Nach Erdbeben und neuem Gesetz: So eskaliert das Tierleid in der Türkei
Nach den verheerenden Erdbeben 2023 in der Türkei kämpfen Tierschützer für die Rettung von Streunern. Doch ein neues Gesetz erschwert ihre Arbeit.

Tierschützer Malte Zierden berichtet vor Ort von den Herausforderungen und dem unermesslichen Tierleid.
Triggerwarnung: Der Text enthält Beschreibungen von Gewalt an Tieren.
Am 6. Februar 2023 ereignete sich in der südöstlichen Türkei und in Syrien ein starkes Erdbeben, bei dem nach offiziellen Angaben mehr als 50.000 Menschen ums Leben kamen und über 125.000 verletzt wurden. Die Stadt Antakya wurde von den Erdstößen am schlimmsten getroffen.
Nicht nur Menschen erlebten Leid: Viele Haustiere verloren an diesem Tag ihre Besitzer*innen und ihr Zuhause. Sie wurden über Nacht zu Straßentieren, die sich seitdem zwischen den Trümmern zurechtzufinden versuchen. Viele der Tiere sind heute schwer krank, infiziert und hungrig – und pflanzen sich trotzdem unkontrolliert fort. Denn die wenigen finanziellen Mittel vor Ort reichen gerade so für die Grundversorgung Menschen. Die Tiere sind aktuell auf sich allein gestellt. Nur Tierschützer*innen versuchen, für etwas Linderung zu sorgen.

Seit dem Erdbeben herrscht hier eine Ausnahmesituation - für Menschen und vor allem auch für die Tiere.
Malte Zierden vor Ort: „Nirgendwo geht es Tieren so schlecht wie hier“
Einer von ihnen ist Malte Zierden, der gemeinsam mit dem Tierschutz Verein „Notpfote“ von Babette und Tom Terveer in Kriegs- und Krisengebieten hilft. Immer wieder fährt das Team nach Hatay, um Tiere zu versorgen, sie zu füttern und von der Straße zu holen. Zwei Jahre nach dem Erdbeben leben die Tiere noch immer unter extrem schlechten Bedingungen. „Es gibt Straßenzüge, da sieht man nur kranke oder halbtote Tiere“, berichtet Malte.
Durch die natürliche Vermehrung der Tiere wächst ihre Zahl stetig weiter, Krankheiten verbreiten sich von Elterntieren direkt auf die Jungtiere, die oft zu schwach zum Überleben sind. „Ich habe schon viele Krisengebiete gesehen, auch im Krieg in der Ukraine. Aber ich würde sagen, dass es den Tieren nirgendwo so schlecht geht wie hier“, findet der Tierschützer. „Und trotzdem muss ich bei meiner Arbeit die meisten von ihnen zurücklassen.“
Nur einige Tiere haben das Glück, von Tierschützer*innen aufgenommen und gepflegt zu werden. Werden sie gesund, könnten sie neu vermittelt werden. Doch der Weg dorthin ist beschwerlich und nur wenige Tiere schaffen es. Auf andere wartet ein Leben in einem überfüllten Tierheim – für die meisten Tiere auf den Straßen kommt allerdings jede Hilfe zu spät.

Malte und Babette von der Notpfote sind seit zwei Jahren immer wieder vor Ort, um den Tieren vor Ort zu helfen.
Neues Gesetz in der Türkei: Töten von Straßenhunden erlaubt
Mittlerweile ist nicht mehr nur das Erdbebengebiet ein Krisengebiet für den Tierschutz geworden: In der Türkei lebten rund 4 Millionen Straßenhunde, den meisten von ihnen ging es nicht schlecht, so Malte. Bis 2024 eine neue Verordnung beschlossen wurde: Die Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan erließ ein Gesetz, welches das Töten der Tiere „unter außergewöhnlichen Umständen“ billigt. Die Umstände werden dabei nicht weiter beschrieben, weshalb auch Zivilist*innen auf der Straße gegen die Tiere vorgehen. „Ich habe viele Gebiete der Türkei in meiner Arbeit als Tierschützer gesehen. Eigentlich würde ich sagen, dass die Menschen hier sehr gut mit Straßentieren umgegangen sind. Sie waren zum Großteil gut genährt und lebten im Einklang mit dem Menschen. Das hat sich komplett geändert. Das Leben für die Tiere ist der blanke Horror“, beschreibt Malte seinen Eindruck.
Weiter findet der Tierschützer dieses Unterfangen nicht nur brutal, sondern auch nicht ganzheitlich gedacht. Denn ein einziger Straßenhund und seine Nachkommen können in nur sechs Jahren 67.000 Hunde zeugen. Da niemals alle Tiere gleichzeitig von der Straße genommen werden bzw. getötet werden können, „minimiere“ sich das Problem nur für kurze Zeit. Die Population würde sich schnell wieder aufbauen und man stünde erneut am Anfang. Tierschutz, der langfristig gedacht sei, konzentriere sich deshalb vor allem auf die Kastration der Tiere und die Aufklärung der Menschen.
In der Türkei sieht es seit Einführung des Gesetzes anders aus. „Die Situation vor Ort ist wirklich schrecklich. Es herrscht extreme Selbstjustiz – und zwar auf die brutalste Weise, die man sich vorstellen kann. Die Menschen haben einen Freifahrtschein, Tiere zu töten und tun das auch. Straßenhunde verschwinden von einem Tag auf den nächsten oder liegen tot am Straßenrand“, versucht Malte die Situation in Worte zu fassen. Die Gesellschaft sei enorm gespalten, teilweise erinnerten die Szenen an einen Straßenkrieg um die Tiere. Tierschützer*innen und Zivilist*innen wollten die Tiere beschützen, die Polizei reiße sie ihnen aus den Händen. Menschen würden Giftköder verstreuen, Tiere mit dem Auto überfahren oder auf der Straße mit Mistgabeln abstechen.

