Mobiles Biotop: Schildkröten können über 100.000 winzige Lebewesen auf ihrem Panzer tragen

Hunderttausende Kleinstlebewesen reisen auf Schildkröten durch die Weltmeere – und könnten Aufschluss über die Wanderrouten der Reptilien geben.

Von Corryn Wetzel
Veröffentlicht am 19. Juni 2020, 15:18 MESZ
Unechte Karettschildkröte

Eine Unechte Karettschildkröte grast auf einer Seegraswiese. Wenn sie den Meeresboden aufwühlt, setzen sich Zehntausende winziger Anhalter auf ihrem Panzer ab, darunter Kleinstlebewesen wie Nematoden, Krustentiere und Hydrozoen.

Foto von Brian Skerry, Nat Geo Image Collection

Unechte Karettschildkröten schwimmen Tausende von Kilometern durch die Weltmeere – aber sie reisen nicht allein. Forschungsergebnisse zeigen, dass sie auf ihren Panzern überraschend vielfältige und artenreiche Populationen winziger Lebewesen mit sich herumtragen.

Eine Studie, die am 20. Mai 2020 in der Fachzeitschrift „Diversity“ veröffentlicht wurde, wurde das Leben auf dem Rücken der Schildkröten genauer erforscht. Die Ergebnisse zeigen, dass Unechte Karettschildkröten im Schnitt 34.000 Kleinstlebewesen auf ihrem Panzer tragen. Bei einer der untersuchten Schildkröten fand man sogar fast 150.000 einzelne Tiere, darunter Nematoden, Larven von Krebstieren und Garnelen.

„Da ist buchstäblich eine [ganze] Welt drauf“, sagt Jeroen Ingels, ein Meeresökologe an der Florida State University. Es sei toll, „so einen Artenreichtum auf einem anderen Organismus zu finden“.

Galerie: Das Leben unter dem Meer

Ingels und sein Team entdeckten mehr als hundert neue Arten der Mesofauna – vor allem Nematoden, die zuvor noch nicht auf Unechten Karettschildkröten oder anderen Schildkröten gefunden wurden. Das Team untersuchte für seine Studie 24 Unechte Karettschildkröten, die im Juni 2018 St. George Island in Florida erreichten.

Es war bereits bekannt, dass auf Schildkrötenpanzern ein paar Anhalter mitreisen. Aber ein solches Ausmaß und einen solchen Grad an Vielfalt habe man zuvor noch nicht gesehen, sagt Ingels.

Studien über diese winzigen Anhalter könnten den Forschern helfen, die Reisen von Meeresschildkröten nachzuvollziehen, da bestimmte Mesofauna nur in bestimmten Regionen vorkommt. Künftige Bemühungen zum Schutz der Unechten Karettschildkröten würden davon wahrscheinlich profitieren. Außerdem könnte diese Forschung auch dazu beitragen, zu erklären, wie sich die winzigen Tiere durch den Ozean bewegen – was bisher noch ein Rätsel ist.

Schwimmende Welten

„Die Mesofauna besetzt all die winzigen Räume, die andere Organismen nicht besiedeln können“, erklärt Ingels. Daher ist es nicht unerwartet, sie auch auf Schildkröten zu finden. Aber die schiere Zahl habe dann doch überrascht, sagt er.

Zu den mikroskopisch kleinen Tieren gehören auch Nematoden, die wie winzige Würmer aussehen und in fast jedem Lebensraum der Erde zu finden sind, von der Tiefsee bis zu den höchsten Bergen. Außerdem entdeckten die Forscher auf den Panzern Flohkrebse, Ruderfußkrebse und Hydrozoen (kleine Nesseltiere).

Auf dem Panzer herrsche viel Konkurrenz, sagt Ingels. Größere Mimeinetfahrer wie Garnelen und Krabben machen oft Jagd auf die kleineren Tiere. Nematoden fressen die Bakterien und den Detritus, der sich auf der Schale absetzt – und in einigen Fällen fressen sie sogar andere Nematoden.

