Schneeleoparden im Fokus: Auf der Jagd nach dem Phantom

Schneeleoparden besiedeln die unwirtlichsten Regionen Zentralasiens. Hier verschwinden die geheimnisvollen Katzen wie Phantome in der Landschaft. Doch neuerdings rücken sie durch Naturschutz, Kamerafallen und den Tourismus ins Blickfeld der Menschen.

Von Peter Gwin
Veröffentlicht am 1. Sept. 2020, 15:57 MESZ
Schneeleopard gefangen

Werden Beutetiere wie Steinböcke durch Haustiere wie Yaks und Pferde verdrängt, können die Raubkatzen sich auf die Jagd nach Vieh umstellen. Jedes Jahr werden schätzungsweise 450 Schneeleoparden getötet, meist weil Viehzüchter Vergeltung üben; manche fallen – vorwiegend wegen des Fells – auch Wilderern zum Opfer.

Foto von Prasenjeet Yadav, Frédéric Larrey und Sandesh Kadur

In Kibber kannte Jeder den alten Schneeleoparden mit der Kerbe im linken Ohr. Seit wann er die Schluchten und Klippen rund um das alte Himalayadorf als Revier beanspruchte, wusste niemand. Aber die Einheimischen blieben dem großen Männchen auf der Spur, so gut es ging. Wie alle Schneeleoparden war er halb Phantom, halb Verwandlungskünstler: Er verschwand im Gebirge wie der Rauch aus den Schornsteinen des Dorfes, der sich in der kalten, dünnen Luft auflöste. Die Alten – auf die muss man aufpassen. Wenn Schneeleoparden zu alt sind, um Steinböcke oder Blauschafe zu jagen, die zwischen den Kalksteinklippen leben, suchen sie sich leichtere Beute: die Ziegen und Schafe der Dorfbewohner, Fohlen oder Yakkälber.

An einem klirrend kalten Februarnachmittag robbte ich am eisverkrusteten Rand einer Schlucht entlang und beobachtete mit dem Fernglas den alten Schneeleoparden. Er döste gegenüber auf einem Felsvorsprung; von dort fiel die Steilwand fast 300 Meter zum Fluss Spiti ab. Hin und wieder, wenn ich mit dem Fernglas wackelte, verlor ich den graubraunen Pelz der Katze mit der schwarzen Zeichnung aus den Augen. Dann blickte Prasenjeet von seiner Kamera auf und deutete in die richtige Richtung.

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Schneeleoparden zählen zu den geheimnisvollsten Katzen der Welt. Wie überleben die „Geister der Berge“ in ihrem extremen Lebensraum, in dem die Temperaturen teils auf -40 °C sinken?

Schon seit zwei Jahren hatte der Fotograf Prasenjeet Yadav dieses Männchen hier in einer abgelegenen Ecke des nordindischen Spiti-Tals zu Fuß und mit Kamerafallen verfolgt. In den kommenden Wochen wollten wir mehr als 50 Kilometer wandern, in Canyons hinabklettern, schneebedeckte Pässe überqueren und vereiste Klippen erklimmen. Doch schon heute – es war mein erster Tag in Kibber, und mir war noch mulmig von der Kletterpartie auf 4200 Meter – hatte die Katze beschlossen zu erscheinen.

Gefährliche Anreise

Als ich endlich ein Exemplar erblickte, war ich umgeben vom Surren Dutzender Kameras, die Hunderte von Bildern der Katze einfingen. Auf der Klippe, neben mir und Prasenjeet, standen Touristen aus aller Welt, die meisten über teure Teleobjektive gebeugt. In den letzten Jahren ist Kibber zu dem Ort geworden, an dem man die Katzen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Gesicht bekommt. Aber die Reise dorthin ist nichts für schwache Nerven. Man erreicht das Dorf nur über eine einspurige Straße, die sich im Zickzack durch die steilen Berge windet.

