Infantizid und Kannibalismus: Die dunkle Seite der Hörnchen
Für viele Menschen sind Hörnchen einfach goldige Zeitgenossen. Die wilde Seite der Tiere wird dabei oft außer Acht gelassen.
Der Tod kommt für die Rothörnchen von Yukon in vielerlei Gestalt: Von oben greifen Vögel an, während unten im Schnee Luchse umherschleichen. Manchmal töten Hörnchen aber auch ihre Artgenossen.
Im Rahmen einer neuen Studie, die in „The Scientific Naturalist“ erschien, haben Forscher entdeckt, dass die Jungtiere von Gemeinen Rothörnchen (Tamiasciurus hudsonicus) oft ausgewachsenen Männchen zum Opfer fallen. Manchmal fressen die Männchen die Jungtiere auch.
Jessica Haines von der Universität von Alberta hat durch das Kluane Red Squirrel Project im kanadischen Territorium Yukon einige Fälle solchen Infantizids beobachten können.
Zum ersten Mal beobachtete Haines den Vorgang 2014. Ein männliches Hörnchen, das sie erkannte – sie tragen farbige Markierungen am Ohr –, kletterte ein Baum hinauf zum Nest eines Weibchens und biss eines ihrer Jungtiere. Es fiel zwischen den Ästen herunter und starb. Eine Woche später fand Haines ein weiteres totes Junges. Schließlich verschwand der ganze Wurf.
Mit Hilfe von DNA-Analysen konnten Haines und ihre Co-Autoren feststellen, dass das mörderische Hörnchen nicht der Vater der getöteten Jungen war. Sorgfältige Beobachtungen haben zudem ergeben, dass der Infantizid in Jahren mit großem Nahrungsangebot sprunghaft ansteigt.
Auf dem ersten Blick erscheint es vielleicht nicht sehr intuitiv, dass in „guten“ Jahren mehr Jungtiere getötet werden. Allerdings steigt in solchen Jahren auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Weibchen zwei Würfe haben. Während der ersten Paarungszeit paaren sich die Weibchen mit mehreren Männchen, damit ein Männchen nicht weiß, welche Jungtiere von ihm abstammen. Aber wenn ein Männchen diese Jungen tötet, stellt das Weibchen seine Milchproduktion ein und wird wieder paarungsbereit. So kann das Männchen das Weibchen verteidigen und sicherstellen, dass der zweite Wurf von ihm selbst gezeugt wurde.
Haines will den Menschen gern auch die andere Seite eines Tieres zeigen, von dem die Leute glauben, dass sie es bereits gut kennen.
„Hörnchen fressen auch junge Häschen, Küken und Vogeleier“, sagt sie.
DIE NATUR KENNT KEIN MITLEID
Infantizid kommt im Tierreich durchaus gelegentlich vor. Bei manchen Arten wie zum Beispiel Löwen töten einige Männchen alle Jungtiere, wenn sie ein Rudel übernehmen.
Aber die meisten Menschen würden wohl nicht vermuten, dass auch die beliebten flauschigen Hörnchen Jungtiere ihrer eigenen Art töten.
Haines zufolge betrachten die meisten Leute sie entweder als potenzielle Haustiere oder als Ungeziefer. Aber das Gemeine Rothörnchen ist ein wildes Tier wie jedes andere und tut, was es tun muss, um zu überleben.
Manchmal weisen die Kadaver der Jungtiere laut Haines Spuren eines partiellen Verzehrs auf. Mitunter hat man die Männchen auch dabei beobachtet, wie sie die Kadaver versteckten – vermutlich, um sie später zu fressen.
Dieses Verhalten ist unter Hörnchen verbreitet, und die kleinen Tiere lagern manchmal alle möglichen interessanten Sachen in ihren Vorratskammern. Haines sagt, dass sie darin schon getrocknete Pilze und Hasenläufe gefunden hat – einmal sogar den Kiefer eines Kojoten.
„Das war in der Nähe eines Highways, er hätte also einem überfahrenen Tier gehört haben können“, erklärt sie.
Infantizid konnte schon bei vielen Hörnchenarten beobachtet werden, sagt John Koprowski, ein Naturschutzbiologe der Universität von Arizona und Autor des Buches „Squirrels of the World“.
„Infantizid hat wahrscheinlich einen deutlich größeren Einfluss auf die Evolution des Verhaltens von Tieren, als wir es derzeit verstehen“, sagt er.
DAS GEHEIMNIS DER BÄUME
Man weiß aktuell, dass die Gemeinen Rothörnchen in Yukon Infantizid begehen und dass diese Praxis in sogenannten „Mastjahren“, wenn es besonders viele Weymouth-Kiefersamen gibt, zunimmt. Ein Geheimnis bleibt allerdings.
„Das Tolle an Hörnchen ist, dass sie voraussagen können, wann ein Mastjahr auftritt“, sagt Haines.
In Mastjahren bringen Weibchen mehr Junge pro Wurf zur Welt. Aber die Weymouth-Kiefern bilden ihre Zapfen erst im Herbst aus, wohingegen die Paarung schon im Februar oder März stattfindet. Auch die vermehrten Infantizide treten schon auf, bevor die Zapfen sich ausgebildet haben. Woher „wissen“ die Hörnchen also, dass es ein Mastjahr wird?
Haines zufolge haben die Tiere das im Gefühl. Man hat herausgefunden, dass Pflanzen in Mastjahren höhere Konzentrationen von Hormonen namens Gibberellinen aufweisen. Vielleicht können die Hörnchen diese Wirkstoffe im Frühling spüren, wenn sie die Knospen der Bäume fressen.
Letztendlich zeigt das alles, wie viel wir noch über diese vermeintlich gewöhnlichen Tiere lernen können. Das Kluane Red Squirrel Project läuft nun schon seit fast drei Jahrzehnten, wie Haines sagt.
„Und selbst nach all der Zeit lernen wir immer noch etwas Neues über Hörnchen.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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