BELIEBT

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    Hier abgebildet ist eine Art von Flohkrebsen, die auf den Panzern Unechter Karettschildkröten reichlich vorkommen. Forscher fanden mehr als 100.000 Flohkrebse auf 24 dieser Meeresschildkröten.

    Foto von Dr. Jeroen Ingels

    „Es ist eine enorm vielfältige mikroskopisch kleine Welt, die miteinander interagiert und über die wir nur sehr wenig wissen“, sagt Ingels.

    Einige der größeren Tiere wie Rankenfußkrebse können den Panzer einer Schildkröte verkrusten und beschädigen. Sie erhöhen auch den Widerstand beim Schwimmen, tragen andererseits aber auch zur Tarnung bei. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die winzige Mesofauna den Schildkröten schadet. „Schildkröten haben zweifellos auch Parasiten und Schädlinge, aber die Mesofauna gehört nicht dazu.“

    Nathan Robinson erforscht Meeresschildkröten an der spanischen Fundación Oceanogràfic in Valencia und war an der Studie nicht beteiligt. Er findet es nicht überraschend, dass Meeresschildkrötenpanzer mit reichlich Leben bedeckt sind. „Sie haben da eine perfekte Plattform, ein Floß, um durch den Ozean zu reisen“, sagt er. „Damit werden sie fortwährend in wunderbare Strömungen voller Nahrung hineingezogen“, ein großer Vorteil für Filtrierer wie Rankenfußkrebse und Schwämme.

    Suppenschildkröte genießt eine Quallenmahlzeit

    Berühren verboten

    Ingels und seine Kollegen erforschen Unechte Karettschildkröten auf St. George Island, weil sie einer der Nistplätze mit der größten Schildkrötendichte im nördlichen Golf von Mexiko ist. Um die Tiere zu finden, verwenden sie rot getönte Stirnlampen – eine Lichtwellenlänge, die für die Schildkröten weniger störend ist und die menschliche Nachtsicht nicht beeinträchtigt. Um mit den Tieren arbeiten zu dürfen, müssen die Forscher von der Florida Fish and Wildlife Conservation Commission ausgebildet und zertifiziert werden.

    Ingels und seine Forscherkollegen arbeiten schnell, um Proben von den Schildkröten zu nehmen. Sie nähern sich den Tieren erst, wenn sie auf dem Weg zurück ins Meer sind. „Es ist entscheidend, dass wir der Schildkröte nicht die Chance nehmen, all ihre Eier zu legen“, sagt Ingels.

    Bei der Probeentnahme kauern die Wissenschaftler neben dem Reptil und verwenden kleine Kunststoffspachtel, um die sichtbaren Tiere auf der Oberfläche des Panzers vorsichtig abzuschaben. Als nächstes kommen in Süßwasser getränkte Schwämme zum Einsatz. Damit werden winzige Organismen eingesammelt, die mit dem bloßen Auge nicht mehr erkennbar sind.

    Forscher sammeln winzige Tiere vom Panzer einer Unechten Karettschildkröte. Normalerweise ist es illegal, mit Meeresschildkröten zu hantieren oder sie zu berühren. Dieses Bild wurde allerdings unter Bedingungen aufgenommen, die von der Florida Fish & Wildlife Conservation Commission genehmigt wurden. Die Forscher arbeiteten bei rotem Licht, das für die Tiere weniger störend ist. Bei der Nachbearbeitung wurde die Aufnahme in Schwarzweiß umgewandelt.

    Foto von Dr. Matthew Ware

    Im Labor filtern sie dann mit feinmaschigen Sieben größere Organismen wie Weichtiere und kleine Krebse aus der winzigen Mesofauna heraus. Unter einem Mikroskop sortieren und identifizieren sie ihre Funde.

    „Es ist immer ziemlich aufregend, eine Probe zum ersten Mal zu untersuchen, weil man nicht weiß, was man sehen wird“, sagt Ingels.

