Leben in extremer Höhe: Diese Maus hält den Weltrekord
In den Anden leben Mäuse auf 6700 Metern Höhe. Damit sind sie die am höchsten lebenden Säugetiere der Erde.
Kein anderes Säugetier lebt in so großer Höhe wie sie: Die gelbrümpfige Blattohrmaus (Phyllotis xanthopygus), auch Patagonische Blattohrmaus genannt, fotografiert auf dem Handschuh eines Forschers am Hang des Vulkans Llullaillaco.
Im Sommer 2019 entdeckten Forscher auf dem Vulkan Llullaillaco eine kleine Maus, genauer: eine Blattohrmaus. Nichts besonderes, sollte man meinen, doch die Maus bewegte sich in einer Höhe, in der bis dahin noch nie ein Säugetier gesichtet worden war.
Der Vulkan Llullaillaco, der an der Grenze von Argentinien und Chile liegt, gilt mit seinen 6700 Metern als höchster in historischer Zeit aktiver Vulkan. Die Maus sichteten die Forscher nur wenige hundert Meter unter dem Gipfel, auf 6200 Metern - ein neuer Weltrekord für Säugetiere. Das ein Wesen in dieser Höhe über- geschweige den leben kann, ist schwer vorstellbar: Es gibt keine Vegetation und vermeintlich keiner Nahrung. Hier, am Rande der Atacama-Wüste regnet es kaum, die Temperaturen sinken bis unter Minus 60 Grad Celsius.
"Die Lebensfeindlichkeit dieser Gegend ist schwer zu übertreffen", sagt Jay Storz, Biologe an der Universität von Nebraska, Lincoln, National Geographic Explorer und Mitglied der Expedition.
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Begeistert von der Begegnung mit der Maus organisierte Storz im Februar darauf eine weitere Expedition zum Vulkan, um gezielt nach Nagetieren zu suchen. Und er fand Nagetiere – sogar in noch größerer Höhe als beim ersten Mal: eine gelbrümpfige Blattohrmaus kletterte munter auf dem Gipfel des Vulkans herum, und damit in rund 6700 Metern Höhe. Schon die 2019 gesichtete Maus hatte den Weltrekord des am höchsten lebenden Säugetiers gebrochen, diese übertrumpfte sie noch einmal deutlich.
Die Expedition, deren Ergebnisse später in einer Studie auf bioRxiv veröffentlicht wurde, markiert den Beginn einer neuen wissenschaftlichen Suche nach Antworten darauf, wie sich die Tiere an diese schwierigen Lebensbedingungen anpassen. Die Hoffnung der Forscher: mit neuen Erkenntnissen auch Hilfe für die Entwicklung medizinischer Lösungen für Menschen zu finden, die mit niedrigem Sauerstoffgehalt fertig werden müssen - ob aufgrund von Lungenkrankheiten, extremer körperlicher Anstrengung oder der Höhenkrankheit.
Auf ihrer zweiten Tour entdeckten die Forscher insgesamt vier Mäusearten auf dem Vulkan. Einige fingen sie mit kleinen Fallen ein, um sie später zu untersuchen, die Rekordmaus auf dem Gipfel des Vulkans jedoch fing Storz mit der Hand. Für Fallen aufstellen war hier auch keine Zeit: Aufgrund des niedrigen Sauerstoffgehalts und der Gefahr aufkommender Stürme kann ein Mensch nur wenige Minuten auf dem Gipfel bleiben. So war es großes Glück, dass die Maus überhaupt entdeckt und gefangen wurde - jedenfalls für die Forschung.
Storzs Bergführer, der Bergsteiger Mario Perez-Mamani, hielt den Moment der Begegnung auf Video fest.
“Schon bei der ersten Expedition hätte niemand so weit oben mit Mäusen gerechnet,” sagt Storz. “Dann stellte sich heraus: Sie klettern so hoch, bis es nicht weiter geht.”
Überirdische Mäuse
Bis zur Expedition auf den Llullaillaco 2019 galt die gelbrümpfige Blattohrmaus (Phyllotis xanthopygus) als Spezies, die am Fuße und in den Bergen der Anden lebt. Man wusste auch, dass die Nager teilweise auf Höhe des Meeresspiegels zuhause sind.
Mit der Entdeckung im Februar 2020 wurde klar: der Lebensraum der Mäuse umfasst einen Höhenunterschied von fast 7000 Metern. “Die Breite der Spanne ist extrem außergewöhnlich”, sagt Scott Steppan, Maus-Experte und Biologie-Professor an der Florida State University. “Keine anderes Lebewesen kann sich so verschiedenen Höhenbedingungen anpassen.”
Storz und seine Kollegen fanden neben der gelbrümpfigen Blattohrmaus auch eine Lima Blattohrmaus (Phyllotis limatus) auf über 5000 Metern, die damit auch in deutlich höheren Lagen leben kann als bislang angenommen.. Die beiden anderen Nager traf man auf einer Höhe an, in der sie bereits zuvor gesichtet worden waren. Trotzdem: Insgesamt lasse die Expedition vermuten, "dass wir die Höhengrenzen und physiologischen Fähigkeiten vieler Tiere unterschätzt haben – weil die Gipfel der höchsten Gipfel der Welt von Biologen relativ unerforscht sind", sagt Storz.
