Kleine medizinische Wunder: Ameisen führen Amputationen durch

Florida-Holzameisen entfernen einander verletzte Gliedmaßen. Die Not-OP rettet Leben – und wurde bisher bei keiner anderen Tierart beobachtet.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 5. Juli 2024, 14:58 MESZ
Diese Illustration zeigt, wie einer verletzten Ameise von einer Artgenossin das Bein am Oberschenkel amputiert und ...

Diese Illustration zeigt, wie einer verletzten Ameise von einer Artgenossin das Bein am Oberschenkel amputiert und die Wunde im Anschluss durch Ablecken gesäubert wird.

Foto von Hanna Haring

Dass nicht nur Menschen über medizinische Fähigkeiten verfügen, ist bekannt. Orang-Utans, behandeln Wunden mit Heilpflanzen, Schildkröten fressen kalziumhaltige Mineralien, um ihren Panzer zu stärken, Hunde futtern bei Verdauungsproblemen Gras.

Für diese Zoopharmakognosie genannte Selbstmedikation bei Tieren gibt es viele Beispiele. Dass im Tierreich aber auch operative Eingriffe durchgeführt werden, wurde nun im Rahmen einer Studie beschrieben, die in der Zeitschrift Current Biology erschienen ist. In ihr berichten Forschende der Julius-Maximilians-Universität (JMU) in Würzburg und der Universität Lausanne von einer verblüffenden Beobachtung: Ameisen führen Amputationen durch – und das erfolgreich und mit erstaunlichem Sachverstand.

Diagnose, Operation und Wundpflege im Ameisennest

Die Florida-Holzameise (Camponotus floridanus), die dieses Verhalten an den Tag legt, ist im Südosten der USA heimisch. Die bis zu anderthalb Zentimeter langen Insekten verteidigen ihre Nester energisch gegen Rivalen – und ziehen sich in diesen Kämpfen oft Verletzungen zu. Während andere Ameisenarten ein antibiotisch wirkendes Sekret produzieren, mit dem sie entzündete Wunden behandeln, fehlt Camponotus die dafür nötige Metapleuraldrüse. Das Studienteam wollte wissen, wie die Spezies stattdessen gegen derartige Infektionen an den Gliedmaßen vorgeht.

Die Antwort: mit einer Not-OP. „Die Ameise präsentiert das verletzte Bein, lässt es von einer Artgenossin freiwillig abbeißen und anschließend von einer anderen Ameise säubern“, sagt Frank. „Dieses Maß an angeborener Kooperation ist für mich ziemlich beeindruckend".

90 bis 95 Prozent der Tiere überleben diese Operation und können ihre Aufgaben im Nest auf fünf Beinen wieder in vollem Umfang erfüllen. In Fällen, in denen die Wunde lediglich intensiv ausgeleckt und dadurch mechanisch gesäubert wird, liegen die Überlebenschancen immerhin bei 75 Prozent. Wird nichts unternommen, sinken sie auf 15 bis 40 Prozent.

Amputieren oder nicht?

Das Studienteam bemerkte allerdings, dass Amputationen ausschließlich bei Verletzungen am Oberschenkel vorgenommen werden. Ist der Unterschenkel verletzt, wird die Wunde lediglich gereinigt. Um diese Entscheidung der Ameisen zu verstehen, führten die Forschenden selbst Amputationen bei Ameisen mit verletzten Unterschenkeln durch und stellten fest, dass die Überlebensrate lediglich bei 20 Prozent lag.

Erklärt werden kann dies durch den Aufbau des Ameisenkörpers. Die Insekten haben kein zentrales Herz. Stattdessen zirkuliert ihr Blut mithilfe mehrerer Herzpumpen und Muskeln, die an verschiedenen Stellen im Körper sitzen. Besonders viele davon befinden sich im Oberschenkel. „Verletzungen am Oberschenkel beeinträchtigen die Muskeln und behindern die Zirkulation“, sagt Hauptautor Erik Frank, Verhaltensökologe an der JMU. Weil dadurch der Blutfluss gemindert wird, werden die Bakterien aus der infizierten Wunde nicht so schnell im Körper verteilt.

Im Unterschenkel sind hingegen keine für die Zirkulation relevanten Muskeln vorhanden. Bakterien aus einer infizierten Wunde an dieser Körperstelle verbreiten sich also ungehindert und sehr schnell im Rest des Körpers. Das Zeitfenster für eine rettende Not-OP ist darum so eng, dass sich der Eingriff nicht lohnt. „Genau das scheinen die Ameisen zu ‚wissen‘, wenn man es vermenschlichend ausdrücken will“, sagt Frank.

BELIEBT

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    Angeborenes medizinisches Wissen

    Dieses Wissen scheint tatsächlich angeboren zu sein, denn, so Laurent Keller, Biologe an der Universität Lausanne, „das Verhalten der Ameisen ändert sich mit dem Alter des Individuums, aber es gibt nur sehr wenige Anzeichen dafür, dass es erlernt wurde."

    Die Studie ist die erste, die belegt, dass auch Tiere zur Wundbehandlung prophylaktische Amputationen vornehmen und diese Behandlung an der Art der Verletzung ausrichten. Erik Frank ist beeindruckt von der Fähigkeit der Florida-Holzameisen, eine Wunde zu diagnostizieren, festzustellen, ob sie infiziert oder steril ist, und sie über lange Zeiträume hinweg von wechselnden Individuen entsprechend behandeln zu lassen. „Das einzige medizinische System, das damit konkurrieren kann“, sagt er, „ist das menschliche.“

    Das Studienteam will seine Forschung nun mit anderen Camponotus-Arten fortsetzen, um herauszufinden, ob auch andere Spezies ohne Metapleuraldrüse Amputationen durchführen. Außerdem wollen sie mehr über das Schmerzempfinden der Tiere herausfinden, die sich bei vollem Bewusstsein freiwillig Gliedmaßen entfernen lassen.

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