Nur Kopf, kein Rumpf: Genetik entlarvt die Anatomie eines Seesterns

Seesterne haben weder Augen noch ist bei den sternförmigen Tieren ein klares hinten oder vorne erkennbar. Laut Forschungen besteht ein Seestern sogar nur aus Kopf. Diese bemerkenswerte anatomische Besonderheit wirft ein neues Licht auf die Evolution.

Von Sophie-Claire Wieneke
Veröffentlicht am 1. März 2024, 10:45 MEZ
Ein orangefarbener Seestern befindet sich in einem bunten Korallenriff bei glasklarem Wasser.

Die Anatomie eines Seestern stellte bislang ein Rätsel für die Wissenschaft dar. Neuste Forschungsergebnisse bringen nun Licht ins Dunkel und lassen die Seestern-Anatomie in einem völlig neuen Licht dastehen.

Foto von Orxan

Rund 1.600 Seesternarten sind heute bekannt und sie alle haben eines gemein: Arme, die wie in Zeitlupe über den Meeresboden wandern und dabei einen sternförmigen Körper in Bewegung setzen. Doch Wissenschaftler haben nun herausgefunden, dass man bei Seesternen weniger von einem Körperbau mit Armen, sondern eher von einem Kopfbau sprechen muss: Denn Seesternen fehlt der Rumpf und sie bestehen nur aus Kopf. 

Genetik entlarvt die Anatomie eines Seesterns

Ein US-amerikanisches Forscherteam der Universitäten Stanford und UC Berkeley hat sich der Forschungsfrage angenommen, ob ein Seestern nur aus den erkennbaren Armen oder aus einem Korpus ohne Augen besteht. Das Team kam zu dem Schluss: weder noch. Seesterne gehören nämlich nicht zu den sogenannten Bilateria, also den Zweiseitentieren. 

Seit den 1990er Jahren weiß man, dass die Ausbildung verschiedener Körperteile während der Embryonalentwicklung von bestimmten Erbanlagen abhängig ist. Das Verhalten bestimmter Gene ist für den Bildungsprozess des Kopfes, des Rumpfes und weiterer Körperteile verantwortlich. In der Genetik wird dieser Prozess Genexpression genannt: Er beschreibt, wie ein Gen in Erscheinung tritt. Dadurch ist es möglich, Abschnitte eines Körpers den jeweiligen Körpersegmenten zuzuordnen.

Um herauszufinden, ob Seesterne nun aus einem Körper oder einem Kopf bestehen, haben sich die Wissenschaftler dem Aktivitätslevel der Entwicklungsgene gewidmet. Ziel war es, auf diese Weise die Muster der Genexpression aufzudecken und herauszufinden, welche Gene bei Seesternen für die Ausbildung bestimmter Körperteile verantwortlich sind, und welche Gene fehlen.

Schätzungsweise gibt es bis zu 1.600 verschiedene Seesternarten, die alle Weltmeere bevölkern. Sie unterscheiden sich dabei in Größe, Farbe und anhand der Anzahl ihrer Arme.

Foto von RLS Photo

Erstaunliche Ergebnisse: Seesterne bestehen nur aus einem Kopf

Die Forschungsergebnisse gelten als erstaunlich: In jedem ihrer fünf Arme haben Seesterne eine Genexpression, die bei anderen Lebewesen für die Ausbildung des Kopfes verantwortlich ist. Was das Forscherteam hingegen nicht fand, war ein genetisches Muster für die Ausbildung einer Rumpfregion. „Es ist, als ob der Seestern keinen Rumpf hätte und am besten als Kopf beschrieben werden könnte, der über den Meeresboden krabbelt“, erklärt Hauptautor Laurent Formery. 

Bedeutet das nun, dass Seesterne aus fünf Köpfen bestehen und keinen Körper haben? Nicht ganz, aber die Aussage kommt der Realität schon ziemlich nahe: Die Meereslebewesen haben keinen begrenzten Kopfbereich, sondern bestehen aus genau diesem. Diese Erkenntnis bedeutet nicht, dass Seesterne so viele Köpfe wie Arme haben, sondern dass ihr gesamter Körper der Kopfbereich ist.

Bekannt war bereits, dass Seesterne keine herkömmlich ausgebildeten Augen haben, wie wir sie von anderen Lebewesen kennen. Am Ende jedes Arms befinden sich lichtempfindliche Punkte, die in der Regel rötlich oder schwarz sind. Sie helfen den Meeresbewohnern dabei, ihre Umgebung zu erkennen und ähneln der Sehkraft von Spinnen oder Krabben, da sie nur einfache Fotorezeptoren enthalten.