Man muss zudem im Winter hinfahren: Nur dann folgen die Schneeleoparden ihrer Beute in geringere Höhen. Das bedeutet aber auch, dass die Zufahrt größtenteils unter Schnee und Eis liegt. Laut Prasenjeet könne jeder Fahrer, der die Strecke einigermaßen regelmäßig fahre, von Fahrzeugen erzählen, die abgerutscht und ins Tal gestürzt sind. Manche seien auch von fallenden Felsbrocken zermalmt worden. „Keine Sorge“, beruhigte er mich. „Es ist zu 95 Prozent ungefährlich.“

Wie viele Schneeleoparden es im Spiti-Tal gibt, weiß bis heute niemand. Trotz entschlossener Bemühungen ist es praktisch unmöglich, sie zu zählen. Sind Wildtiere selten, braucht ein Schneeleopard unter Umständen mehr als 1000 Quadratkilometer zum Leben. Hier versuchen Fotografen ein Foto seltenes Foto zu schießen.

Foto von Prasenjeet Yadav, Frédéric Larrey und Sandesh Kadur

„Mit Charu hat es angefangen“, sagte er. Charu Mishra, damals ein 25-jähriger Student aus Delhi, kam 1996 zum ersten Mal nach Kibber. In dem kleinen Dorf lebten nur wenige Dutzend Familien, deren Häuser aus Lehm und Holz sich an einem steilen Berghang mit Blick auf das Spiti-Tal drängten. Kibber gehörte früher zum Königreich Tibet. Die Dorfbewohner halten seit jeher Nutztiere, und wie alle Viehzüchter im Himalaya sahen auch sie ihre Lebensgrundlage durch die Schneeleoparden in Gefahr.

Charu wollte herausfinden, welchen Einfluss Haustiere auf das Leben der Wildtiere im Spiti-Tal haben. Er mietete sich ein Zimmer und machte zwei Jahre lang Bestandsaufnahmen auf den hoch gelegenen Weidegründen. Nebenher tauchte er ins Dorfleben ein. An der Schule fehlte ein Mathematiklehrer, also unterrichtete er nachts Mathematik. Wenn jemand krank wurde, brachte er den Patienten mit dem Auto in ein Krankenhaus. Er erledigte Hausarbeit, fand verirrte Tiere, spielte beim Kricket mit, trat in den Jugendclub ein. „Die Eltern haben ihren Kindern gesagt: ‚Nimm dir Charu zum Vorbild‘“, erzählte Thinley. „Ich habe ihn bewundert.“ Irgendwann riet Charu den Dorfältesten, einige Gebirgsweiden für Wildtiere zu reservieren. Sie waren einverstanden.

Nachdem die Nutztiere dort keine Konkurrenz mehr darstellten, vervierfachte sich die Zahl der Blauschafe. Später nannte er Wege, wie man mit den Schneeleoparden und der Gefahr für das Vieh zurechtkommen könnte, ohne die Katzen zu töten. Aber dieses Mal, so Thinley, lehnten die Ältesten höflich ab. „Alle schätzten Charu, aber die Schneeleoparden waren wie ein Fluch. Niemand mochte sie.“ Charu ließ sich nicht abschrecken. Er wandte sich an die jungen Leute von Kibber und empfahl ihnen, eine Viehversicherung einzurichten. „Wir wussten gar nicht, was eine Versicherung ist“, sagte Thinley. Die Mitglieder sollten jährlich den Gegenwert von etwa vier Euro zahlen, um ihre jungen Yaks, die ausgewachsen ungefähr 300 Euro wert waren, gegen den Verlust durch einen Schneeleoparden zu versichern. „Ob das funktionieren würde, wussten wir nicht“, sagte Thinley.

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Am Ende des ersten Jahres wurden vier Ansprüche ausgezahlt. „Die Zahlungen fanden vor aller Augen statt“, sagte er. Da waren dann auch die Ältesten überzeugt.“ Seither wurde das Versicherungsprogramm auf andere Dörfer im Spiti-Tal ausgeweitet. Verwaltet wird es von einem Gremium aus Einheimischen, Unterstützung kommt von der indischen Naturschutzstiftung NCF (Nature Conservation Foundation) und vom Snow Leopard Trust. Solche Bemühungen führten dazu, dass Schneeleoparden rund um Kibber immer häufiger gesichtet wurden. 2015, im ersten Jahr, in dem die Straße auch im Winter befahrbar war, kamen die ersten Touristen. Vergangenes Jahr waren es schon mehr als 200 Besucher, sie gaben im Dorf rund 80 000 Euro aus. Charu ist heute Vorsitzender des Snow Leopard Trust und betont ausdrücklich das Verdienst der Einheimischen für die Naturschutzerfolge.

