don José Campos mir ein paar Tage zuvor in der peruanischen Hafenstadt Pucallpa gesagt hat: „Sie werden kein Ayahuasca einnehmen. Es nimmt Sie ein.“

Ich setze den Becher an und trinke.

Ich bin in die Heilergemeinde Mayantuyacu gekommen, weil ich mehr über Jaguare erfahren will – vor allem aber über den Mythos, der sie umgibt, den „kulturellen Korridor der Jaguare“, wie Alan Rabinowitz es umschreibt. Der Chef der Wildkatzen-Schutzorganisation Panthera hat sich zum Ziel gesetzt, die schätzungsweise 100.000 Jaguare, die noch in Mittel- und Südamerika leben, vor dem Aussterben zu bewahren, ihre Lebensräume und Wanderungswege zu schützen – aber auch die Legenden, die sich um sie ranken.

Welche Faszination die Tiere seit Jahrtausenden auf Menschen ausüben, spiegelt sich in der Kunst und Archäologie präkolumbischer Kulturen. Olmeken, Maya, Azteken und Inka verehrten Jaguare als Götter und schnitzten Abbildungen der Raubkatzen in Tempelwände und Throne, als Handgriffe von Gefäßen und Löffel aus Lamaknochen.

Im Bereich des Okkulten spielt der Jaguar bis heute eine zentrale Rolle. Ob in rauschhaften Bewusstseinszuständen, die die Menschen am oberen Amazonas schon seit Jahrtausenden mithilfe psychoaktiver Pflanzen erkunden, oder in geheimnisvollen Schamanenritualen: Das Raubtier dient als Verbündeter, als Wächter, der Krankheiten vertreiben, Verwandlungen beschleunigen und dunkle Kräfte abwehren kann. Unter den zahlreichen Geistern, die in den Flüssen und Seen, in den Tieren und den schätzungsweise 80.000 Pflanzenarten im Amazonasbecken hausen sollen, gilt der Jaguar als ungekrönter König.

Mayantuyacu liegt etwa 50 Kilometer südwestlich von Pucallpa. „Vor vier Jahren gab es hier noch keine Straße“, sagt Andrés Ruzo, während er mit seinem Lastwagen von der Landstraße auf eine unbefestigte Piste abbiegt. Wir nähern uns Hütten und mit Blättern gedeckten Gebäuden am Fuß eines steilen Berges, zwischen Bäumen, in denen das Schnattern der Stärlinge widerhallt.

Ruzo hat Mayantuyacu und Meister Juan, einen der bekanntesten peruanischen Schamanen, im Laufe der sieben Jahre kennengelernt, in denen er als Doktorand der Southern Methodist University und mit finanzieller Unterstützung der National Geographic Society den Boiling River erforscht hat. Der sechs Kilometer lange Flusslauf speist sich aus Wasser, das tief unter der Erde erhitzt wird und durch Spalten in der Erdkruste nach oben dringt. In manchen Abschnitten ist er mit fast hundert Grad so heiß, dass jedes Lebewesen, das hineinfällt, darin umkommt.

Meister Juan erzählt, er rufe häufig Jaguargeister herbei, damit sie während der Zeremonien den Eingang der Maloca bewachen. Aber wie kann man die Geister von Jaguaren heraufbeschwören, wenn es im Wald keine Jaguare mehr gibt? „Einen Geist kann man nicht auslöschen“, sagt Juan. „Der Körper mag tot sein, aber der Geist ist noch da.“ Meister Juan betet dafür, dass der Jaguar zurückkehrt, denn eines weiß er genau: Ein Dschungel mit Jaguaren ist gesünder als ein Dschungel ohne diese unermüdlichen Jäger, die andere Arten in Schach halten. „Sie sind gut“, sagt er leise. „Ich hoffe, sie kommen zurück.“

Der Augenblick, in dem das Ayahuasca von einem Besitz ergreift, wird mareación genannt, „die Benommenheit“. Aber dieser Begriff wird dem Gefühl, plötzlich in eine andere Welt einzutreten, nicht gerecht. In meinem Fall ist es nicht die Welt der Jaguargeister, sondern das geheime Reich der Pflanzen. Unter dem Einfluss der Droge fühle ich mich, als würde ich mich durch dunkles, dichtes Wurzelwerk schlängeln und durch kathedralenartige Gewölbe aus Schatten und Licht aufwärtsstreben wie Ranken aus dem Unterholz. Und ich kann spüren, wie lebendig Pflanzen sind, fühle ihre Intelligenz, ihre Empfindsamkeit. Tatsächlich scheint in ihnen ein besonderer Geist zu wohnen.

Viele Europäer und Nordamerikaner kommen nach Mayantuyacu und zu den anderen Ayahuasca­Zentren in Peru, weil sie sich dem Geist des Jaguars nähern und ihn mit etwas Glück in sich selbst entdecken wollen. Doch für mich lautet die Lehre des Ayahuasca: Das Brüllen des Jaguars ist nur eine Stimme in der großen ökologischen Symphonie. Wir konzentrieren uns viel zu oft nur auf charismatische Tierarten, insbesondere auf die Großkatzen. Dabei vergessen wir, dass ein entscheidender Teil ihrer Existenz ist, von Tausenden Lebewesen umgeben zu sein – einschließlich uns Menschen.

Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 12/2017 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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