Fleischfressende Fledermaus: Wenn Blut nicht genug ist

Nur bei wenigen Fledermausarten steht Fleisch auf dem Speiseplan. Die Große Spießblattnase ist eine von ihnen. Sie lebt in Lateinamerika, ist unsagbar selten – und hat eine beängstigende Größe.

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 21. Dez. 2021, 13:16 MEZ
Dieses Bild zeigt eine Große Spießblattnase – die größte Fledermausart der westlichen Hemisphäre –, die eine ...

Dieses Bild zeigt eine Große Spießblattnase – die größte Fledermausart der westlichen Hemisphäre –, die eine kleinere Brillenblattnase frisst.

Foto von Marco Tschapka

„Es ist eine Vampyrum spectrum”, ruft Winifred Frick vom Ende eines dunklen Pfads im Lamanai-Schutzgebiet in Belize. Das Zirpen der Heupferdchen und die Rufe von Brüllaffen erfüllen den nächtlichen Regenwald, als sie das Netz aus schwarzem Gewebe untersucht, dass gespannt wurde, um Fledertiere für Studienzwecke zu fangen.

Winifred Frick, leitende Wissenschaftlerin der Non-Profit-Organisation Bat Conservation International und Ökologin an der University of California in Santa Cruz, überprüft die Netze im Regenwald im Rahmen der Fledermausstudie 2021, für die im November in diesem Teil Belizes mehrere Dutzend der Tiere gefangen werden konnten: Fledermäuse, deren faltige Gesichter an Bulldoggen erinnerten, Nasenfledermäuse, deren Schnauzen an die Nase von Pinocchio erinnert und auch Gemeine Vampirfledermäuse, die sich ausschließlich von Blut ernähren.

Keines dieser Tiere war größer als ein Singvogel. Doch die Fledermaus, die sich in dieser Nacht im Netz verfangen hat, ist so groß wie eine Krähe – mit Ohren, Schnauze und Zähnen, die an den großen, bösen Wolf aus dem Märchen erinnern. Die Große Spießblattnase ist mit einer Flügelspannweite von bis zu 102 Zentimetern das größte Fledertier der westlichen Hemisphäre. Die manchmal für sie auch gebräuchliche Bezeichnung „Großer falscher Vampir” rührt daher, dass sie, anders als die mit ihr verwandten Vampirfledermäuse kein Blut trinkt. Stattdessen ist sie ein Fleischfresser: Der Spitzenprädator jagt Nagetiere, große Insekten, Vögel – und sogar andere Fledertiere.

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Winifred Frick, die diese Eigenschaft der Großen Spießblattnase kennt und in ihrer zwanzigjährigen Laufbahn Tausende Fledertiere untersucht hat, holt ein dickeres Paar Handschuhe aus ihrer Tasche. „Wenn man nicht vorsichtig ist, beißt sie zu“, sagt sie.

Nur eine Woche zuvor war einem anderen Team ein Weibchen der Spezies ins Netz gegangen – das erste Tier seiner Art, dass in der 14jährigen Geschichte der Studie in diesem Teil der Welt dokumentiert werden konnte.

Nachdem sie die Fledermaus aus dem Netz befreit hat, stellt Winifred Frick kleine Löcher in den Flügeln des Tieres fest, die sie vermuten lassen, dass es sich bei dem Tier um dasselbe handelt, das bereits von ihren Kollegen dokumentiert wurde. (Das Stanzen von Flügelhaut ist eine schnelle, unkomplizierte Methode mit der DNA-Proben entnommen werden. Die Haut heilt innerhalb kürzester Zeit wieder und die Löcher beeinträchtigen die Flugeigenschaft nicht.)

„Fledertiere spielen in Hinblick auf die Biodiversität von Säugetieren prinzipiell eine wichtige Rolle. Die Große Spießblattnase ist ein besonders beeindruckendes Beispiel“, sagt Winifred Frick. „In den Regenwäldern von Mittel- und Südamerika ist sie so etwas wie ein Jaguar mit Flügeln.“

Ein außergewöhnliches Fledertier

Melissa Ingala, wissenschaftliche Mitarbeiterin am American Museum of Natural History in New York City, und ihre Kollegen sind für die Untersuchung der Fledermaus zuständig. Sie pflanzen einen Transponder unter ihre Haut und nehmen eine Stuhlprobe, um herauszufinden, was das Tier zuletzt gefressen hat. Sollte es erneut gefangen werden, kann das wissenschaftliche Team durch den Vergleich alter und neuer Proben herausfinden, ob sich die Ernährungsmuster verändert haben, und dadurch wichtige Erkenntnisse zu seinem Verhalten gewinnen.

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„Große Spießblattnasen werden nur sehr selten gefangen, darum wissen wir kaum etwas über sie“, erklärt Nancy Simmons, leitende Kuratorin für Säugetierkunde am American Museum of Natural History. Gemeinsam mit Brock Fenton, emeritiertem Professor der Western University in Ontario, Kanada, organisiert sie die jährliche Fledermausstudie, die wichtige Grundlagen für bisher mindestens 60 wissenschaftliche Arbeiten liefern konnte.

Das Wissen, dass Fledertiere sich vorwiegend von Insekten, Früchten und Nektar ernähren, ist weitverbreitet. Aktuelle Studien konnten aber zeigen, dass die Große Spießblattnase eine von neun fleischfressenden Fledertierspezies ist. Auch die Großohr-Wollfledermaus (Chrotopterus auritus) und die froschfressenden Fransenlippenfledermaus (Trachops cirrhosus) ernähren sich von Fleisch. Forschungen zufolge haben diese Spezies als Spitzenprädatoren eine bisher nicht kaum beachtete Bedeutung für die Ökosystemen, in denen sie leben, indem sie die Populationen von Beutetieren kontrollieren.