    Aufgrund der Reise- und Kontaktbeschränkungen kann er die Schildkröten, die im Juni dieses Jahres zum Nisten zurückkehren, nicht studieren. Aber er ist schon gespannt darauf, welche neuen Tiere die Karettschildkröten im nächsten Jahr mitbringen werden – insbesondere diejenigen, die bereits untersucht und markiert worden sind.

    Mikroorganismen auf dem Schildkröten-Floß

    Die Studie wirft Fragen darüber auf, wie diese winzigen Tiere überhaupt auf die Schildkröten gelangen – und wie wichtig Schildkröten für ihre Fortbewegung sind.

    Wahrscheinlich nehmen die Schildkröten viele der kleinen Anhalter mit, wenn sie am Meeresboden nach Nahrung suchen. Dieser ist ein Hotspot für Mesofaua. Die Reptilien wirbeln dort Kleinstlebewesen auf, die auf dem Panzer einer Schildkröte neuen Lebensraum finden könnten, mutmaßt Ingels.

    Die Meeresbiologin Theodora Pinou, eine Professorin an der Western Connecticut State University, war an der Studie nicht beteiligt. Sie glaubt, dass sich nur deshalb so viele Anhalter auf dem Panzer einfinden, weil die Schildkröte durch ihr normales Verhalten so oft in Kontakt mit den kleinen Lebewesen kommt. Es hätte also nichts damit zu tun, dass ihr Panzer etwas besonders Einladendes an sich hätte.

    „Ich glaube nicht, dass die Schildkröte da wie ein Magnet wirkt“, sagt Pinou. Sie hat herausgefunden, dass die im Atlantik lebenden Unechten Karettschildkröten mehr mikroskopische Anhalter mitnehmen als ihre pazifischen Artgenossen. Sie vermutet, dass dies eine Folge der unterschiedlichen Umweltbedingungen und Mesofauna-Konzentrationen ist.

    Unabhängig davon, wie die winzigen Tiere auf die Schildkröten treffen, fungieren die Reptilien für sie als Flöße, die die Mesofauna auf ihrer Wanderung über große Entfernungen verteilen. Das könnte helfen zu erklären, wie sich so viele winzige Tiere so weit durch die Meere verbreitet haben. Bislang ist diese Frage ungeklärt, denn viele dieser Lebewesen können nicht weit schwimmen oder über lange Strecken im offenen Meer überleben.

    „Ein paar schwimmende Entenmuscheln oder Meereis können bestimmte Organismen ebenfalls transportieren, aber in einem ganz anderen Maßstab und einer anderen Dichte als Meeresschildkröten“, sagt Ingels.

    Tracking per Mesofauna

    Weil Meeresschildkröten so weit reisen, ist es schwierig und teuer, sie mit technischen Hilfsmitteln zu verfolgen. Ingels hofft, dass die Analyse der winzigen Schildkröten-Anhalter und ihrer Nahrung Hinweise darauf liefern könnte, wo die Schildkröten sie aufgegabelt haben oder wohin sie gereist sind. Entsprechende Tests möchte er in Zukunft durchführen.

    Steigende Temperaturen sorgen für Männchenmangel bei Schildkröten
    Die steigenden Temperaturen vor den australischen Küsten haben womöglich verheerende Folgen für den Bestand an Suppenschildkröten: Sie sorgen dafür, dass aus fast all ihren Eiern Weibchen schlüpfen.

    Studien dieser Art gab es an der Mesofauna bisher noch nicht. Forscher haben allerdings den chemischen Aufbau von Rankenfußkrebsen auf den Panzern Grüner Meeresschildkröten und Unechter Karettschildkröten untersucht. Die Studie zeigte, dass die Isotope in den Krebsen Aufschluss über die Bedingungen an den von ihnen bereisten Orten geben, beispielsweise Temperatur und Salzgehalt. Daraus lassen sich die Migrationsrouten ableiten.

    „Je genauer man sich diese Tiere ansieht, desto mehr gibt es zu entdecken“, sagt Robinson.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

    Schildkröten

    Video2:23

    Tumor-Therapien retten Grüne Meeresschildkröten

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