Verschollenes Hirschferkel nach fast 30 Jahren wiederentdeckt

Eine kleine Gruppe Vietnam-Kantschile konnten nach langer Suche in einem vietnamesischen Wald fotografiert werden.

Von Stephen Leahy
Veröffentlicht am 13. Nov. 2019, 13:47 MEZ
Vietnam-Kantschil (Tragulus versicolor)
Eine Kamerafalle machte diese Aufnahme eines Vietnam-Kantschils (Tragulus versicolor), das seit fast einer Generation verschwunden war. Nach wie vor ist kaum etwas über die scheuen Tiere bekannt.
Foto von SIE, GWC, Leibniz-IZW, NCNP

Fast eine Generation lang war es vor der Außenwelt verborgen geblieben. Experten befürchteten schon, es sei ausgestorben. Nun aber wurde endlich ein winziger Paarhufer mit kleinen Hauern von einer Kamerafalle abgelichtet, als er durch die Trockenwälder im südlichen Vietnam schlich. Der letzte wissenschaftliche Beweis für die Existenz des Vietnam-Kantschils (Tragulus versicolor) aus der Familie der Hirschferkel stammt aus dem Jahr 1990. Damals schoss ein Jäger ein Exemplar und spendete den Kadaver der Wissenschaft.

„Das ist eine wirklich coole Spezies und wir haben lange Zeit gehofft, einen Beweis dafür zu finden, dass es diese Tiere noch gibt“, sagt Andrew Tilker. Der Biologe ist auf südostasiatische Wildtiere spezialisiert und derzeit Doktorand am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin.

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Das Vietnam-Kantschil ist ungefähr so groß wie ein Hase und das Fell auf seinem Rücken schimmert silbrig. Der Wiederkäuer verfügt über verlängerte Eckzähne, die auch auf dem neuen Foto erkennbar sind. Da sie weder Hörner noch Geweih haben und die Zähne gerade bei Männchen besonders lang sind, vermuten Wissenschaftler, dass sie bei Kämpfen um Reviere und Weibchen zum Einsatz kommen.

Die Forscher hinter der Entdeckung veröffentlichten ihre Erkenntnisse in „Nature Ecology & Evolution“. Sie hoffen, dass die Wiederentdeckung der Art zu ihrem Schutz beitragen kann. Die kleinen Tiere werden vorwiegend durch Drahtschlingfallen bedroht, die von Jägern aufgestellt werden. Die Methode, mit der die Forscher das Kantschil fanden, könnte außerdem dabei helfen, andere verloren geglaubte Arten wiederzuentdecken.

Verschollene Art? Einheimische fragen!

Tilker und seine Kollegen suchten die trockenen Küstenwälder in der Nähe der Stadt Nha Trang auf. Dort wurden im Jahr 1910 die einzigen anderen Exemplare der Art für die Wissenschaft eingefangen. Kamerafallen in Vietnams feuchten Tropenwäldern konnten seither kein einziges Bild der Tiere schießen – es könnte also sein, dass die Kantschile trockene Wälder mit dornigem Gestrüpp bevorzugen.

„Solche Wälder gibt es dort zwar nicht häufig, aber es gibt bestimmte Teile Vietnams, die mich an meinen heimatlichen Bundesstaat Texas erinnern“, sagt Tilker.

Der genaue Ort, an dem die 1910 entdeckten Exemplare gesichtet wurden, ist nicht bekannt. Deshalb besuchten die Forscher kleine Gemeinden in der Region und sprachen mit den lokalen Jägern und Waldexperten, um herauszufinden, ob sie ein Kantschil mit einem silbernen Rumpf gesehen hatten. (Die verwandte Art des Kleinkatschils ist weit verbreitet, hat aber keinen silbernen Rücken.)

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    Die illegale Jagd mit Schlingfallen ist in Vietnam weit verbreitet, weshalb diese Unterhaltungen nicht einfach waren. Die Wissenschaftler mussten einige Zeit mit den Menschen verbringen und ihr Vertrauen gewinnen, sagt An Nguyen, der zur Global Wildlife Conservation gehört und die Expedition leitete.