Die gelbrümpfige Blattohrmaus kann auf Höhe des Meeresspiegels genauso leben wie auf fast 7000 Metern. Das ist die mit Abstand größte bekannte Höhenspanne bei Säugetieren.
Das soll sich bald ändern. Indirekt daran gearbeitet wird schon seit 2013: Der amerikanische Kletterer und Notfallmediziner Matt Farson und der Anthropologe Thomas Bowen entdeckten damals eine Blattohrmaus auf dem Llullaillaco. Eine spätere Expedition im Jahr 2016, an der Steven Schmidt von der University of Colorado in Boulder teilnahm, entdeckte am selben Ort eine weitere Maus und sammelte eine DNA-Probe in der Nähe ihres Baues. Die Probe bestätigte Vermutungen, dass es sich um die Gattung Phyllotis xanthopygus handelte, eine Erkenntnis, die im Juni 2019 auf der Jahrestagung der American Society of Mammalogists in Washington verkündet wurde.
Llullaillaco: Eldorado für Forscher
Mit dem neuen Rekord löste die kleine Blattohrmaus die Großohr Pfeifhasen ab: die bisherigen Rekordhalter sind, soweit bekannt, in Lagen bis zu über 6100 Metern zuhause. Auch Yaks und Blauschafe wurden bereits in einer Höhe von etwa 6000 Metern gesichtet, jedoch befanden sie sich außerhalb der Zone, in der sie dauerhaft leben. Von den Blattohrmäusen auf dem Llullaillaco wird unterdessen angenommen, dass sie Teil etablierter Populationen waren.
Für den Vulkan Llullaillaco ist der Höhenrekord ein weiteres von vielen Highlights für Forscher: So findet man hier einen der höchstgelegenen Seen der Welt und in ihm extrem widerstandsfähige Mikroben. Er beherbergt auch die höchste archäologische Stätte der Welt – inklusive einer Sammlung von nahezu perfekt erhaltenen Inka-Mumien. Die Stätte wurde 1999 vom National Geographic Explorer Johan Reinhard entdeckt. Auch Reinhard bemerkte damals Nagetiere in großer Höhe, nahm jedoch an, dass sie den Kletterern gefolgt waren und Dank ihres Essens überlebten.
Wie sie wirklich an diesem Ort überleben, ist nun die große Frage bei den Wissenschaftlern. Wie halten die Mäuse der extremen Kälte stand? Wie kommen sie damit klar, dass dort weniger als die Hälfte des Sauerstoffs als auf Höhe des Meeresspiegels vorhanden ist? Und was essen sie?
Als Fressen könnte den Tieren möglicherweise Detritus, also zerriebenes Gestein, dienen, das vom Wind aufgewirbelt wurde. Dieses erscheine jedoch nicht sonderlich nahrhaft, sagt Storz, der auch Hirschmäuse (Peromyscus) untersucht, deren Lebensraum sich bis in Höhen von rund 4200 Meter erstreckt. Sie seien so etwas wie das nordamerikanische Äquivalent der Blattohrmäuse, sagt er.
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Dass die Tiere körperlich in so extremen Höhen leben können, verdanken sie „einer ganzen Reihe physiologischer Veränderungen“ ihrer Körper: Die Mäuse können den Muskelstoffwechsel verlangsamen und auch das Herz-Kreislauf-System passt sich an.
Fortsetzung folgt
Um besser zu verstehen, wie genau die Mäuse den extremen Bedingungen hoch oben auf dem Vulkan strotzen, plant Storz einen weiteren Besuch. Unter anderem will er Mäuse fangen und sie in Stoffwechselkammern untersuchen, um dort ihren VO2max zu messen, einen Indikator für den Sauerstoffverbrauch. Finanziert wird die Arbeit von der National Geographic Society und den US National Institutes of Health, da ein besseres Verständnis der Anpassungen des Körpers an das Leben in extremer Höhe „potenziell relevant ist für die Behandlung einer Reihe menschlicher Krankheiten, die mit Problemen bei der Sauerstoffversorgung und Sauerstoffverwertung zusammenhängen ," sagt er.
Besser behandeln könnte man damit in Zukunft eventuell Herz- und Lungenerkrankungen wie Lungenemphyseme oder die Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Die Ergebnisse könnten Ärzten auch bei der Behandlung der Höhenkrankheit helfen.
Die Entdeckung der Maus in dieser Höhe war für viele Forscher eine Sensation. Sie kam "völlig unerwartet und verdient daher eine tief gehende Forschung an diesen Tieren", sagt James Patton, emeritierter Professor an der University of California, Berkeley, der nicht an der Forschung beteiligt war. Wichtig sei auch “eine gezielte Feldforschung in anderen ähnlichen Gebieten rund um den Globus wie zum Beispiel dem Himalaya.” Mehr darüber zu erfahren, wie es den Mäusen möglich sei, dort oben zu leben, sei für die Forschung „großartig - um es vorsichtig auszudrücken“.
Diese Geschichte ist die überarbeitete Version eines im Juli 2019 veröffentlichten Artikels.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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