Wachsende Bedrohung

Nach Schätzungen des Snow Leopard Trust gibt es auf der Erde zwischen 3500 und 7000 Schneeleoparden. Charu räumt ein, dass es sich dabei nur um eine informierte Vermutung handelt. „Bisher konnten wir nur 1,5 Prozent des Lebensraums der Schneeleoparden erforschen. Wie viele es wirklich gibt, können wir nicht sagen.“ Eines aber sei klar, meint Charu. Die Raubkatzen stehen vor wachsenden Bedrohungen: Wilderei, Zerstörung ihres Lebensraums durch Bergbau, Verfolgung durch Viehzüchter, Abnahme der Beutetiere. „Die Erfolge in Spiti und anderswo sind erfreulich“, sagte er, „aber davon brauchen wir mehr.“

Ein Weibchen beaufsichtigt eines von zwei Jungen, hier im Sanjiangyuan- Nationalpark auf der tibetanischen Hochebene in der chinesischen Provinz Qinghai. Das Verbreitungsgebiet der Schneeleoparden erstreckt sich über rund zwei Millionen Quadratkilometer in zwölf Ländern und einigen der zerklüftetsten Landschaften der Erde.

Foto von Prasenjeet Yadav, Frédéric Larrey und Sandesh Kadur

Spektakuläre Jagd

Ein einheimischer Reiseführer  reichte mir ein Fernglas. Fast 300 Meter unter uns lag der Kadaver eines großen Steinbocks im eisigen Fluss. Ein Reiseleiter hatte die Jagd beobachtet: Der Schneeleopard hatte den Bock über die Klippe getrieben. Er hatte nach seinem Hals geschnappt, dann waren beide aus dem Blickfeld gestürzt. „Ich hörte, wie sie aufschlugen. Dann habe ich sie im Fluss gesehen“, sagte er. Beide Tiere hatten den Sturz überlebt. Der Steinbock hatte im eisigen Wasser gezappelt und wäre beinahe entkommen. Doch es gelang dem Schneeleoparden, ihm ins Maul zu beißen und ihn unter Wasser zu drücken, bis er tot war. Der Steinbock gehörte zu einer Herde, die man in der Nähe von Kibber häufig gesehen hatte. „Er hatte die Angst verloren“, meinte Namgyal.

Tod des alten Männchens

Eine Woche nachdem ich aus Indien abgereist war, rief Prasenjeet an. Das alte Männchen war gestorben. Ein Fremdenführer hatte gesehen, wie er wieder einen Steinbock jagte und von einer Klippe verschwand. Dieses Mal überlebte er nicht. Namgyal half der Forstverwaltung, das tote Tier zu bergen. Prasenjeets Stimme klang belegt. „Die Wirbelsäule war gebrochen“, sagte er. „Außerdem war er unterernährt, wahrscheinlich hatte er Hunger.“ Er vermutete, dass die Raubkatze von dem großen Steinbock nicht genug fressen konnte, ehe das Fleisch gefror.

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Als der Schneeleopard eingeäschert wurde, kamen die Dorfbewohner und sahen zu. Sie wärmten ihre Hände über dem Scheiterhaufen. Ein Unwetter war durch das Tal gefegt und hatte dichten Schnee gebracht. Das alte Männchen war bei den Fremdenführern beliebt gewesen, denn man hatte ihn relativ einfach zu Gesicht bekommen. Dieses Jahr hatte jeder Tourist, der nach Kibber gereist war, einen Schneeleoparden gesehen. Nach dem Tod des alten Männchens sah zunächst niemand mehr einen. Aber das Weibchen und ihre Jungen mussten irgendwo sein. Prasenjeet nahm sich vor, sie zu finden.

Aus dem Englischen von Dr. Sebastian Vogel

Der Artikel wurde ungekürzt in der Juli 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

 

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