Was wäre eine Welt ohne Schildkröten?

Die langlebigen Urgesteine sind zunehmend bedroht. Ihr Verlust wäre nicht nur ein Rückschlag für ihre Ökosysteme.

Von Liz Langley
Veröffentlicht am 10. Jan. 2020, 15:22 MEZ

Egal, was sie tun – Schildkröten sehen eigentlich nie gestresst aus. Sie trödeln gemütlich durch den Wald oder sonnen sich auf einem Baumstamm und vermitteln den Eindruck, als würden sie das entspannteste Leben der Welt führen.

Aber hinter ihrem gemächlichen Äußeren sind sie regelrechte Ökosystem-Ingenieure, reisen deutlich weiter, als man denken würde, und wechseln sogar zwischen verschiedenen Ökosystemen hin und her.

Suppenschildkröte genießt eine Quallenmahlzeit

„Alle Tiere mit einer Wirbelsäule und einem Panzer gelten als Schildkröten“, sagt Jeffrey Lovich, ein Ökologe des Geologischen Dienstes der USA. „Es sind die einzigen Tiere der Erdgeschichte, deren Hüften und Schulterblätter sich innerhalb ihres Brustkorbs befinden.“

Es gibt sowohl Landschildkröten, die nicht schwimmen können, als auch Meeresschildkröten und jene, die teils an Land und teil im Wasser leben.

Wie sähe unsere Welt ohne diese einzigartigen Reptilien aus?

Schwindende Schildkröten

Etliche Schildkrötenarten laufen bereits Gefahr zu verschwinden.

Von der Jangtse-Riesenweichschildkröte existieren nur noch drei Exemplare. Das letzte bekannte Weibchen der Art verstarb im April 2019, womit die Art nun als funktional ausgestorben gilt. Auch von der Nördlichen Batagur-Schildkröte, deren Männchen zur Paarungzeit einen dramatischen Farbwechsel zeigen, existieren nur noch eine Handvoll Exemplare. Zuchtprogramme wie die der Turtle Survival Alliance in Indien und des Turtle Island Conservation Breeding and Research Center in Bangladesch versuchen, das Schicksal der Tiere abzuwenden.

Zwischen 2004 und 2014 schrumpfte der Bestand der Kalifornischen Gopherschildkröte in Kalifornien, Nevada und Utah um 37 Prozent. Und das, obwohl die Tiere „durch das vielleicht strengste Umweltgesetz der Welt geschützt sind, den Endangered Species Act“, sagt Lovich, der Hauptautor einer Studie über den Rückgang von Schildkröten, die 2018 im Fachmagazin „Bioscience“ erschien. Seit dem Ende des Mittelalters sind ganze 61 Prozent aller 356 Schildkrötenarten ausgestorben oder zahlenmäßig so weit zurückgegangen, dass sie nun bedroht sind.

Galerie: Schildkröten-Vielfalt

Viele von ihnen werden für ihr Fleisch oder den internationalen Haustiermarkt gejagt. Aber auch der Klimawandel und die Zerstörung ihrer Lebensräume könnten ihrer eindrucksvollen Erfolgsgeschichte auf dem Planeten ein unrühmliches Ende bereiten.

Sie haben das Massensterben der Dinosaurier überlebt, „aber keine Schildkröte hat die Zeit, sich weiterzuentwickeln, um tödlichen Autounfällen auf Straßen zu entgehen“, sagt Whit Gibbons. Der emeritierte Professor für Ökologie an der University of Georgie ist der Co-Autor der Schildkrötenstudie.

Welchen Beitrag leisten Schildkröten zum Ökosystem?

Wie würde eine Welt ohne Schildkröten also aussehen?

In jedem Fall würde sie anders riechen. „Schildkröten sind wichtige Aasfresser, quasi die Müllabfuhr eines Gebietes“, sagt Gibbons. Sie fressen tote Fische aus Seen und Flüssen.

„Sie richten keinerlei Schaden an und tun viel Nützliches.“

Außerdem schaffen sie Rückzugsorte für zahlreiche andere Tiere. Georgia-Gopferschildkröten graben beispielsweise Bauten, in denen mehr als 350 Tierarten Schutz finden, darunter Kaninchenkauze, Hasen und sogar Luchse.

Als Samenverteiler tragen sie zu einer gesunden und vielfältigen Landschaft bei. Eine Dosenschildkröte, die ein paar Erdbeeren frisst, dann einige hundert Meter weit läuft und die Samen der Früchte dann ausscheidet, trägt zur Gestaltung der Landschaft bei. Meeresschildkröten betätigen sich gewissermaßen als Gärtner für Seegraswiesen. Sie halten sie Halme kurz und die Wiesen dicht, wovon wiederum andere Meerestiere profitieren, die dort ihren Nachwuchs ablegen oder aufziehen. Außerdem transferieren sie Energie von einem Ökosystem in ein anderes: In den Strandgelegen der Tiere bleiben oft Eier zurück, aus denen keine Schildkröten schlüpfen. Diese bieten wichtige Nährstoffe für die Tier- und Pflanzenwelt des Strandlebensraums.

Ein Verlust auf vielen Ebenen

Wie die allermeisten Lebewesen spielen also auch Schildkröte eine wichtige Rolle für das Funktionieren der Ökosysteme. Ihr Verlust wäre für uns Menschen darüber hinaus aber auch kultureller und psychologischer Natur, sagt Gibbons. In vielen Mythologien der Welt spielen die Tiere eine Rolle, und auch in der Moderne gibt es zahlreiche Liebhaber der gemütlichen Tiere.

 „Sie sind ein Sinnbild der Überlebenskunst, Es wäre furchtbar, wenn sie es durch 200 Millionen Jahre Erdgeschichte geschafft haben und dann binnen einiger Jahrhunderte größtenteils ausgelöscht werden“, sagt Gibbons. „Das wäre kein besonders tolles Vermächtnis, das wir da hinterlassen.“

Steigende Temperaturen sorgen für Männchenmangel bei Schildkröten
Die steigenden Temperaturen vor den australischen Küsten haben womöglich verheerende Folgen für den Bestand an Suppenschildkröten: Sie sorgen dafür, dass aus fast all ihren Eiern Weibchen schlüpfen.

Lovich zufolge würde es schon helfen, wenn man keine wilden Schildkröten mit nach Hause nähme. In Tierheimen finden sich oft einige der behäbigen Reptilien, die man adoptieren kann. Tierheime sind zudem auch die bessere Alternative dazu, ungewollte Schildkröten einfach freizulassen. In der Wildnis überleben sie in der Regel nicht.

„Lasst wilde Schildkröten wild sein“, sagt er – und lasst sie dort, wo sie sind – zu ihrem eigenen Wohl und auch unserem.

Schließlich wäre die Welt in vielerlei Hinsicht ein Stück ärmer, sollten diese einzigartigen Tiere verschwinden.

„Wenn alle Riesenräder aus den Freizeitparks verschwinden würden, hätte man immer noch Freizeitparks“, sagt Gibbons. „Aber sie wären dann schon ein bisschen weniger spannend, oder?“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

Schildkröten

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