Neben der neuesten Erkenntnis ist auch der Fakt interessant, dass sich die Anatomie der Seesterne im Laufe der Jahrtausende scheinbar verändert hat: Fossilfunde deuten darauf hin, dass die Vorfahren der Seesterne in der Tat einen Rumpf besaßen

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    Seesterne bevölkern seit ca. 530 Millionen Jahren die Weltmeere und haben ihren Körperbau durch die Evolution verändert und an neue Bedingungen angepasst.

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    Weitere spannende Fakten über Seesterne

    1. Seesterne können sich selbst klonen

    Seesterne sind erstaunliche Kreaturen und wahre Überlebenskünstler. Wenn sie von Fressfeinden angegriffen werden und beispielsweise einen Arm verlieren, können sie diesen innerhalb einiger Monate wieder nachwachsen lassen. Selbst dann, wenn vom Seestern nur ein kleiner Teil des Armes übrigbleibt, kann er überleben und sich komplett regenerieren.

    Bei einigen Seesternarten ist dies jedoch nur möglich, wenn ein Fragment der zentralen Scheibe intakt ist. Das ist der mittlere Körperteil bei Seesternen, von welchem aus die Arme nach außen wachsen. Möglich ist dies, da in jedem seiner Arme genetische Kopien lebenswichtiger Organe enthalten sind. 

    Seesterne sind Überlebenskünstler. Wenn sie von Feinen angegriffen werden und Körperteile verlieren, können sie sich selbst wiederherstellen. Einige Seesternarten reißen sich bewusst Arme aus, um sich so zu reproduzieren. 

    Foto von Francesco

    2. Seesterne schwitzen nicht gerne

    Seesterne gehören zu den Kaltblütern, ihre Wohlfühltemperatur liegt unterhalb der 35-Grad-Grenze. Wird es dem Seestern zu warm, kann er an den zu hohen Temperaturen sterben. Die Temperatur der zentralen Scheibe und die Temperatur der Arme können sich um mehrere Grade unterscheiden. Überschreitet die Temperatur in den Armen eine kritische Grenze, wirft der Seestern sie ab. 

    3. Harte Schale, weicher Kern

    Anders als man vielleicht vermuten mag, sind Seesterne nicht weich und glibberig. Sie tragen einen natürlichen Schutzpanzer, der Sie vor Fressfeinden wie Vögeln, Fischen und Seeottern schützt. Er besteht aus feinen Calciumcarbonat-Platten mit winzigen Stacheln auf der Oberfläche. Wie stark dieser Panzer ist, hängt von der Seesternart ab. 

    Seesterne sind nicht weich, sondern sind durch zahlreiche kleine Calciumcarbonat-Scheiben geschützt, die sich bei Bewegung ineinander schieben. Einige Seesternarten haben zusätzlich sogar noch Stacheln. 

    Foto von Francisco

    4. Auf kleinen Füßen unterwegs

    Seesterne haben zwar Arme, jedoch keine erkennbaren Beine oder gar eine Flosse, mit der sie sich fortbewegen könnten. Wenn man jedoch genau hinschaut, kann man erkennen, dass Seesterne sich mit winzigen Röhrenfüßen fortbewegen. Sie sehen aus wie zierlichen Tentakeln und tragen den Seestern in die gewünschte Richtung. Die sind außerdem ziemlich stark, sodass sie sogar Muscheln öffnen können.

    Seesterne bewegen sich mit zahlreichen kleinen Füßen über den Meeresboden, die aussehen wie kleine Tentakel.

    Foto von magicbones

    5. Fortpflanzung durch Verstümmelung

    In der Regel pflanzen sich Seesterne fort, in dem die Männchen ihre Spermien ins Wasser abgeben. Das wiederum stimuliert die Weibchen und veranlasst sie dazu, Millionen von Eiern abzulegen, die so befruchtet werden. Es gibt jedoch auch eine Möglichkeit, sich auf andere Art fortzupflanzen. Bei einigen Seesternarten, wie dem Coscinasterias tenuispina, wird Fortpflanzung durch Verstümmlung gesichert. Diese Seesterne reißen sich Arme oder Teile ihrer Arme ab, aus denen sich dann ein komplett neuer Seestern bildet.

    6. Seesterne sind blutleer und herzlos

    Seesterne haben kein Blut in ihrem Körper. Ihr Kreislaufsystem besteht größtenteils aus Meerwasser. Das funktioniert über einen eingebauten Wasserfilter an der Oberseite ihres Körpers. So nehmen die Seesterne Salzwasser auf und geben Körperflüssigkeiten ab. 

    Auch Herz und Gehirn fehlen bei diesen Tieren. Sie funktionieren über einfache Sinneszellen, mit denen sie optische, chemische und mechanische Reize wahrnehmen. 

    Cover National Geographic 3/24

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