Die Große Spießblattnase ist vom Süden Mexikos bis nach Brasilien heimisch, wo sie durch die Nacht fliegt, Vögel von Ästen und aus ihren Nestern greift und frisst oder im raschelnden Laub am Boden Nagetiere ausmacht und erlegt.

„Sie greift im Sturzflug an und umschließt die Beute mit ihren Flügeln“, erklärt Rodrigo A. Medellín, Ökologe an der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko-Stadt und Co-Autor einer aktuellen Studie über fleischfressende Fledermäuse. An der Expedition in Belize hat er nicht teilgenommen. Ist die Beute gesichert, tut es die Fledermäuse dem Jaguar gleich und „setzt zum tödlichen Biss an – entweder im oberen Bereich des Kopfs oder im Nacken.“

Doch was hier so dramatisch beschrieben wird, wurde von Wissenschaftlern bisher nur selten tatsächlich beobachtet. Mit großer Wahrscheinlichkeit hängt das mit den äußerst kleinen Populationen der Großen Spießblattnasen in ihren Ökosystemen zusammen. Spitzenprädatoren kommen in ihren Lebensräumen typischerweise nur in kleiner Zahl vor, weil sie große Territorien und viel Platz zum Jagen benötigen. Leider schrumpfen auch die Habitate von Vampyrum immer mehr, sodass die Weltnaturschutzorganisation (IUCN) die Spezies inzwischen als potenziell gefährdet auf der Roten Liste gefährdeter Arten führt.

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„In dem Wald von Lamanai gibt es vermutlich nur fünf individuelle Exemplare der Spezies: das Weibchen, ihr Partner und ihre Nachkommen“, erklärt Melissa Ingala. Andere Fledertierarten seien auf demselben Gebiet zu Hunderten oder Tausenden vorhanden. „Die Große Spießblattnase ist eine ganz besondere Fledermaus“, sagt sie.

Furchtloser Jäger

Um mehr über diese außergewöhnliche Art zu erfahren, hat Rodrigo A. Medellín eine Belohnung in Höhe von 1.000 US-Dollar für den ausgelobt, der ihm Unterschlüpfe von Großen Spießblattnasen in Mexiko zeigen kann. Bisher wurde er auf diese Weise dreimal fündig.

„Damit kenne ich drei Schlafplätze mehr, als sonst jemand auf der Welt“, sagt der National Geographic Explorer, dem dieses Wissen bereits einige wertvolle Einblicke beschert hat. So konnten Roger A. Medellín und sein Team beobachten, dass das Weibchen während der Aufzucht der Jungen mit ihnen im Unterschlupf bleibt und das Männchen Nagetiere erlegt, die es der Familie nach Hause liefert. „Diese Form der Nahrungsversorgung war so von Fledertieren nicht bekannt“, sagt Medellín.

Experimente, die er mit Großen Spießblattnasen in Gefangenschaft durchgeführt hat, haben gezeigt, dass die Tiere die Echoortung einstellen, sobald sie sich in der Nähe ihrer Beute befinden – möglicherweise, weil durch die Schallwellen andere Fledertiere und manche Nagetiere gewarnt werden könnten. Ohne Echolokation orientieren sie die Fledermäuse an den Geräuschen, die die Beutetiere erzeugen. „Wenn Vampyrum bei ihren Streifzügen durch den Wald etwas Ungewöhnliches hört, such sie gleich nach der Quelle des Geräuschs“, sagt Nancy Simmons.

Roger A. Medellín ist weit davon entfernt, sich mit dem bisherigen Forschungsstand über die Große Spießblattnase zufrieden zu geben. „Es gibt da eine Theorie, die ich noch überprüfen möchte: Möglicherweise lassen die Fledermäuse sich auch von Gerüchen leiten“, sagt er. Grund für die Annahme ist, dass viele Vogelarten wie Kuckucks und Sägeracken, die auf dem Speiseplan der Großen Spießblattnase stehen, einen starken Körpergeruch aufweisen und in Gruppen nisten. „Für einen Prädator ist das die reinste Einladung”, erklärt Medellín.

Besonders beeindruckt sei er von der Größe mancher Beutetiere der Fledermäuse. Amazonenpapageien, die sie töten und fressen, seien größer und schwerer als die Angreiferin und könnten sie „ganz einfach mit ihrem Schnabel köpfen“. Doch davor scheint die Große Spießblattnase keine Angst zu haben.

Wer hat Angst vor Vampyrum spectrum?

Was passiert, wenn sich die Jagdgebiete verschiedener fleischfressenden Fledermausarten überschneiden, hat Rodrigo A. Medellín in einer aktuellen Studie untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die An- und Abwesenheit einer Art Auswirkungen auf das Verhalten der anderen hat.

So würden zum Beispiel sowohl Vampyrum als auch Chrotopterus bevorzugt Baumhöhlen bewohnen. In Gebieten, in denen beide Spezies vorkommen, fände man Chrotopterus jedoch vor allem in Felshöhlen und menschgemachten Unterschlüpfen wie zum Beispiel Tunneln. „In einem Ökosystem ohne Vampyrum zieht es Chrotopterus dann wieder in die Baumhöhlen“, erklärt Rodrigo A. Medellín.

Er folgert aus dieser Beobachtung, dass andere Fledermausarten, die sich ihren Lebensraum mit der Großen Spießblattnase teilen, ihr Verhalten sicherheitshalber anpassen, um Ärger mit der großen gefährlichen Verwandten zu vermeiden – und nicht gefressen zu werden. Wer einmal eine Große Spießblattnase mit eigenen Augen gesehen hat, kann das auf jeden Fall nachvollziehen.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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