Unsere Tierliebe verändert womöglich das Aussehen von Kohlmeisen

Seit Darwins Zeiten dienten Vögel als Modelle für die Wunder der Evolution – auch diese neue Studie bildet da keine Ausnahme.

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 8. Nov. 2017, 11:27 MEZ
Kohlmeise
Eine Kohlmeise in Overijssel, Niederlande. Der schwarz-gelbe Singvogel lebt unter anderem auch im Vereinigten Königreich.
Foto von Karin Rothman, Nis, Minden Pictures

Das Aufstellen eines Futterhäuschens ist eine der einfachsten Möglichkeiten, sich ein Stück Natur ans Fenster oder in den Garten zu holen. Aber könnte dieser vermeintlich unschuldige Zeitvertreib das Aussehen unserer heimischen Vögel verändern?

Noch ist es zu früh, um das mit Sicherheit zu sagen, sagt Lewis Spurgin, ein Evolutionsbiologe der Universität von East Anglia im Vereinigten Königreich.

Aber er und seine Kollegen haben faszinierende Hinweise darauf entdeckt, dass Kohlmeisen längere Schnäbel entwickeln könnten, um besser an das Futter in Vogelfutterstationen zu kommen.

„Wir wissen, dass Evolution durch natürliche Selektion Pfauenschwänze und Giraffenhälse und solche Dinge hervorbringt“, sagt Spurgin, dessen Ergebnisse in „Science“ veröffentlicht wurden.

„Aber sie funktioniert auch auf subtilere Weise, die weitaus schwieriger zu beobachten ist.“

ÜBER KURZ ODER LANG

Spurgin hat sich schon immer dafür interessiert, wie Vögel als Modelle dafür dienten, die große Fragen der Evolution zu untersuchen. Das brachte ihn und sein Team dazu, sich die DNA von zwei verschiedenen Kohlmeisenpopulationen aus dem Vereinigten Königreich und aus den Niederlanden anzusehen.

Nachdem sie Tausende von DNA-Sequenzen analysiert hatten, entdeckten die Forscher Diskrepanzen in einigen Bereichen des genetischen Codes. Diese stehen bei Menschen mit der Gesichtsform in Verbindung und bei Darwinfinken mit der Schnabelform. Letztere waren zuvor schon Studienobjekte für ähnliche Zwecke. 

Dadurch haben sich die Wissenschaftler gefragt, ob es einen messbaren Unterschied in der Schnabellänge dieser zwei Populationen gibt – und den gab es tatsächlich.

„Wir haben Hinweise auf eine sehr schnelle und kürzlich erfolgte Selektion für längere Schnäbel entdeckt, besonders in der Population im Vereinigten Königreich“, sagt Spurgin.

Um zu untersuchen, ob längere Schnäbel den Vögeln einen Vorteil verschafften, sah sich das Team derzeit laufende Studien zur Aufzucht von Kohlmeisenküken an. Im Vereinigten Königreich zogen die Vögel mit den Genvarianten für längere Schnäbel im Schnitt mehr Küken auf als jene mit den kurzschnäbeligen Varianten.

Spannenderweise traf auf die niederländische Population das Gegenteil zu – womöglich, weil es in Großbritannien deutlich mehr Vogelfutterstationen gibt als in den Niederlanden.

Die Forscher kennzeichneten die langschnäbeligen und kurzschnäbeligen Vögel mit Funksendern und beobachteten dann, welche der Tiere den automatischen Vogelfutterstationen im Vereinigten Königreich einen Besuch abstatteten. Die Ergebnisse zeigten, dass die Kohlmeisen mit den langen Schnäbeln das kostenlose Futterangebot häufiger nutzten als die Individuen mit den kurzen Schnäbeln.

„Wir können nicht sagen, dass die [Vogelfutterstationen] für diesen Unterschied zwischen beiden Populationen verantwortlich sind“, sagt Spurgin. „Aber die Korrelation ist definitiv spannend.“

DARWINS WILDESTE TRÄUME

Arkhat Abzhanov ist ein Forscher auf dem Gebiet der Evolution und Entwicklungsgenetik am Imperial College und am Natural History Museum in London. Er bezeichnete die Studie als ein „besonders gutes Beispiel“ für die Kombination von Genetik und der traditionellen Erforschung physischer Merkmale wie der Schnabelform.

Auch er teilt Spurgins Vorsicht bezüglich der Schlussfolgerung.

„Der fehlende Kontext ist, was da womöglich sonst noch vor sich geht neben der Schnabelform“, sagt Abzhanov. „Es ist nicht klar, ob auch andere Merkmale, die sich zur selben Zeit rasch entwickelt haben, berücksichtigt wurden.“

Wenn sich die Schnäbel verlängern, scheint es beispielsweise wahrscheinlich, dass sich auch die Schädel der Vögel verändern, ebenso wie die Keratinschicht, die den Schnabel bedeckt.

Mit anderen Worten, „der Schnabel funktioniert nicht in Isolation“, sagt Abzhanov, und diese Veränderungen könnten verschleiern, was wirklich passiert.

Für Spurgin gehört das alles zum Spaß dazu. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Darwin auch nur in seinen wildesten Träumen gedacht hätte, dass so etwas passieren würde“, sagt er.

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