    „Allerdings sind die Menschen auch besorgt darüber, wie viele Tiere in den letzten fünf bis zehn Jahren verschwunden sind“, sagt Nguyen. „Sie wissen, dass das an der intensiven Jagd und den Schlingfallen liegt.“

    Schließlich führten die Einheimischen Nguyen und andere Expeditionsmitglieder an jene Orte im Wald, an denen sie vor Kurzem Kantschile gesehen hatten, die der Beschreibung entsprachen. Die Forscher stellten Kamerafallen auf und schossen von November 2017 bis Juli 2018 zahlreiche Bilder. Insgesamt 280 Mal lief ein Vietnam-Kantschil durch den Bildausschnitt. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sie einige Tiere mehrmals fotografierten. Wie viele der Wiederkäuer in der Region leben, lässt sich deshalb nicht genau sagen.

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    „Ich war überglücklich, als wir die Kamerafallen überprüft haben und Fotos von einem Kantschil mit silbernen Flanken sahen“, sagte er.

    Die Hirschferkel sind aber nicht die einzigen heimischen Tiere, die durch den großflächigen Einsatz von Schlingfallen an den Rand der Ausrottung getrieben wurden. Auch andere hirschartige Spezies wie die Saola und der Riesenmuntjak sind von der Problematik betroffen.

    Diese illegale Fangmethode hat sich in Ostasien vor allem durch die steigende Nachfrage nach Wildfleisch ausgebreitet. Eine weitere Folge dessen ist der zunehmende Schwund intakter Lebensräume in Vietnam. In solchen Fällen mangelt es zwar nicht an großen und eigentlich gesunden Wäldern, aber da alle möglichen Säugetiere in den Fallen landen, spricht man im Englischen auch vom Leerer-Wald-Syndrom.

    Aufgeben ist keine Lösung

    Trotz der neuen Studie ist über das Vietnam-Kantschil kaum etwas bekannt. Anhand der Fotos und Videos lässt sich vermuten, dass sie einzelgängerisch leben und tagsüber nach Früchten und Kräutern suchen.

    „Sie laufen auf den Spitzen ihrer Hufe und schleichen sehr vorsichtig auf ihren dünnen Beinchen herum“, sagt Tilker.

    Insgesamt leben in Süd- und Südostasien neun Kantschilarten sowie eine weitere in Zentralafrika. Kantschile sind die kleinsten Huftiere der Welt.

    Als nächstes wollen die Wissenschaftler Kamerafallen in einer anderen Trockenwaldregion Vietnams aufstellen. Langfristig wollen sie die erste umfassende Bestandsstudie der Art durchführen, um ihre Populationsgrößte und ihre Verbreitung zu bestimmen.

    Derzeit können die Forscher nicht sagen, wie viele Vietnam-Kantschile es wohl noch gibt. Aufgrund der mangelhaften Datenlage kann ihnen deshalb auch keine Gefährdungskategorie zugeordnet werden. Wenn ein oder zwei Bereiche mit entsprechend großen, stabilen Populationen ausfindig gemacht werden können, kann man Tilker zufolge mit Schutzmaßnahmen beginnen. Dazu zählen zum Beispiel die Aufklärung der lokalen Bevölkerung sowie Wildereikontrollen.

    Das langfristige Überleben der Art hängt vor allem davon ab, die Wilderei und den Einsatz von Schlingfallen zu reduzieren. Auch wenn Vietnam diese Problematik ernst nimmt, sind beides Probleme, gegen die sich nur schwer vorgehen lasse, so Tilker.

    „Die Wiederentdeckung des Vietnam-Kantschils ist eine große Hoffnung für den Erhalt der Artenvielfalt in Vietnam, insbesondere für bedrohte Arten“, sagt Hoang Minh Duc, der Leiter der Zoologieabteilung am Southern Institute of Ecology. Ihm zufolge wird sie Vietnam und seine internationalen Partner dazu motivieren, auch nach anderen Arten zu suchen und die Bemühungen um den Erhalt der Artenvielfalt des Landes zu verstärken.

    Das Vietnam-Kantschil ist das erste Säugetier, das im Rahmen des Programms „Search for Lost Species“ der Global Wildlife Conservation wiederentdeckt wurde. Die Initiative will um die 1.200 Tier- und Pflanzenarten wiederfinden, die in der Wissenschaft als verschwunden gelten – und sie schützen. Viele dieser Arten sind weder aufregend noch charismatisch, so Tilker, und brauchen gerade deshalb Aufmerksamkeit.

    „Wir sollten sie nicht einfach aufgeben, nur weil wir sie lange nicht mehr gesehen haben“, sagt er.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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