Die meisten Tiere vor Ort sind krank, unterernährt und schwach. Für viele von ihnen kommt jede Hilfe zu spät.
Selbstjustiz gegen Tiere nimmt zu
Tierheime scheinen als sogenannte „Schutzorte“ der einzige Ausweg für die hilflosen Tiere zu sein. Aufgrund der Umstände sind die Heime maßlos überfüllt, im gesamten Land gibt es nur 110.000 Plätze. Gleichzeitig werden vermehrt Skandale öffentlich, dass auch Tierheime töten. In Gebze zeigten Drohnenaufnahmen vom Oktober 2024 wie über 50 Tiere, darunter junge Hunde und Katzen, in Müllsäcke gesteckt und ihrem Schicksal überlassen wurden. Nach Angaben von Malte kommt es im ganzen Land zu solchen Situationen. Vieles sei zu schlimm, um es zu zeigen - und ungeschehen mache es das auch nicht.
Die Strategie, mit der die türkische Regierung gegen die Straßentiere vorgehen will, ist keine Seltenheit. Auch in Marokko sollen bis zum Beginn der WM 2030 drei Millionen Straßenhunde getötet werden, um die Städte präsentabler für Besucher*innen zu machen. Tierschützer*innen und Vereine versuchen immer wieder, Länder von der Alternative einer Kastration zu überzeugen, welche die Population in der gleichen Zeit auf humanere Weise reduzieren kann.
Solche Anfragen bleiben meist erfolglos. Auch in Deutschland zeigt man sich diesen Methoden gegenüber immer wieder offen: In der Stadt Limburg sollen mehrere Hundert Tauben getötet werden, um die Population zu verkleinern. „Ich glaube einfach, dass vielen Menschen die Empathie und die emotionale Intelligenz fehlt. Sie können oder wollen sich nicht in andere Lebewesen hineinversetzen. Dass wir im Jahr 2025 immer noch solche grausamen Methoden gegen Tiere in Erwägung ziehen und durchführen, zeigt mir, dass es kein Mitgefühl gibt. Es gäbe für jedes dieser Probleme eine nachhaltige Lösung, um die wir Tierschützer*innen uns kümmern könnten. Wir bieten es an. Aber es wird nicht einmal zugehört“.

Vor allem viele Welpen stecken sich auf der Straße oder im Tierheim mit tödlichen Krankheiten untereinander an und haben meist keine Chance auf Überleben.
Asien zeigt: Tierschutz geht leidfrei und nachhaltig
In Thailand zeigt sich aktuell, dass durch Kastrationen die Population der Straßenhunde nachhaltig kontrolliert werden kann. „Globale Studien zeigen, dass sich nach der Kastration von mehr als 80 % einer Population die Anzahl der auf der Straße lebenden Tiere von selbst reduziert“, so die Organisation Soi Dog, die sich in ganz Asien für den tierschutz engagiert. Auf der Insel Phuket wurde die Zahlen der Straßentiere unter Kontrolle gebracht, in Bangkok machte man die gleichen Erfahrungen.
Kastration in der Türkei: Wie geht es weiter?
Auch in der Türkei wurden über den Notpfote-Verein schon 500 Hunde kastriert, doch die Arbeit steht vor einem Problem: „Nach der geglückten Operation können wir die Tiere nicht auf die Straße zurückbringen, denn dort werden sie getötet“, so Malte.
Wie sich die Situation in der Türkei entwickelt, ist nicht abzusehen. Tierschützer*innen wie Malte Zierden plädieren deshalb für politische Bildung: „Tiere und ihre Rechte stehen so weit unten auf unserer Agenda. Egal ob es Nutz-, Haus- oder Straßentiere sind. Wir müssen endlich anfangen, Menschen schon von klein auf für diese Themen zu sensibilisieren. Dass Tiere fühlende Lebewesen sind, dass es auch humanere Lösungen gäbe und es erst gar nicht so weit kommen müsste“. Er sei fest davon überzeugt, dass eine Gesellschaft, die gut mit Tieren umgehe und mit ihnen in Einklang lebe, eine bessere und gesündere wäre.
„Langfristig müssen wir es schaffen, als Kollektiv zu funktionieren. Eine Katastrophe auf dieser Welt jagt die nächste und ich glaube fest, dass wir das nur schaffen können, wenn wir gemeinsam aufeinander aufpassen. Hilfe fängt immer beim Kleinsten an. Bei denen, die nicht für sich selbst einstehen können. Das ist mein Tierschutzgedanke und darum höre ich nicht damit auf.“ Denn Nächstenliebe und Empathie gegenüber hilflosen Lebewesen zu verspüren und dann zu helfen – das gebe einem mehr als alles andere.
Die Arbeit der Notpfote und anderen Tierschutzvereinen können durch Spenden unterstützt werden.
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